Wolfgang Paterno

Weltfasching

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Als der schwedische Industrielle Alfred Bernhard Nobel sein vierzigstes Lebensalter überschritten hatte, war er bereits eine Berühmtheit. Er zählte zu den reichsten Menschen seiner Zeit und besaß mindestens 350 Patente in verschiedenen Ländern, darunter Lizenzen zur Herstellung explosionssicherer Dampfkessel. Allein zwischen 1867 und 1873 gründete er in Europa und den USA fünfzehn neue Unternehmen zur Herstellung und Vermarktung seiner bekanntesten Erfindung – des Dynamits.

Alfred Nobel (1833–1896) war ein viel beschäftigter, vom anbrechenden Maschinenzeitalter faszinierter Mann. Für Hobbys blieb nur beschränkt Zeit. Er züchtete allerdings Orchideen und spielte ein wenig Schach und Billard. Und er liebte die Literatur – die ihn allerdings nicht im selben Maß zurückliebte: Verzweifelter Ausdruck seiner Leidenschaft waren die nach Feierabend verfassten, grottenschlechten Novellen („Im hellsten Afrika“, 1861) und halblustigen Komödien („Der Patent-Bazillus“, 1895).

Mit dem Nobelpreis freilich sollte der Feingeist den höchstdotierten und begehrtesten Literaturpreis der Welt stiften. In seinem handschriftlichen Testament verfügte er, dass die jährlichen Zinsen seines Vermögens in fünf gleiche Anteile dividiert und jenen zuteil werden sollen, die „im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen“ in den Bereichen Physik, Medizin, Chemie und Friedenssicherung geleistet haben. Zudem sollte jener Schriftsteller, der „in der Literatur das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung hervorgebracht hat“, alljährlich am 10. Dezember, Nobels Todestag, eine Medaille, ein Diplom und einen Geldpreis verliehen bekommen. Letzterer beläuft sich mittlerweile auf zehn Millionen Kronen oder umgerechnet 1,1 Millionen Euro.

Während der Frankfurter Buchmesse, der größten Literaturselbstfeier der Welt, dreht sich das Spekulationskarussell daher immer rasender: Wer wird diesjähriger Literaturnobelpreisträger? Wer erhält, kurze Zeit vor der öffentlichen Bekanntgabe, den erlösenden Anruf aus Schweden? Viele der gehandelten Namen der Kandidaten für den Preis sind seit Jahren weitgehend dieselben: Adonis, Harry Mulisch, Don DeLillo, Cees Nooteboom, Thomas Pynchon, Margaret Atwood sowie der Schwede Tomas Tranströmer und der Koreaner Ko Un. Besonders oft fallen jedoch drei Namen: John Updike, Philip Roth und Joyce Carol Oates. Kassierten diese drei US-Literaten für jede mediale Nennung im Zusammenhang mit dem Nobelpreis nur einen Euro, der Betrag überstiege das offizielle Millionen-Preisgeld bereits um ein Vielfaches. Der Schriftsteller Orhan Pamuk, in seiner Heimat jüngst „wegen Herabsetzung des Türkentums“ angeklagt, zählt seit Kurzem ebenfalls zum engeren Favoritenkreis.

Zweifel an der Urteilsfähigkeit des sechsköpfigen Komitees, das für „De Aderton“ („Die Achtzehn“), jenes Gremium, das über die Vergabe des Preises letztlich entscheidet, traditionsgemäß eine fünf Kandidaten umfassende Vorauswahl trifft, sind angebracht. 1901 wurde der Preis erstmals vergeben – bereits damals traf die Jury eine strittige Entscheidung: Der als Favorit gehandelte Leo Tolstoi hatte gegenüber dem heute vergessenen Franzosen Sully Prudhomme das Nachsehen. Die Kategorie Weltliteratur? Eine, so scheint es, wenig bekannte Größe in Stockholm: In den vergangenen zehn Jahren wurde die Auszeichnung neunmal an europäische Autoren und Exil-Europäer verliehen. Schleierhaft ist auch, ob der Dichterlorbeerkranz mehr das poetische oder das politische Werk eines Schriftstellers adeln soll – in unergründlicher Unregelmäßigkeit werden außerordentlich zeitkritische Autorinnen und Autoren (Elfriede Jelinek, 2004; Harold Pinter, 2005) sowie Vertreter der Radikaldichtung (Derek Walcott, 1992; Wislawa Szymborska, 1996) geehrt.

„Die Stockholmer, sie haben einfach einen Knall“, formulierte einst der deutsche Schriftsteller Eckhard Henscheid. Und weiter: „Nun wäre gegen diesen Nobelpreis natürlich trotzdem wenig einzuwenden und vorzubringen, diente er überwiegend a) einer gewissen Völkerverständigung und b) dem ohnehinnigen Primat des Medienremmidemmis, der halt möglichst flachen Unterhaltung. Bloß, es ist nun mal so: Die Leute glauben dran, sogar manche vermeintlich wissende, zurechnungsfähige. Ein IQ von ca. 95 reicht aus, den Stockholmer Quatsch als veritablen ‚Weltfasching‘ (Karl Kraus) zu durchschauen; aber alle, auch die um 139 und von der ‚Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘, nehmen ihn als blanken schieren Ernst.“

Die Telefonnummer von Philip Roth ist der Literaturkommission seit Langem bekannt. Auch jene von Milan Kundera und Mario Vargas Llosa. Voraussichtlich am Donnerstag dieser Woche soll der diesjährige Preisträger bekannt gegeben werden. Roth, der überragende Erforscher der conditio humana, wird, wie jedes Jahr, auch heuer am Tag der Preisverkündigung in einem abgedunkelten Zimmer seiner Farm im Nordwesten von Connecticut sitzen, neben sich das Telefon. Stockholm sollte sich endlich melden.