"Kränkungen können verheerende Folgen haben"

Was trieb die Eissalon-Mörderin und Josef Fritzl zu ihren Taten?

Interview. Was trieb die Eissalon-Mörderin und Josef Fritzl zu ihren Taten?

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Interview: Angelika Hager

profil: Haben Sie manchmal richtige Abscheu verspürt, während Ihrer Stunden mit Fritzl oder anderen Gewaltverbrechern?
Kastner: Als Person schon, beruflich nicht. Es gibt kein Gut oder Böse während dieser Gespräche. Und Moral zählt nur dann, wenn sie bei den Entscheidungen des Täters irgendeine Rolle gespielt hat.

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Wie fühlen Sie sich nach so einem Gesprächsmarathon mit dem inkarnierten Bösen?
Kastner: Sehr erschöpft. Schließlich bin ich dabei hoch konzentriert. Und manchmal ist es auch wichtiger, zu beobachten, wie jemand etwas sagt, als was er sagt.

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Gibt es uninteressante Morde?
Kastner: Ja. Es gibt Gutachten, die in zwei Sätzen zusammenzufassen sind. Wenn ein Psychotiker in seinem Wahn von außerirdischen Mächten eingeflüstert bekommt, dass er seinen Vater umbringen soll, und das dann auch tut, ist das sehr traurig, aber auch sehr schnell erzählt. Da gibt es keinen Interpretationsspielraum.

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Denken Sie beim Kochen auch an Fritzl und seine Inzestverbrechen?
Kastner: Ja, natürlich, ich bin auch beim Spaghettikochen oder in der Badewanne mit meinen Gedanken in dem Amstettener Keller oder auch bei jenem Raubmörder, dessen größte Angst es war, während seines Verbrechens das erste Strafmandat seines Lebens zu bekommen. Ich liebe meinen Beruf. Ein Work-Life-Balance-Problem, von dem viele so gerne jammern, kenne ich nicht.

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Von diesem zwänglerischen Raubmörder schreiben Sie in Ihrem Buch "Schuldhaft“, wo Sie generell keine prominenten Fälle aufgreifen.
Kastner: Das habe ich ganz bewusst vermieden. Ich wollte in dem Buch erzählen, dass jeder von uns potenziell zu einem Verbrechen fähig ist. Außerdem ist dieser Medienrummel, der manche Verbrechen begleitet, auch sehr gefährlich. Man wird nun einmal kein besserer Mensch, wenn man weiß, wie oft der Herr Fritzl seine Socken wechselt.

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Gefährlich wegen der Nachahmungstäter?
Kastner: Auch, natürlich. Der größte Motor in dieser Gesellschaft ist doch heute, beachtet zu werden, irgendeine Bedeutung zu bekommen. Der Amokläufer von Erfurt hat zum Beispiel ganz klar im Vorfeld formuliert, dass sein Gesicht sich allen regelrecht "einbrennen“ soll. Würde man vielen Tätern keine Bühne geben und sich nur auf die Opfer konzentrieren, hätte das sicherlich positive Auswirkungen.

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Der berühmte FBI-Profiler John Douglas erklärte, dass alle psychiatrisch relevanten Verbrechen auf einer kaputten Kindheit beruhen.
Kastner: Das stimmt nicht. Alle Erklärungen, die so einfältig daherkommen, sind mir eigentlich ein Gräuel.

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Wie schwierig war Fritzls Kindheit?
Kastner: Sehr schwierig. Seltsamerweise und ganz gegen meine sonstige Methode habe ich beim Fritzl intuitiv bei der Kindheit seiner Mutter angesetzt. Es stellte sich heraus, dass der Großvater des Fritzl, ein angesehener Müller, mit einer unfruchtbaren Frau verheiratet war und rundum die Mägde schwängerte, die nach Ablieferung der Kinder wieder vom Hof verjagt wurden. Fritzls Mutter entstammte aus so einer schrecklichen Verbindung. Die diabolische Genialität, die dem Fritzl immer unterstellt wurde, war also gar nicht so raffiniert. Er hat einfach jenes Muster nachgeahmt, das die Generationen vor ihm schon gelebt hatten. Und seiner Frau sozusagen externe Kinder zur Aufzucht untergejubelt.

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Ist es nicht absurd, dass er der Frau, der er das Leben zur Hölle gemacht hatte, noch eines auswischte, indem er sich unlängst scheiden ließ?
Kastner: Das ist für mich völlig logisch. Für einen Menschen wie ihn ist die Ausübung von Macht das Allerwichtigste. Und dieser Akt, der ja auch mit dem Verlust der Witwenpension für die Frau verbunden war, war für ihn vielleicht auch eine allerletzte Möglichkeit, sich noch einmal mächtig zu fühlen. Viel bleibt ihm ja jetzt nicht mehr.

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Besaß Fritzl ein Unrechtsbewusstsein?
Kastner: Na ja, er wusste schon, dass das alles nicht wirklich in Ordnung war. Aber was ihm völlig fehlte, war jegliches Einfühlungsvermögen, bei ihm herrschte völlige Absenz von Empathie.

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Ein häufiges Phänomen, wie man Ihren Büchern entnimmt. Wie kommt so ein völliges Defizit an Mitgefühl zustande?
Kastner: Diese Psychodynamik ist einfach zu erklären: Ich kann nur etwas für andere empfinden, wenn ich auch etwas für mich empfinden kann. Wenn ein Kind mit all seinen Bedürfnissen von seiner Mutter nie wahrgenommen wurde, dann wird es schwer oder gar nicht möglich sein, später die Bedürftigkeit von anderen bedienen zu können.

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Gibt es nicht einmal ansatzweise eine Art Formel für die Entstehung des Bösen?
Kastner: Psychische Störungen sind prinzipiell mit dem Zusammenspiel der drei Faktoren Charakter, Umfeld und Biografie zu erklären. Diese drei Dinge sind in ihren jeweils unterschiedlichen Dosierungen handlungsbestimmend. Man könnte vielleicht noch sagen, dass der Ursprung vieler Persönlichkeitsstörungen auf einem geringen Selbstwertgefühl basiert.

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Das heißt, ein Minderwertigkeitskomplex könnte der Quell vieler Verbrechen sein?
Kastner: Nicht nur natürlich. Man sollte sich aber in jedem Fall gründlich überlegen, ob man jemanden kränkt. Denn das kann verheerende Folgen haben.

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Wie bei Ihrem letzten großen Fall Estibaliz C.?
Kastner: Darüber kann ich vor dem Urteil nicht sprechen. Ganz allgemein zeigt sich eine narzisstische Persönlichkeitsstörung darin, dass man, ohne irgendeine Leistung zu erbringen, bewundert werden will. Man hält sich für großartig und erwartet sich laufend die Bestätigung dieser Selbsteinschätzung. Wird aber der Spalt zwischen der Eigen- und der Fremdwahrnehmung zu groß, kann es problematisch werden. Da kann es schon passieren, dass ich das, was mich infrage stellt, dann auch vernichten muss, um mein Selbstbild unangetastet zu erhalten.

profil:
Estibaliz C. zerstückelte ihre Opfer. Das tun viele Frauen. Hat das eine symbolische Bedeutung?
Kastner: Nein, das ist zumeist einfach ein logistisches Problem. Leichen sind nun einmal ziemlich unhandlich.

profil:
Wie erklären Sie sich Ihre Faszination für Abgründe?
Kastner: Ich kann mich noch erinnern, als ich als junge Studentin in Wien in der gerichtsmedizinischen Vorlesung saß. Wir bekamen die Leichenteile einer jungen Frau vorgesetzt, die von ihrer wesentlich älteren Rivalin im Garten verscharrt worden war. Alle haben angeekelt geschrieen, nur ich bin wie fasziniert sitzen geblieben. Ich wollte alles über diese Geschichte wissen: warum die Mörderin den Kopf ihrer Nachfolgerin beim heimlichen Liebhaber angezündet hatte, wie es um ihre Ehe stand, wieso sich eine anerkannte, etablierte Geschäftsfrau so sehr vergessen konnte. Einfach alles. Diese Geschichten haben in ihrer Logik, Schlüssigkeit und Struktur ja oft auch eine Art von archaischer Schönheit.

Fotos: Philipp Horak für profil