„Weil ich verrückt geworden wäre“

„Weil ich sonst verrückt geworden wäre“

Umberto Eco im Interview über seinen neuen Roman

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profil: Sie haben mit „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“ nun einen Roman geschrieben, der so ganz anders scheint als Ihre literarischen Bücher davor. Oder täuscht der Eindruck?
Eco: Wenn man von den Illustrationen absieht, ist „Loana“ nicht so ganz anders. Meine Bücher sind alle in gewisser Weise historische Wiederbesichtigung. Auch die dreißiger und vierziger Jahre, um die es hier geht, sind Geschichte, wenn auch nicht gerade das Mittelalter oder der Barock. Aber ich gebe zu, dass das Buch meine Zeit und mein Leben betrifft.
profil: Es geht in dem Buch um Ihr Leben, dennoch ist es keine Autobiografie?
Eco: Nein, und das hat mir vieles erleichtert. In einer Autobiografie hat man nicht den Mut, alles zu erzählen. In einem Roman kann man sich einen anderen Charakter zulegen. So ist vielleicht die Autobiografie einer Generation, nicht die einer Person entstanden. Wenn man sich mit der Rekonstruktion von Erinnerung beschäftigt, weht einen natürlich sofort der Geist von Proust an. Man muss also etwas ganz anderes als Proust machen, der das subjektive Erleben als literarisches Material benutzte. Also habe ich das objektive Material benutzt: Fotos, Comics, Schlager ...
profil: … Material, das Sie auch in Form von Bildern zitieren. Ihr neues Werk wird von Bildermontagen und Fotos alter Zeitschriften, Dosen und Plakate begleitet.
Eco: Die Idee eines „illustrierten Romans“ gefiel mir, weil all die Bücher, die ich als junger Mann gelesen hatte, illustriert waren. Auch Alessandro Manzoni hatte für die zweite und endgültige Ausgabe seiner „Promessi Sposi“, der „Brautleute“, an der Auswahl der Illustrationen mitgearbeitet und Anweisungen für die Charakterisierung einer Person oder einer Landschaft gegeben. Heute würde er das Internet benutzen, um neue Ausdrucksmöglichkeiten zur Illustrierung des Comer Sees oder der Stadt Mailand zu finden.
profil: Wie lange haben Sie an Ihrem neuen Buch geschrieben?
Eco: Das Schreiben ging eher schnell, ich kannte ja alles aus eigener Erinnerung. Das Problem war, die alten Schränke wieder zu öffnen, die Schulhefte von damals zu finden, die Dosen und Schachteln. Ich suchte überall, in Antiquariaten, auf Flohmärkten, auf Dachböden. Es hat sechs Monate gedauert, um den einen Karton einer bestimmten Pulvermarke für Mineralwasser zu finden. Endlich gab mir jemand die Adresse von jemandem, der zwei besaß – und der mir dann einen davon schenkte.
profil: Und das Internet?
Eco: Das war eine ganz wichtige Quelle. Ich habe im Buch sechs Zigarettenschachteln abgebildet, aber insgesamt 200 verschiedene Abbildungen gesammelt. Das macht verständlich, warum ich an einer bestimmten Stelle aufhören musste, weil ich sonst verrückt geworden wäre. Ich habe unaufhörlich im Internet gesucht. Ich habe am Schluss immer dieselben Lieder gesummt, in der Nacht immer von denselben Dingen geträumt. Ein Albtraum!
profil: Obwohl Sie die Erinnerung Ihrer Hauptfigur aus Objekten entwickeln, entstehen doch persönliche Erinnerungen. Es geht um Liebe und Krieg. Wird in dem Buch nicht trotzdem viel Eco-Leben verarbeitet?
Eco: Ich habe in all meinen Büchern den Protagonisten immer auch persönliches Material mitgegeben. In diesem Fall ist es die Geschichte meiner Generation, und natürlich spielen dabei auch meine Erinnerungen eine Rolle. Aber ich fühlte mich frei, meinen Personen auch Erinnerungen und Gefühle anderer Leute mitzugeben. In diesem Sinn kann sich jeder in dem Buch wiederfinden, weil es nicht meine Geschichte ist, sondern unser aller Geschichte. Das ist der Trick dieses Buchs, das von einem Mann erzählt, der sein autobiografisches Gedächtnis verloren hat, aber nicht sein semantisches. Sein Gedächtnis ist versteinert, es besteht aus Papier, aus Schachteln, aus Objekten, die dem Leser bekannt vorkommen können.
profil: Ist „Loana“ das Buch einer Generation für eine Generation?
Eco: Das habe ich mich auch gefragt. Und in der Tat habe ich viele Briefe und E-Mails von Freunden bekommen, die darin ihre Jugend wiedererkannt haben. Ich hatte auch Angst, diesmal ein Buch geschrieben zu haben, das man vielleicht gar nicht übersetzen könne, weil es doch sehr, zu sehr italienisch ist. Doch als ich die Geschichte entwickelte, hatte ich dann doch das Gefühl, Material zu liefern, mit dem man eine interessante Ära entdecken kann. Ich habe unbewusst eine Art didaktisches Verfahren eingeführt. Ich zeige, mit welchen Büchern wir in der Schule gelernt haben. Wenn jemand „100 Jahre Einsamkeit“ von García Márquez liest, muss er nicht in Macondo gewesen sein. Aber er lernt etwas über den Ort Macondo. So waren auch die Reaktionen meiner ausländischen Verleger. Sie fanden das Buch gerade deshalb interessant, weil es von etwas erzählt, das ihre Leser in der Regel nicht kennen. Wie junge Leute heute mit der Gitarre alte Songs entdecken.
profil: Ihr Roman ist auch überraschend politisch. Geradezu bewegend ist die Schilderung einer Episode aus dem antifaschistischen Widerstand.
Eco: Es ist die Hauptidee des Buches, die Geschichte nicht als historische Rekonstruktion zu zeigen, sondern aus den Gegenständen Leben zu entwickeln. Eine Art Live-Show. Wie im Fernsehen. Ich glaube, dass diese Form verständlicher ist als die langweilige Ausbreitung von Dokumenten. Ich bin ein Opfer jener Zeit und habe noch klare Erinnerungen daran, die ich zum Leben erwecken möchte.
profil: Ist das Erinnern auch ein gesellschaftliches, ein kulturelles Phänomen?
Eco: Kultur ist nichts anderes als der Erhalt von Traditionen und Erinnerungen. Heute hat man den Verdacht, dass die junge Generation weniger Erinnerung hat und weniger Geschichte kennt. Junge Leute wissen kaum noch etwas von historischen Persönlichkeiten der fünfziger Jahre, während ich als junger Mann genau Bescheid wusste über Menschen, die 50 Jahre zuvor gelebt hatten. Das ist ein ernstes Problem: Wir leben in einer Zeit, in der das Internet ein Maximum an Erinnerungen gesammelt hat, es aber keine Möglichkeit gibt, dieses Wissen zu filtern. Es besteht also die Gefahr, die Erinnerung durch diesen Überfluss an Erinnerung zu verlieren. Mein Roman über einen Mann mit Gedächtnisverlust ist nicht nur die Geschichte einer Neubildung von Erinnerung, sondern auch die ihrer Filterung. Das ist die eigentliche Erinnerungsarbeit. Gedächtnis ist nicht nur ein Lager, es ist auch ein Filter. Sonst werden wir alle wie Funes, jene Figur von Borges, die sich an alles, wirklich alles erinnert, aber ein Idiot ist.
profil: In „Das Foucaultsche Pendel“, einem Ihrer früheren Bücher, beschreiben Sie, wie in vergangenen Jahrhunderten mithilfe von Verschwörungstheorien und Wahnvorstellungen Politik gemacht wurde. Wenn man sich heute ansieht, wie etwa die Bush-Administration denkt und arbeitet, hat das ungeheure Aktualität. Sie haben da etwas vorausgesehen …
Eco: Ich habe nichts vorausgesehen, die sind zurückgefallen.
profil: Andererseits erlebt man in Amerika und in Europa auch eine Opposition, die Bush eine Verschwörung nach der anderen unterstellt. Hat die Aufklärung abgedankt? Sind wir nur noch von politischen Wahnvorstellungen umgeben?
Eco: Im „Foucaultschen Pendel“ zitiere ich Chesterton: „Wenn die Leute nicht mehr an Gott glauben, heißt das nicht, dass sie an nichts, sondern dass sie an alles glauben.“ Nach dem Zusammenbruch der großen Ideologien ist ein Hohlraum entstanden, der mit allem Möglichen gefüllt wird: mit neuer Religiosität, mit New Age, mit Satanismus.
profil: Sie mischen sich auch in aktuelle politische Debatten ein.
Eco: Aber nicht jeden Tag. Es ist wahr, ich werde laufend angerufen und soll mich zu allem und jedem äußern. Da bin ich aber vorsichtig, denn wenn man das tut, hören die Leute nicht mehr hin.
profil: Zusammen mit anderen Intellektuellen haben Sie unter dem Eindruck der Ära Berlusconi die Gruppe „Libertà e Giustizia“ („Freiheit und Gerechtigkeit“) gegründet. Verschiedene Regionalwahlen in Italien haben gezeigt, dass die Menschen den Wahlversprechen von Berlusconi und seinen Leuten nicht mehr so leicht folgen wie noch vor wenigen Jahren. Kann der Intellektuelle da Einfluss ausüben?
Eco: Weniger, als man glaubt. Dass Berlusconi Wahlen verloren hat, hat mehr damit zu tun, dass Berlusconis Politik nicht funktioniert, dass er leere Versprechungen gemacht hat. Immerhin kann die Meinung eines Intellektuellen die Stimme von Menschen verstärken, er kann ihnen Mut machen, weiterzugehen. Das machen wir mit Libertà e Giustizia. Aber es gibt nicht mehr wie noch in den fünfziger Jahren den parteipolitischen „organischen Intellektuellen“, den Schöpfer eines neuen Glaubens, den Meinungsmacher. Auch deshalb, weil sich der Artikel eines Intellektuellen mit 200 Fernsehstunden messen muss.
profil: Ist der Intellektuelle heute wirklich nur noch eine Stimme unter vielen?
Eco: Ich glaube nicht, dass die Stimme eines Intellektuellen die politisch-ideologische Situation eines Landes ändern kann. Aber ich bin mir sicher, dass das Fehlen einer solchen Stimme ein Verlust für die ideelle Entwicklung ist. Es ist also wichtig, dass es jemanden gibt, der spricht. Mag sein, dass seine Rede nicht kraftvoll genug ist, aber das Fehlen seiner Rede kann eine Tragödie sein.