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Bevölkerung. Warum die Welt auch mehr als sieben Milliarden Menschen verträgt

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Wo und wann sich das denkwürdige Ereignis zutragen wird, ist ungewiss: Es kann irgendwo im australischen Busch sein oder in einer der Metropolen Nordamerikas, in einem Tiroler Bergdorf genauso gut wie in einer südafrikanischen Township, heute, morgen oder in drei Wochen. Vielleicht ist es unbemerkt aber auch schon eingetreten.

Die Vereinten Nationen haben sich jedenfalls ein symbolisches Datum dafür gesetzt: Sie begehen diesen Montag, 31. Oktober, als jenen Tag, an dem die Weltbevölkerung die Grenze von sieben Milliarden überschreitet.
Statistisch gesehen spricht einiges dafür, dass der Homo sapiens Nummer 7.000.000.000 in Indien geboren wird und männlich ist: Am Subkontinent kommen pro Jahr in absoluten Zahlen mehr Menschen zur Welt als sonst irgendwo, über 27 Millionen nämlich; das Verhältnis zwischen Buben und Mädchen liegt bei 108 zu 100. Nennen wir ihn Gupta.

Gupta hat eine Lebenserwartung von rund 63 Jahren, aber auch das ist reine Statistik. Es spricht jedenfalls nichts dagegen, dass er einen guten Teil der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts erlebt und damit eine fundamental veränderte Welt.

Gupta ist so etwas wie der Mensch gewordene Albtraum des Thomas Robert Malthus, und ohne Malthus kommt keine Geschichte über das Wachstum der Weltbevölkerung aus. Immerhin wirken die Theorien und Prognosen, die der in Großbritannien geborene anglikanische Geistliche vor über 200 Jahren entwickelte, bis heute nach.

Vereinfacht gesagt ging Malthus davon aus, dass die Menschheit dazu tendiert, sich über ihre Verhältnisse hinaus zu vermehren – so lange, bis eine Verknappung von Ressourcen eintritt und Hungersnöte, Seuchen oder Kriege dafür sorgen, dass das Gleichgewicht wiederhergestellt wird.

Die Geschichte schien Malthus in vielem Recht zu geben. Wenige Jahrzehnte nachdem er 1798 seinen „Essay on the Principle of Population“ veröffentlicht hatte, brach in Irland die durch Kartoffelfäule verursachte „Große Hungersnot“ aus. Eine Million Menschen starben, an die zwei Millionen wanderten aus. Damit verlor die Insel ein Drittel der Einwohner.
Zu diesem Zeitpunkt lag die Weltbevölkerung bei rund einer Milliarde Menschen. Es schien undenkbar, dass die Nahrungsmittel für mehr reichen würden.

Heute wirken die von Malthus formulierten Ängste aktueller denn je. Immerhin sind die Milliardenmarken in den vergangenen zwei Jahrhunderten in immer kürzer werdenden Abständen gefallen. 1927 lebten zwei Milliarden Menschen auf dem Planeten, 1974 bereits vier, und 1999 waren es sechs. 2026 sollen es acht Milliarden sein.

Klimawandel. Umweltzerstörung. Ressourcenknappheit. Vom Kollaps bedrohte Sozial- und Pensionssysteme – alles Folgen des Bevölkerungswachstums. Einen „perfect storm“, also eine Katastrophe, bei der sich alle Faktoren gegenseitig verstärken, sieht etwa John Beddington, ein hochrangiger Wissenschafter der britischen Regierung, heraufziehen: Um das Jahr 2030 könnten Engpässe bei der Nahrungsmittel-, Wasser- und Energieversorgung zu Volksaufständen, grenzüberschreitenden Konflikten und Massenauswanderung aus den betroffenen Gebieten führen.

„Möglicherweise gibt es zu viele Menschen auf diesem Planeten“, sinnierte Nina Fedoroff, die wissenschaftliche Beraterin von US-Außenministerin Hillary Clinton im Jahr 2009.

„Wir müssen in den kommenden 40 Jahren die gleiche Menge von Lebensmitteln herstellen wie in den vergangenen 8000 Jahren“, warnt die Umweltorganisation WWF; die Menschheit würde im Jahr 2050 drei Planeten Erde benötigen, um ihren Bedarf zu decken. Und „Terra Nova“, eine von Steven Spielberg produzierte TV-Serie, die Ende September in den USA erstausgestrahlt wurde, spielt ebenfalls mit der apokalyptischen Vision einer überbevölkerten, unterversorgten Welt, die der Menschheit nur noch eine Überlebensmöglichkeit lässt: Flucht.

Klarerweise lassen sich die Entwicklungen der kommenden Jahrzehnte nicht konkret voraussagen. Wenn es nicht zu Seuchen oder Naturereignissen katastrophalen Ausmaßes kommt, ist eines allerdings sehr wahrscheinlich: Die Weltbevölkerung, die momentan um rund 80 Millionen Menschen pro Jahr zunimmt, wird weiter wachsen und sich damit selbst vor eine Reihe von Herausforderungen stellen.

Bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts. Dann dürfte ein Trend durchschlagen, der, weitgehend unbemerkt, längst eingesetzt hat und allmählich zu einer Umkehrung aller Verhältnisse führt – und den Inder Gupta, der aus heutiger Sicht als geborener Verlierer gelten würde, zum Gewinner der demografischen Umwälzungen machen könnte.

Wenn Gupta Anfang dieser Woche auf die Welt kommt, hat er alles andere als einen aussichtsreichen Start ins Leben. Über 40 Prozent der Inderinnen und Inder gelten als arm, über 80 Millionen vegetieren obdachlos in den Elendsvierteln von Großstädten, mehr als 200 Millionen gelten als unterernährt, in den ländlichen Gebieten haben nicht einmal 30 Prozent Zugang zu sauberem Trinkwasser.

So oder ähnlich leben Hunderte Millionen Menschen: Fast die Hälfte der Weltbevölkerung hat pro Tag lediglich zwei Dollar oder weniger zur Verfügung, 800 Millionen wohnen in Slums, bis zu 925 Millionen sind chronisch unterernährt oder ­haben zumindest keine sichere Nah­rungsmittelversorgung. Gleichzeitig sind es gerade die Bewohner der ärmeren Staaten, die sich am stärksten vermehren, und das wiederum in den Städten: im Jahr 2030 einigen Prognosen zufolge alle fünf Tage um eine Million Menschen, also um sechs Millionen pro Monat.

Diese fortschreitende Urbanisierung hat eine Reihe von negativen Nebenwirkungen: Städte verbrauchen mehr Wasser als ländliche Regionen, ihre Ausbreitung geht zulasten landwirtschaftlicher Anbauflächen, die Haushalte sind kleiner, ihre Zahl ist größer – und damit nicht nur der Bedarf an Energie und Ressourcen, sondern auch der Beitrag zur Umweltverschmutzung.

Gupta, der kleine Inder, hat hohe Chancen, in einer solcherart belasteten Umgebung groß zu werden. Wenn er 14 ist, wird derzeitigen Berechnungen zufolge der achtmilliardste Homo sapiens geboren.

Angesichts dieser schwindelerregenden Zahl darf eines nicht übersehen werden: Die Menschheit hat nur zwölf Jahre von der sechsten zur siebten Milliarde gebraucht, aber es wird bereits 18 Jahre von der achten bis zur neunten Milliarde dauern. Das heißt, das Bevölkerungswachstum schwächt sich ab, und zwar bereits seit Jahrzehnten. Seinen Höhepunkt erreichte es in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Damals stieg die Zahl der Menschen um zwei Prozent pro Jahr, die weltweite Geburtenrate lag bei fünf Kindern pro Frau. Inzwischen ist sie auf durchschnittlich 2,45 gefallen und sinkt weiter in Richtung 2,1 – jener magischen Marke, unter der sich eine Spezies nicht mehr vermehrt.

Über die Geschwindigkeit, mit der diese Entwicklung verläuft, gibt es geteilte Meinungen. Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass die Weltbevölkerung zumindest auf zehn Milliarden steigen wird: „Wir gehen davon aus, dass im Jahr 2100 zehn Milliarden Menschen auf der Welt leben und die Zahl ab diesem Zeitpunkt leicht zurückgeht“, sagt Gerhard Heilig, Chef der Bevölkerungsabteilung bei den Vereinten Nationen.

Wolfgang Lutz, Direktor des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital und des Vienna Institute of Demography, sieht den Höhepunkt hingegen bereits Mitte des 21. Jahrhunderts bei neun Milliarden überschritten: „Wir gehen davon aus, dass die Geburtenraten im internationalen Schnitt langfristig zwischen 1,5 und 2,0 liegen werden und sich dadurch ungefähr ab der Mitte des Jahrhunderts ein Bevölkerungsrückgang ergeben wird.“

Dass die UN zu einem anderen Schluss kommen, habe auch politische Gründe, so Lutz: Die Demografen und Statistiker der Vereinten Nationen müssen bei ihren Berechnungen die offiziellen Zahlenangaben der Regierungen übernehmen. „In China beispielsweise meldet die Familienplanungsorganisation der Regierung, die auch weiterhin eine Existenzberechtigung haben will, offiziell eine höhere Geburtenrate von 1,8 Kindern pro Frau, obwohl die Rate realistisch eher bei 1,4 liegt.“ Lutz setzt auch die Geburt des siebenmilliardsten Menschen später, nämlich Mitte 2012, an.

Faktum ist, dass mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Ländern lebt, in denen eine Frau im Durchschnitt 2,1 Kinder oder weniger auf die Welt bringt. Das betrifft nicht nur die üblichen Verdächtigen im sklerotischen Europa. Überraschenderweise verzeichnen auch Staaten, von denen man es nicht erwarten würde, teils drastische Bevölkerungsrückgänge. Im Iran zum Beispiel sank die Geburtenrate seit 1984 von sieben Kindern auf 1,9 im Jahr 2006.

Das hat zum einen mit Faktoren wie höherer Bildung zu tun, die besonders in Entwicklungsländern spürbare Wirkung entfaltet. Zum anderen liegt es an Prozessen, die alle Populationen früher oder später durchlaufen und mit der „Theorie vom demografischen Übergang“ erklärt werden. Diese geht im Wesentlichen davon aus, dass in einer sich ent­wickelnden Gesellschaft zunächst die Lebenserwartung steigt und die Sterberate sinkt. Das führt in einer ersten Phase zu einem Bevölkerungswachstum, danach aber zu einem Geburtenrückgang – unter anderem, weil Eltern davon ausgehen können, dass mehr ihrer Kinder überleben und sie daher weniger in die Welt setzen müssen, um ihre eigene Altersversorgung zu gewährleisten. In dieser Phase stehen viele Erwerbs­tätige wenigen Versorgungspflichtigen gegenüber. In Europa war das beispielsweise zur Zeit des Wirtschaftswunders der Fall. In weiterer Folge ergibt sich daraus, dass die Bevölkerung schrumpft und überaltert.

„Alle Gesellschaften gehen früher oder später durch diesen Prozess. Bei uns in Österreich war das Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall“, sagt Demograf Lutz: „In Asien ist er schon weit fortgeschritten, Afrika befindet sich noch mittendrin.“

China stagniert infolge der 1-Kind-Politik: „Es wird bereits im Jahr 2020 älter als Amerika und 2030 auch älter als Europa sein“, schreibt das Nachrichtenmagazin „The Economist“. Das werde in absehbarer Zeit auch der Billiglohnproduktion, der China seinen Aufschwung zu verdanken hat, ein „abruptes Ende“ setzen, was die Regierung in Peking vor völlig neue Herausforderungen stellen dürfte. Und die Probleme Europas sind weithin bekannt.

Schwarzafrika ist mit mehr als vier Kindern pro Frau indessen noch immer die am stärksten wachsende Region. 2004 hat dieser Erdteil Europa im Hinblick auf die Bevölkerungszahl überholt; wenn die Trends anhalten, werden südlich der Sahara im Jahr 2050 zwei Milliarden Menschen leben, nördlich des Mittelmeers aber nur mehr 720 Millionen. Zwar sagt eine Reihe von Studien dem afrikanischen Kontinent einen Wirtschaftsboom voraus – konkrete Anzeichen dafür gibt es allerdings nur in wenigen Staaten.

Gupta, das indische 7-Milliarden-Baby, könnte hingegen Glück mit Zeit und Ort seiner Geburt haben. Es ist durchaus ­möglich, dass seine Generation die „demografische Dividende“ einfährt, so wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg: Eine große Zahl Erwerbstätiger, die vergleichsweise wenige Kinder und Alte versorgen müssen – und das bei steigender Produktivität auf Basis einer bereits ausdifferenzierten Wirtschaft mit zukunftsträchtigen Sektoren.

Bereits jetzt ist Gupta eine Erinnerung daran, wie falsch Thomas Robert Malthus lag. Der grundsätzliche Irrtum von Malthus bestand wohl darin, dass er seine Prognosen rein auf Basis einfacher mathematischer Reihen erstellte und den menschlichen Faktor außer Acht ließ – wie im Übrigen zuletzt auch der deutsche Apokalyptiker Thilo Sarrazin mit seiner Prophezeiung, die westlich-europäische Kultur sei durch eine rasant wachsende muslimisch dominierte Unterschicht zur Auslöschung verdammt.
„Malthus hatte in vielem Recht. Etwa mit der Annahme, dass der Sexualtrieb nicht abnehmen wird“, sagt der Demograf Wolfgang Lutz, „was er nicht ahnte, war, dass die Menschen lernen würden, durch Verhütung keine Kinder zu zeugen.“ Ebenso wenig sah der britische Geistliche die technologischen Fortschritte in der Lebensmittelproduktion voraus.

Inzwischen reicht die Kalorienmenge der weltweit produzierten Getreideprodukte aus, um zehn bis elf Milliarden Menschen zu ernähren. Fast 20 Prozent davon werden allerdings für industrielle Zwecke wie die Herstellung von Kunststoff, Biosprit oder Stärke verwendet, weitere 34 Prozent als Futter – und damit höchst ineffizient: Für eine Kalorie Fleisch müssen etwa acht Kalorien Getreide aufgewendet werden. Hungersnöte werden nicht durch generellen Mangel ausgelöst, sondern in der Regel durch mangelnden Zugang zu Nahrung.

Inzwischen tauchen neue Sorgen auf: Der Klimawandel könnte die Getreide- und Sojabohnenproduktion beeinträchtigen, warnen US-Forscher. Zudem gingen die für Düngemittel notwendigen Phosphor-Vorräte zur Neige.

Das Ansteigen der Weltbevölkerung von einer auf sieben Milliarden Menschen hat auch nicht zwangsläufig zu mehr bewaffneten Konflikten geführt. Die Zahl der bilateralen Kriege ist in den vergangenen Jahrzehnten stetig gesunken, obwohl die Zahl der Nationalstaaten seit dem Fall des Eisernen Vorhangs deutlich zugenommen hat. Die Auseinandersetzungen um Wasser, die seit Jahrzehnten vorausgesagt werden, lassen bislang auf sich warten. Und den größten Anteil an der Emission von Treibhausgasen haben nicht rasant wachsende Gesellschaften in den Entwicklungsländern, sondern stagnierende wie China und hochtechnisierte wie die USA.

Mag sein, dass die Welt in den kommenden Jahrzehnten vor einer ganzen Reihe von Problemen steht. Wie viele Menschen auf ihr leben, ist aber definitiv nicht ihr größtes.

Und davon, dass Gupta geboren wird, geht sie sicherlich nicht unter.