Was sich auszahlt

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Und jetzt stellen wir uns einmal die Betroffenen vor. Wir stellen uns vor, wir sind eine Person, die hatte Krebs, metastasierend, aber jetzt ist sie, dank einer aufwändigen Behandlung, tumorzellenfrei. Doch, das gibt’s, zum Glück. Die Forschung forscht, die Therapien werden immer ausgefeilter und wirkungsvoller, was noch vor einiger Zeit ein hoffnungsloser Fall war, ist heute ein Mensch mit Überlebenschancen.

Die Person, die wir uns vorstellen, läge, wäre sie unbehandelt geblieben, mittlerweile im kühlen Grab – das muss man so brutal sagen, denn so brutal wäre es gewesen. Dass sie unter uns weilt und sich ihres Lebens freut – sehr freut, jeden Tag aufs Neue –, verdankt sie einer tapfer durchgestandenen Reihe von Chemotherapien mit neuen Medikamenten und der Tatsache, dass sie diese sehr teuren Medikamente nicht aus eigener Tasche zahlen musste. Hätte sie die Kosten für ihre Behandlung selber tragen müssen … nein, falscher Beginn. Sie hätte die Kosten nicht selber tragen können, nicht mal wenn sie all ihr Hab und Gut verscherbelt hätte – bereit, nach den Behandlungen unter eine Brücke zu ziehen. Dem Durchschnittsverdiener und der Durchschnittsverdienerin sind, bei aller vorsorglichen Sparsamkeit, finanzielle Grenzen gesetzt. Deshalb gibt es ja bei uns – noch! – ein Gesundheitssystem, das im Wesentlichen auf dem Prinzip der Solidargemeinschaft basiert.

Klar, niemand weiß, wie lang die geheilte Person geheilt bleibt. Weiß irgendwer sonst, wie lange er oder sie noch leben wird? Eben. Die geheilte Person jedenfalls denkt vernünftigerweise nicht daran, dass sie möglicherweise doch nicht neunzig wird, sondern ist dankbar für jede Stunde geretteter Lebenszeit. Die gerettete Person lebt offensichtlich gern. Warum auch nicht? Wir alle (sofern wir unseren fünfzigsten Geburtstag überleben) landen ja einmal bei der Erkenntnis, dass die Spanne, die uns noch bleibt, mit großer Wahrscheinlichkeit wesentlich kürzer ist als die, die wir schon hinter uns haben. Springen wir deshalb vom nächsten Hochhaus? Meistens nicht. Wir versuchen stattdessen zu nützen und zu genießen, was es zu nützen und zu genießen gibt, solange wir noch auf der Welt sind. Das wird uns mehr und mehr übel genommen, und es ist nicht immer leicht, damit klarzukommen, selbst wenn man robust und unbeschädigt ist.

Wie aber mag es der geretteten Person, egal, welchen Alters, ergehen, wenn sie in zunehmendem Ausmaß liest und hört, dass ihre Rettung fragwürdig ist, weil es sich nicht ausgezahlt hat, sie zu behandeln? Ihre geretteten Tage, Monate, Jahre in Relation zu den Kosten: ein Verlustgeschäft, von dem sich das Gesundheitssystem rasch verabschieden sollte?

Wie mag es ihr und anderen geretteten Personen – die ihre Lebensverlängerung vielleicht einer Vorsorgeuntersuchung verdanken – ergehen, wenn sie lesen, dass Vorsorgeuntersuchungen wegen möglicherweise daraus resultierender Behandlungskosten ökonomisch vielleicht doch nicht ganz so sinnvoll sind wie lange Zeit gedacht?

Zunächst war die Vorsorgeuntersuchung ja der gesundheitspolitische Hit. Sie wurde als nahezu hundertprozentiger Schutz vor Krankheit propagiert, und immer wieder tauchten Pläne auf, alle die Schädlinge, die sich davor drücken, mit Strafen (zum Beispiel in Form von höheren Krankenkassenbeiträgen) zu belegen.

Nun, da sich die Erkenntnis durchsetzt, dass es einen sicheren Schutz vor Krankheit halt doch nicht gibt, ist offenbar eine Kehrtwendung angesagt. Wenn weder Vorsorge noch Therapie garantieren, dass der Mensch die dafür aufgewendeten Gelder wieder einbringt, propagieren wir lieber seine zeitgerechte Entsorgung.

Wissen Sie was? Die Chemotherapie ersparen wir uns. Laut Statistik verschafft sie Ihnen ja doch nicht mehr als zwei Jahre!

Vorsorgeuntersuchung? Lieber nicht. Ist doch viel billiger – für den Fall, dass Sie krank sind –, wenn die Diagnose so spät erfolgt, dass nichts mehr zu machen ist.

Würde irgendeiner der Experten, die über die Kosten unseres Gesundheitssystems referieren, dergleichen, explizit oder sinngemäß, zu Menschen sagen, die ihm nahe stehen?

Mit Sicherheit nicht. Aber Fremden gegenüber darf sich die Humanität aufhören?

Unser System ist gar nicht so solidarisch, wie es tut. Es bittet die Schwächeren mehr zur Kasse als die Wohlhabenden, die von der Höchstbeitragsgrundlage profitieren (je wohlhabender, desto stärker) und Selbstbehalte leichter zahlen können als die Ärmeren. So gesehen ist es konsequent, wenn nun überlegt wird, an den Allerschwächsten, nämlich den Schwerkranken, zu sparen.
Aber anständig ist es nicht.

Anständigerweise müsste man fragen, warum die am besten Verdienenden in Relation – trotz beschlossener Anhebung der Höchstbemessung – am wenigsten einzahlen ins Gesundheitssystem (statt sich zu freuen, dass sie in der privilegierten Lage sind, mehr beisteuern zu können als Ärmere und Kranke). Und man könnte, bei allem Verständnis für die notwendigen Kosten von Forschung, darüber reden, wie viel wer an neuen Therapien und Medikamenten verdienen muss.

Lebensverlängerung um jeden Preis? Das verneint sich leicht, wenn man nicht betroffen ist. Deshalb sollten diese Frage die Betroffenen beantworten. Denn niemand, der das Glück hat, gesund zu sein, weiß, ob er im Falle des Falles um jeden zusätzlichen Tag seines Lebens kämpfen oder es tatsächlich vorziehen würde, die Waffen zu strecken.