Nahost-Krieg: Wege aus der Sackgasse

Wege aus der Sackgasse

Kann die Krise zu einer Neuordnung führen?

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Der Feind ist unsichtbar, und an jeder Ecke droht Gefahr. Dabei sieht auf den Plänen der israelischen Militärs alles so einfach aus: Die Stellungen der Hisbollah im Südlibanon sind rot markiert, strategisch wichtige Punkte blau. Nur: Rot ist auf diesen Plänen so ziemlich jedes größere Dorf, blau jede bedeutendere Straßenkreuzung. Zivilisten und Hisbollah-Kämpfer sind kaum auseinander zu halten. Israels Armee, die eigentlich auf ihre haushohe Überlegenheit baute, muss schmerzhafte Rückschläge hinnehmen. Allein am Dienstag vergangener Woche starben neun Soldaten in Gefechten; noch immer schafft es die Hisbollah, täglich rund 80 Raketen auf Israel zu feuern. „Zwei Wochen nach der Entscheidung, die Hisbollah auszumerzen, sind die militärischen Erfolge begrenzt“, resümierte die Tageszeitung „Haaretz“. Die Armee muss sich Meter um Meter, Häuserblock um Häuserblock vorkämpfen.
Am Mittwoch vergangener Woche in Rom rangen Abgesandte der USA, EU, UNO und einiger arabischer Länder verzweifelt um diplomatische Nuancen. Einige Länder wollten „die Arbeit an einem sofortigen Waffenstillstand“ zur Aufgabe der Weltgemeinschaft erklären, während die USA höchstens „die sofortige Arbeit an einem Waffenstillstand“ aufnehmen wollten. Doch der Streit ist mehr als nur ein diplomatischer Eiertanz. Es geht um die Frage, wie der Krieg enden soll – und um die Zeit danach. profil fasst die sechs wichtigsten Fragenkomplexe zusammen.

Amerikanischer Geduldsfaden
Wie kann dieser Krieg enden?

Kriege können auf unterschiedliche Arten entschieden werden. Die einfachste: Eine Seite gewinnt, die andere verlihiert. Die brutalste: Beide Seiten müssen einen so schweren Blutzoll hinnehmen, dass sie irgendwann die Kraft zum Kriegführen verlieren. Doch alle wissen, dass dieser Krieg erst dann zu Ende sein wird, wenn der internationale Druck auf beide Seiten, einem Abkommen zuzustimmen, so stark ist, dass sie sich fügen müssen. Im Falle der Hisbollah erscheint dies schwieriger: Sie ist von Teheran, allenfalls noch von Syrien zum Einlenken zu bewegen – zwei Staaten, die aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse an der gegenwärtigen Krise haben. Israel dagegen wird dann aufhören müssen, wenn die USA mit Nachdruck ein Ende der Kämpfe fordern.
Das war schon in der Vergangenheit so: Im August 1982, als Israel Beirut belagerte und bombardierte, rief US-Präsident Ronald Reagan seinen israelischen Amtskollegen Begin an und sagte: „Menachem, ich glaube, wir waren sehr geduldig. Aber wenn das Bomben nicht sofort aufhört, wird das für die Beziehungen unserer Länder schwere Konseqenzen haben, fürchte ich.“ Daraufhin fügte sich Begin.
Bislang jedoch sah US-Präsident George W. Bush keinen Anlass, dem Beispiel Reagans zu folgen. Weder die Bilder von zerbombten libanesischen Dörfern und Stadtteilen noch die Nachricht von dem Raketenangriff auf einen UN-Stützpunkt im Südlibanon, bei dem vier UN-Beobachter, darunter auch ein Österreicher, getötet wurden, bewogen Bush, Israel zu einem Waffenstillstand zu drängen. Israel selbst will seine Operation keinesfalls abbrechen, solange es seine Kriegsziele nicht zumindest ansatzweise erreicht hat: die nachhaltige Schwächung der Hisbollah und die Aussicht auf die Entwaffnung der schiitischen Miliz mithilfe einer internationalen Interventionstruppe.

Die „Hitlers“ von Beirut
Was brachten die israelischen Militäroperationen im Libanon in der Vergangenheit?

Die Idee, mit Truppen in den Libanon vorzurücken, Städte und Dörfer zu bombardieren, um dadurch einen Feind endgültig zu besiegen, hatten schon mehrere israelische Premiers. Menachem Begin formulierte es so: „Ich fühle mich als Premierminister, in dessen Macht es steht, eine tapfere Armee zu befehligen, die sich einem ,Berlin‘ gegenübersieht, wo sich – unter unschuldigen Zivilisten – Hitler und seine Henker in einem Bunker tief unter der Erde verstecken.“
„Berlin“ stand für Beirut, der „Hitler“ des Jahres 1982 hieß Jassir Arafat, und die israelischen Truppen marschierten im Libanon ein, um nach den Worten des damaligen Verteidigungsministers Ariel Sharon „die PLO vollständig und für alle Zeiten zu vernichten“. Es folgte eine monatelange Belagerung Beiruts mit Bombardements und danach die Besetzung des Südlibanon bis zum Jahr 2000. Weder die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO noch ihr Präsident Jassir Arafat wurden dabei vernichtet, sie entkamen nach Tunis.
Während der israelischen Besatzung des Südlibanon bildete sich die islamistisch-schiitische Guerilla-Organisation Hisbollah, die gegen die israelischen Besatzungstruppen kämpfte. Alle paar Jahre startete Israel eine mehr oder weniger große Militäroperation, um die Hisbollah zu eliminieren. 1988 hieß das Unternehmen „Operation Ruhe und Ordnung“, 1992 wurde Abbas al-Musawi, der Vorgänger des derzeitigen Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah, getötet, 1993 folgte die „Operation Abrechnung“ und 1996 die „Operation Früchte des Zorns“. Der Ablauf war jenem des aktuellen Vorgehens nicht unähnlich: Im April 1996 begann Israel mit Bombardements aus der Luft und Artillerieangriffen, 400.000 Libanesen waren daraufhin auf der Flucht. Die Hisbollah feuerte Katjuscha-Raketen ab. Israelische Geschosse trafen schließlich einen UN-Stützpunkt und töteten über 100 Flüchtlinge. Daraufhin wurde die Militäroperation unter dem Eindruck starker internationaler Proteste beendet.
Durch keinen Militärschlag konnte die Hisbollah bisher gebrochen werden, auf den „Hitler“ al-Musawi folgte der „Hitler“ Nasrallah. Israel beschuldigt derzeit die libanesische Regierung, die Hisbollah nicht entwaffnet zu haben – daran war allerdings auch Israel fast zwei Jahrzehnte trotz mehrerer Militäroperationen gescheitert.

In Sicherheit leben
Kann die israelische Regierung ihrem Volk die Angst nehmen?
Kann sich die Hisbollah wieder als unverzichtbar darstellen?

An dem Tag, an dem die Kampfhandlungen eingestellt werden, setzt auf beiden Seiten das Siegesgeheul der Propagandisten ein. Weit gehend unabhängig von den realen Verhältnissen müssen sowohl Israel als auch die Hisbollah versuchen, die Deutungshoheit über den Konflikt zu gewinnen. Das beginnt zuallererst im eigenen Land.
Israel hat in den vergangenen Wochen einen Schock erlitten. Dass die Hisbollah tödliche Raketen auf das israelische Kernland abfeuern kann, bedeutet einen starken Rückschlag für die Sicherheit in der Bevölkerung. Israel wurde gegründet, damit die Juden ein Land haben, in dem sie sich vor Verfolgung sicher fühlen können, und das Sicherheitsbedürfnis ist in Israel ein Faktor, mit dem seit jeher Politik gemacht wird. Einerseits interpretiert Israel die Hisbollah-Angriffe als existenzielle Bedrohung für die gesamte Nation, andererseits besuchte Premier Ehud Olmert vergangene Woche medienwirksam eine Gruppe von französischen Juden, die gerade eben aus Frankreich nach Israel emigriert sind, weil sie sich dort nach eigenen Angaben wohler fühlen. „Auf den Straßen hier ist es sicherer“, sagte Julien Daham, 29, aus Nizza.
Nach dem Krieg muss die Regierung der Bevölkerung glaubhaft vermitteln können, dass die Hisbollah besiegt ist und die Streitkräfte dank der massiven Vergeltungsschläge ihre abschreckende Wirkung wiedererlangt haben. Ende vergangener Woche schienen die Raketenangriffe der Hisbollah noch nicht nachzulassen.
Die Hisbollah wiederum braucht erst gar nicht zu versuchen, ihren libanesischen Anhängern angesichts eines schwer getroffenen Landes vorzugaukeln, sie könne die israelischen Streitkräfte schlagen. Ihr genügt es, wenn das Volk das Gefühl hat, die schiitische Miliz habe als einzige Kraft dem zionistischen Feind die Stirn bieten können – und die Gefangennahme der israelischen Soldaten, die zu dem Konflikt geführt hat, sei sinnvoll gewesen. Sollte ein Teil des südlichen Libanon von Israel oder einer anderen fremden Macht besetzt werden, kann die Hisbollah zudem erneut ihren Status als Befreiungsbewegung aktivieren.

Der Ruf nach Robustem
Ist der Einsatz einer UN-Friedens-truppe überhaupt denkbar?

US-Außenministerin Condoleezza Rice hat folgende Vision: Wenn Israel die Hisbollah – in ein, zwei Wochen vielleicht – so weit in die Enge getrieben hat, dass auch die Führer der schiitischen Miliz sich langsam um die Reste ihrer Einheiten zu sorgen beginnen, dann soll eine starke internationale Friedenstruppe im Libanon einmarschieren. Das Zauberwort in diesem Zusammenhang ist „robust“: Die Truppe soll stark genug und ausreichend mit schweren Waffen ausgerüstet sein, damit die Streitparteien gar nicht erst auf die Idee kommen, sie anzugreifen.
Eine solche „robuste Truppe“ müsste sich deutlich von den üblichen Blauhelmen unterscheiden, die im Grunde nur Waffenstillstände überwachen – und deren schärfste Waffen ihre Feldstecher sind. Eine solche Truppe soll dann den regulären libanesischen Truppen helfen, die Kontrolle über den Süden des Landes wiederzugewinnen – bisher war dieser das alleinige Operationsgebiet der Hisbollah – und außerdem die Schiitenmiliz zu entwaffnen.
Es gibt freilich ein paar Haken: Die Hisbollah müsste dem Deal zustimmen, und das würde sie realistischerweise nur, wenn sie militärisch in die Enge getrieben oder der Begriff „Entwaffnung“ eher symbolisch interpretiert wird. Oder aber man bietet der Hisbollah etwas an, das es ihr erlaubt, das Gesicht zu wahren – etwa einen Gefangenenaustausch oder die Aussicht auf Rückgabe der Shebaa-Farmen. Ein solcher Deal allerdings würde ihr Prestige stärken, und gerade das will die westliche Diplomatie auf jeden Fall vermeiden.
Andererseits: Gegen den Widerstand der Hisbollah würde wohl kaum ein Land Soldaten in das Krisengebiet schicken. Für die Verletzbarkeit einer solchen Truppe gibt es schließlich ein historisches Beispiel: Nach dem letzten großen Libanon-Krieg waren US-Marines und französische Einheiten 1983 Ziel eines Hisbollah-Selbstmordanschlages, dem 241 Amerikaner und 58 Franzosen zum Opfer fielen. Die US-Regierung zog ihre Soldaten damals zurück.
Zweites Handicap: Es müssten sich erst einmal einige Regierungen bereit erklären, Truppen zu entsenden. Die USA selbst haben eine Teilnahme schon ausgeschlossen. „Die Frage stellt sich heute nicht“, weist auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel alle einschlägigen Ansinnen zurück. Der britische Tony Blair bedauert: Seine Leute sind im Irak vollauf ausgelastet. Israelische Regierungsstellen wiederum brachten türkische und ägyptische Soldaten ins Spiel – ein Vorschlag, auf den man in Kairo Berichten zufolge regelrecht „geschockt“ reagierte.
Doch mit jedem weiteren Tag des Krieges wächst der Druck, vor allem auf die größeren und mittleren Mächte, sich in dieser Frage beweglicher zu zeigen. So prophezeit auch ein höherer US-Diplomat süffisant: „Dass die Entsendung einer solchen Truppe unmöglich ist, das werden wir noch bis zum Morgen jenes Tages hören, an dem sie dann tatsächlich entsendet wird.“

Die Hintermänner
Werden der Iran und Syrien jede Lösung torpedieren?

Die Rolle des Iran und Syriens ist die große Unbekannte im Ringen um eine Lösung der Krise. Die schiitische Hisbollah („Partei Gottes“) ist gewissermaßen ein Kind des iranischen Mullah-Regimes und mit diesem eng verbunden. Angeblich befindet sich Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah gegenwärtig sogar sicherheitshalber in der iranischen Botschaft in Beirut. Kein Zweifel besteht jedoch daran, dass die Hisbollah einen Großteil ihrer schweren Waffen – Panzer und ein Arsenal von 13.000 Raketen – aus dem Iran erhielt.
Spekuliert wird auch, dass der Iran die Hisbollah überhaupt erst zu der Provokation ermunterte, welche die aktuelle Krise auslöste – den Überfall auf eine israelische Patrouille und die Verschleppung zweier Soldaten. Immerhin ist der Streit um das iranische Atomprogramm damit vorerst von der internationalen Agenda verschwunden. Auch Syrien unter dem eigentlich weltlichen Regime von Bashir Assad gilt traditionell als Schutzmacht der Hisbollah. Das Bündnis mit der „Hamas, der Hisbollah und dem Iran ist die einzige Möglichkeit, die wir haben“, heißt es in Damaskus. Subtext: Dabei wäre man an besseren Beziehungen mit dem Westen durchaus interessiert und, etwas Entgegenkommen vorausgesetzt, möglicherweise sogar dazu bereit, die Hisbollah fallen zu lassen.
Im Falle des Iran ist die Sachlage komplizierter: Wollen die Mullahs mit der Instrumentalisierung der Hisbollah den USA nur zeigen, dass sie überall im Nahen Osten für Unruhe sorgen können? Oder wollen sie eine wirkliche Eskalation provozieren? Letzteres wäre jedoch ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Denn derzeit gewinnen im Westen wieder diejenigen Oberwasser, die meinen, man dürfe den Scharfmachern um Teherans Präsidenten Mahmud Ahmadinejad keinen Millimeter entgegenkommen.

Schöner, neuer Naher Osten
Folgt auf diesen Krieg eine Neuordnung der Region?

An düsteren Prophezeiungen mangelt es angesichts des hässlichen Krieges nicht. Man spricht von Flächenbrand, Radikalisierung, einem zweiten Irak. Dem gegenüber stehen eher vage Szenarien, wie die Krise eine positive Wendung nehmen könnte.
Die USA hoffen, dass die Krise zu einem Katalysator für einen „neuen Nahen Osten“ (so Außenministerin Rice) werden könnte: dass im Libanon die gemäßigte Zentralregierung wieder die Oberhoheit über ihr Territorium gewinnt; dass die prowestlichen arabischen Regime, etwa in Ägypten, Jordanien und im Irak, an Statur gewinnen; dass sich auch Saudi-Arabien dafür entscheidet, Unruhestifter nicht mehr als „Freiheitsbewegungen“ zu behandeln und finanziell zu unterstützen. Problematisch für das Lieblingsprojekt der Bush-Administration, die Demokratisierung des Nahen Ostens, erscheint jedoch, dass im Gegensatz zu den proamerikanischen Machthabern im arabischen Raum sowohl die Hamas als auch die Hisbollah durch freie, demokratische Wahlen legitimiert sind.
„Think big“, riet vergangene Woche Deutschlands Ex-Außenminister Joschka Fischer: „Der Libanon-Krieg kann auch eine Chance auf den Frieden eröffnen.“ Israel müsste, gerade in einer Position der Stärke, den Palästinensern ein echtes Friedensangebot machen, mit der Aussicht auf einen lebensfähigen Palästinenserstaat. Syrien müsste der Weg zur Normalisierung geebnet werden. Eine ähnliche Meinung vertrat Ende vergangener Woche auch der ehemalige amerikanische Nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski: Es sei jetzt Zeit für ein „ernsthaftes internationales Engagement, um die Moderaten auf beiden Seiten zu unterstützen“. Die Voraussetzung dafür wäre freilich, dass sich die USA verstärkt einbringen, die moderaten Kräfte auf arabischer Seite als gleichwertige Partner behandeln und damit aufhören, sich einfach „komplett parteiisch“ (Brzezinski) auf die Seite Israels zu schlagen. Kurzum: Die aktuelle Libanon-Krise kann nur dann eine Chance für einen „neuen“ Nahen Osten sein, wenn die USA ihre Politik von Grund auf ändern.

Von Robert Misik und Robert Treichler. Mitarbeit: Franziska Dzugan