Weltpolitik: Wer die Bombe liebt

Weltpolitik: Angst vor der Atombombe: Das neue nukleare Wettrüsten wird verschärft

Heute ist die geächtete Waffe wieder da

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Im Heckenrosental herrscht der finstere Tengil. Das Leben seiner Untertanen ist eine tägliche Tortur, doch sie ducken sich in ihren Lumpen, ergeben sich dem Schicksal und trauen sich nicht aufzumucken. Denn sie wissen: Oben in der Höhle auf dem Berg hat Tengil seine wichtigste Waffe versteckt, Katla, den großen, feuerspeienden Drachen.

Es reicht, dass Tengil den Drachen immer wieder an seiner Kette aus der Höhle holt und ausführt, damit alle ihn sehen. Katla muss gar nicht viel tun. Keiner weiß genau, wie schrecklich es wäre, würde er losgelassen, aber jeder Untertan hat es sich im Geiste schon tausendmal im Detail ausgemalt. Die Angst reicht aus, um Tengil an der Macht zu halten …

Astrid Lindgren hat ihr Kinderbuch „Die Brüder Löwenherz“ 1973 geschrieben, am Höhepunkt des Kalten Krieges. Zehn Jahre zuvor, anlässlich der Kuba-Krise, war die Welt schon knapp am Atomkrieg vorbeigeschrammt. Nun standen das amerikanische und das sowjetische Waffenarsenal einander in feindseliger Erstarrung gegenüber, als permanente Warnung vor der globalen Apokalypse.

Diese große Zeit der Atombombe, meinte man lange, sei seit dem Ende des Kalten Kriegs vorbei und mit ihr die Angst. Doch die Hoffnung war trügerisch. „Das 21. Jahrhundert scheint ein noch gefährlicherer, weil unübersichtlicherer Ort zu sein“, schrieb jüngst der britische „Economist“: Die nukleare Gefahr steige durch „regionales Wettrüsten, durch Staaten, die Abkommen biegen und brechen, durch lecke Kontrollen und durch einen blühenden und alarmierend gut organisierten Schwarzhandel“.

Die geächtete Bombe, scheint es, ist wieder da. Es gibt weniger Exemplare von ihr, aber diese befinden sich in mehr Händen als je zuvor. Sie ist rehabilitiert als Mittel der Politik, als Abschreckungswaffe, als Machtinstrument, als Erpressungsmethode.

I. Die Logik der Abschreckung
Seit man weiß, dass sie funktioniert, ist die Atomwaffe das ultimative Instrument des Selbstschutzes – mit ihrer ganz eigenen Logik: Das Wissen darum, dass der Gegner atomar zurückschlagen kann, wird den Angreifer von einer Aggression abhalten. Sollte das nicht reichen, müsse man sicherstellen, ausreichend Atomraketen zu haben, damit sogar nach einem Angriff noch genug für den Gegenschlag übrig sei. Der amerikanische Verteidigungsminister Robert McNamara prägte 1962 den Begriff der „sicheren Vernichtung“: Erst wenn die im Kriegsfall gegenseitig garantiert sei, würden beide Rivalen wohl einen Krieg zu vermeiden versuchen.

Die Amerikaner sollten ihr Monopol nach Hiroshima nicht lange behalten. 1941 erfuhr der Kreml von der Arbeit an der amerikanischen Atombombe, Stalin ließ daraufhin sein eigenes Programm starten. Unter allergrößter Geheimhaltung: Sarow, die Forschungsstadt bei Nischni Nowgorod, war auf keiner Landkarte verzeichnet. Das Atomministerium wurde „Ministerium für mittelgroßen Maschinenbau“ genannt („große Maschinen“ waren die Anlagen zur Ölförderung, „kleine Maschinen“ bezeichnete Gerätschaften für die Textil- und Lebensmittelindustrie). 1949, mit dem ersten erfolgreichen sowjetischen Atomtest, war es so weit: Die USA hatten Konkurrenz bekommen.

„Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den atomaren Supermächten ist besser als die Idee, den Kommunisten zu vertrauen“, lautete der Leitspruch von Edward Teller, dem Vater der Wasserstoffbombe.

Das Ergebnis: Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte man so viele, so teure und technisch so anspruchsvolle Waffen konstruiert, ohne sie einsetzen zu wollen. 14.000 amerikanische Atomsprengköpfe standen am Höhepunkt 10.000 sowjetischen gegenüber. Für Moskau war das ruinös. „Um mitzuhalten, wurde viel geopfert“, sagt der Nuklearwissenschafter Sergej Sykow, „die Ausgaben für die Aufrüstung standen in keinem Verhältnis zu den verfügbaren Mitteln.“

Das Wettrüsten ist heute zu Ende, die Zahl der Atomsprengköpfe der Supermächte wurde seit 1988 halbiert. Dennoch hat die alte Logik der Abschreckung alle Umbrüche überdauert. Auch in der neuen, unübersichtlicheren Welt gilt die eiserne Grundregel der 60er-Jahre: Wer nukleare Waffen hat, ist relativ sicher. Wer keine hat, ist gefährdet.

Ironischerweise sind es genau die USA, die mit dem Irak-Krieg erst jüngst wieder die Gültigkeit dieser Regel bewiesen haben. Bush sagte, die Invasion im Irak habe eine „unmissverständliche Botschaft“ an Regime gesendet, die Massenvernichtungswaffen entwickeln oder besitzen. Aber welche Botschaft war das? Sowohl Nordkorea als auch der Iran haben sie verstanden: Hätte Saddam Hussein tatsächlich atomare Sprengköpfe besessen, er säße wohl noch in seinem Palast in Bagdad.

„Nur mächtige Stärke kann Gerechtigkeit und Wahrheit schützen.“ Die Wortwahl, mit der Nordkorea eben den Besitz der Atombombe verkündete, kommt nicht von ungefähr. Ebenso wenig wie der Zeitpunkt – bloß zwei Wochen, nachdem US-Präsident Bush Pjöngjang als „Vorposten der Tyrannei“ brandmarkte.

Für ein Land wie den Iran, das zwischen Verhandeln und Konfrontation laviert, kann die Logik der Abschreckung nichts anderes sein als ein Ansporn zur Vagheit. Was genau in seinen Forschungszentren geschieht, weiß niemand, nicht die Verhandler der EU, nicht die Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA. Den Mullahs kann das nur nützen: Einen angriffswilligen Gegner im Glauben zu lassen, man habe vielleicht noch mehr im Arsenal, als man zugibt, ist in dieser Logik der beste Schutz.

II. Der ideologische Mehrwert
„Die Bombe“ dient nicht bloß dem Selbstschutz – sie hat auch einen mythischen Mehrwert. So wie sie für die Sowjetunion ein Vehikel war, um zu beweisen, dass der Kommunismus dem Kapitalismus ebenbürtig ist, so erliegen auch westeuropäische Nationen den Verlockungen der Eitelkeit. Als Frankreich, nach einem nationalen Kraftakt, am 13. Februar 1960 in der algerischen Wüste seine erste A-Bombe testete, jubelte Präsident Charles de Gaulle: „Hurra Frankreich! Seit diesem Morgen ist es stärker und stolzer!“

Für Indien und Pakistan, die beiden durch eine grausame Geschichte miteinander verstrickten Rivalen, ist der nukleare Wettlauf seit jeher das Feld erbitterter Selbstbestätigung. Für die hinduistisch-nationalistische Partei BJP war es eine Prestigefrage, bloß zwei Monate nach ihrer Regierungsübernahme, im März 1998, in der Wüste von Rajasthan ihre neu entwickelten Atomwaffen zu testen. „Megatonnen von Prestige“ hätte man nun, jubelten die indischen Zeitungen.

Die pakistanische Antwort war eine Frage der Ehre und ließ nicht lang auf sich warten. Abdul Qadir Khan, der Chef des pakistanischen Bombenprogramms, wurde zum Volkshelden, dessen Bild auf tausende Autobusse gemalt wurde, nachdem die Sprengsätze in den Chagai-Bergen erfolgreich gezündet waren. Betonmodelle des Bergmassivs stehen seither, als Denkmäler, auf Straßenkreuzungen aller größeren pakistanischen Städte.

Der Club der Atommächte ist elitär genug, um auch kleinen Akteuren durch Mitgliedschaft große Bedeutung zu verleihen. Nichts anderes ist es wohl, was den nordkoreanischen Potentaten Kim Jong Il antreibt. Im wirklichen Leben ist er der Chef über ein hungerndes, abgewirtschaftetes, unbedeutendes Land am äußersten Zipfel Asiens; in seinem Selbstbild hingegen ist er der Nabel der Welt. In den Bibliotheken, wo seine Werke von Blumengirlanden umkränzt sind, lässt sich Kim als größter Denker, als kreativster Filmregisseur und als geliebtester Politiker der Welt feiern, zu seinem 63. Geburtstag Mittwoch vergangener Woche ließ er Millionen tanzen.

Doch erst mit der Bombe erreicht er auch in der Außenwirkung, was er seit Jahr und Tag sein eigenes Volk glauben macht: dass er dem US-Präsidenten auf gleicher Augenhöhe gegenübersteht.

Mohamed El Baradei, Chef der IAEA, kann solche Motive bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Am Beispiel des Iran, meint er, offenbare sich ein Grundproblem: „Wenn ein Land anfängt, Atomwaffen zu bauen, muss man verstehen, warum.“ Der Iran habe 20 Jahre lang Isolation und Sanktionen erlebt, daraus erwachse das Bedürfnis nach Eigenständigkeit, im Energiebereich ebenso wie in der Rüstung. „Wenn ein Land das Gefühl bekommt, dass seine Bedürfnisse ernst genommen werden, dann muss es gar nicht so weit gehen.“ Im Klartext: Die Drohung mit Militärschlägen kann kontraproduktiv sein, weil sie den ideologischen Mehrwert, sich dieser Drohung zu widersetzen, noch erhöht.

Die Alternativen sind mühsam, aber es gibt sie. Als Südafrika die Apartheid hinter sich ließ, gab es gleichzeitig die Zerstörung seiner sechs Atomsprengköpfe bekannt. Der moralische Mehrwert, kein Pariastaat mehr zu sein, war größer als der reale Wert des Waffenarsenals. Mit ähnlichem Hintergedanken legten Brasilien und Argentinien ihre Atompläne ad acta.

Und als Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi vor zwei Jahren mit großer Geste seinen Verzicht auf Massenvernichtungswaffen verkündete, bewies das, dass auch Outlaws wieder gesellschaftsfähig werden können. „Wir hatten kein Ziel“, gibt Gaddafi heute reumütig zu. „Wir begannen, über die Kosten nachzudenken. Wenn dich jemand angreift, und du verwendest eine Atombombe, dann verwendest du sie im Endeffekt gegen dich selbst.“

III. Clubmitglieder und Parvenus
Der Anti-Atom-Aktivist war 34 Jahre alt, ein hitzköpfiger Schauspieler, der Ronald Reagan hieß. Er wollte bei einer Protestveranstaltung ein Gedicht vortragen, über den Wind, der von Nagasaki weht, den wütenden Himmel, die Pilze aus Bombenstaub und die Engel, die darob verzweifeln. Reagan handelte sich dafür eine Rüge von seinem damaligen Arbeitgeber in Hollywood ein, aber sein Anliegen war echt und drängend – und unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Amerika weit verbreitet: Die Atomkraft sei so gefährlich, dass man sie internationalisieren und weltweit kontrollieren müsse.

Das war, kurz bevor der Rüstungswettlauf mit der Sowjetunion einsetzte, wahrscheinlich naiv – und doch ist es der Grundgedanke, der später in so sperrige Begriffe wie „Atomteststoppvertrag“, „Atomwaffensperrvertrag“ und „Internationale Atomenergiebehörde“ mündete. Die Idee dahinter: Der Kreis jener, welche die atomare Waffentechnologie beherrschen, dürfe sich nicht erweitern. Jedes der 138 Länder, die der IAEA beigetreten sind, muss alle atomaren Aktivitäten melden und den gesamten Zyklus – auch der friedlichen Nutzung von Atomkraft – überwachen lassen. Der Export von Know-how oder Material zur militärischen Nutzung ist streng verboten.

250 Männer in weißen Arbeitskitteln ziehen derzeit für die IAEA durch jährlich etwa 900 Atomanlagen. Sie versiegeln die verbrannten Brennstoffe, um sicherzugehen, dass kein Material abgezweigt wird, sie installieren Überwachungskameras, sie verschaffen sich Zutritt zu allen Forschungsstätten.

Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel, manchmal. Die IAEA kann böse werden, wenn sie, wie jüngst im Fall von Ägypten, nicht gemeldete Forschungsaktivitäten entdeckt. Sie ist hilflos, wenn Länder wie Indien oder Pakistan den Sperrvertrag von vornherein boykottieren oder – wie Nordkorea – aufkündigen. Und sie kann das moralische Dilemma, das ihrem Auftrag zugrunde liegt, nicht lösen: Warum dürfen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs Atomwaffen besitzen – und die meisten anderen nicht?

Die Drohung mit internationaler Ächtung ist willkürlich. China erweitert, als einzige der fünf offiziellen Atommächte, derzeit sein nukleares Arsenal. Warum hat Pakistan nicht mit Sanktionen zu rechnen – wohl aber der Iran? Israel ist den Abkommen nie beigetreten und wird auch nicht gedrängt, den Vertrag zu unterschreiben, obwohl jeder weiß, dass es die Bombe hat. Warum darf Israel einen Schirm der atomaren Abschreckung spannen – nicht aber die arabischen Nachbarn, wo deswegen unausrottbar die Legenden über die „amerikanisch-jüdische Verschwörung“ kursieren?

Die angesehene Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden resümiert das Dilemma: „Solange es Länder gibt, die haben, und solche, die nicht haben, wird das System zur Begrenzung von Atomwaffen immer instabil sein.“ Auch Mohamed El Baradei sieht die Spannungen wachsen: „Der Sperrvertrag steht unter nie da gewesenem Stress“, warnt er kurz vor dessen 35. Geburtstag. „Die jüngsten Ereignisse haben seine Grenzen aufgezeigt. Wir müssen etwas tun, um ihn der Wirklichkeit anzupassen.“

IV. Der Schwarzmarkt
In der Wirklichkeit des atomaren Marktes spielen längst nicht mehr nur Staaten mit. Geschäftemacher arbeiten auf eigene Rechnung, Terrorgruppen führen ihre eigenen Kriege – ihnen ist mit Verträgen, Verhandlungen und zwischenstaatlichen Drohgebärden nicht beizukommen, weil sie über kein abzugrenzendes Territorium verfügen.

Erst vor zwei Wochen wurde in der Wolga-Region ein Gewichtheber verhaftet, der mit 37 Kilo Uran-238 im Kofferraum die Grenze nach Kasachstan passieren wollte. Er habe das radioaktive Material statt Hanteln zum Training benutzt, lautete seine Ausrede. Sie verrät, dass offenbar einiges in den falschen Händen ist.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion tat sich ein Vakuum auf. „Die dringlichste Gefahr“, warnte ein Bericht des US-Senats 2001, sei, „dass waffenfähiges Material in Russland gestohlen und an feindliche Terroristen oder Staaten verkauft wird“. Zwar wurde ein Fonds mit 20 Milliarden Dollar eingerichtet, um russische Waffenmaterialien und -geheimnisse zu sichern. Die USA kauften Moskau angereichertes Uran um gutes Geld ab und lagerten es in Oak Ridge im Bundesstaat Tennessee, außerdem finanzierten sie Forschungen russischer Wissenschafter – nur um zu verhindern, dass sie sich, bei Monatsgehältern von 200 Euro, anderswo verdingen.

Doch bei insgesamt 30.000 russischen Nuklearwaffen und 70.000 Vorprodukten an rund 100 Orten ist es schwer, den Überblick zu behalten. Alexander Lebed erzählte gern, wie er in seiner Zeit als Sicherheitsberater von Boris Jelzin die zu Sowjetzeiten hergestellten „Koffer-Bomben“ zählen habe lassen, von denen etwa 100 nicht mehr gefunden werden konnten.

Experten halten es für unwahrscheinlich, dass eine fertige Atombombe ihren Weg außer Landes gefunden hat. Sicher ist jedoch, dass spaltbares Material geschmuggelt wird – laut IAEA zwischen 1991 und 2001 in zumindest 18 Fällen. 1998 deckte der russische Geheimdienst eine Verschwörung in der Nuklearanlage von Tscheliabinsk auf: 18,5 Kilogramm angereichertes Uran sollten dort gestohlen werden, mehr als genug für eine Bombe – der Plan wurde im letzten Moment vereitelt.

Es ist nicht so einfach, aus angereichertem Uran einen Sprengsatz zu machen (siehe Seite 63). Doch es gibt das Angebot, und es gibt die Nachfrage.

Der Mann, der den USA in diesem Zusammenhang lange Zeit am meisten Sorgen machte, sitzt derzeit in seiner Villa in Islamabad unter Hausarrest: Abdul Qadir Khan, der „Vater“ der pakistanischen Bombe, der einstige Nationalheld, dessen weit verzweigtes Schmuggelimperium erst im vergangenen Jahr ans Licht kam. Vernommen werden darf der Mann von den Amerikanern nicht, er steht immer noch unter dem Schutz der pakistanischen Regierung. Doch das Netzwerk seiner Aktivitäten, wie es das US-Nachrichtenmagazin „Time“ nachzeichnet, lässt vermuten, dass er bei sämtlichen Atomkrisen der vergangenen Jahre seine Finger im Spiel hatte. Baupläne, Zentrifugen, Produktionsanleitungen für nukleare Waffen – alles konnte man bei Khan kaufen.

Muammar Gaddafi orderte um 100 Millionen Dollar das komplette Programm, das in Teilen auch schon geliefert war, bevor es aufflog. Nordkorea soll einen Großteil seines Nuklearmaterials von Khan bezogen haben. Nach Teheran gab es ebenso Kontakte wie nach Saudi-Arabien.

Über Khans Motive weiß man wenig. Was ihn antrieb, war offenbar nicht bloß Geldgier, sondern auch der Drang, den Islam zu befördern. Ob auf diesem Weg auch Massenvernichtungswaffen in die Hände islamistischer Terrorgruppen gelangt sind, weiß niemand. IAEA-Chef El Baradei kann es „nicht ausschließen“.

Bekannt ist, dass Osama Bin Laden seiner al-Qa’ida einst in Afghanistan den Auftrag erteilte, Massenvernichtungswaffen zu besorgen: Er werde „Gott dafür danken“, wenn es ihm gelänge, die „Atomwaffe des Islam“ zu besitzen, denn es sei „die Pflicht der Muslime, so viel Macht wie möglich zu erlangen, um die Feinde Gottes zu terrorisieren“.

Bekannt ist, dass Teile des pakistanischen Geheimdienstes enge Verbindungen zur al-Qa’ida unterhielten. Unwahrscheinlich ist, dass Terroristen über die industrielle Infrastruktur verfügen, um aus spaltbarem Material mehr herzustellen als allenfalls eine „schmutzige Bombe“ (siehe S. 64).
Der Rest ist Spekulation.

V. Ein Tabu wird gebrochen
„Was in Gottes Namen ist strategische Überlegenheit? Was hat sie zu bedeuten – bei dieser Zahl von Waffen? Was kann man damit anfangen?“ Der Politiker, der diese rhetorischen Fragen bei einer Pressekonferenz nach dem Moskauer Gipfel 1974 ausrief, heißt Henry Kissinger, war US-Außenminister und konnte sie sehr gut selbst beantworten: nichts.

Viel Geld, viel Intelligenz und Kreativität flossen jahrzehntelang in die nukleare Aufrüstung, wobei längst klar war, dass ihre Daseinsberechtigung darin bestand, niemals gebraucht werden zu müssen. Doch selbst Kissinger, der weit blickende alte Hase der Weltpolitik, vergaß die ewige Weisheit: Sag niemals nie.

Unter dem harmlosen Titel „Überarbeitung der amerikanischen Nuklearstrategie“ begann in den USA im Dezember 2001 die Arbeit an einer neuen Generation von Atombomben, offiziell „small build“, inoffiziell liebevoll „Mini-Nukes“ genannt. Dabei handelt es sich um kleine, mit atomaren Sprengköpfen bestückte taktische Raketen, die Bunker tief unter der Erdoberfläche erreichen, dort explodieren und etwaige Waffenarsenale zerstören können. In den Augen von US-Präsident George W. Bush ein unerhörtes Versprechen: Nuklearwaffen für klar umrissene Zwecke, beherrschbar in der Wirkung, begrenzt in der Anwendung, argumentierbar in der Öffentlichkeit.

In einem Bericht des Unterausschusses für nationale Sicherheit des Repräsentantenhauses vom Februar 2003 heißt es: „Dem Präsidenten sollten verschiedene Optionen offen stehen – die Möglichkeit konventioneller Mittel, konventioneller Präzisionswaffen und von Nuklearwaffen, die in der Lage sind, alle Ziele zu bedrohen.“ Der Kongress hat bereits finanzielle Mittel für die Entwicklung solcher neuartiger Nuklearwaffen zugesagt.

Das würde eine neue Form der Kriegsführung erlauben. Ein potenzielles Anwendungsgebiet könnten die in den Bergen verborgenen Produktionsstätten sein, in denen Nordkorea an seinen Atomwaffen tüftelt.

Selbst in den USA herrscht noch kein Konsens in der Frage, ob das Tabu gebrochen und die Atomwaffe ihre Renaissance erleben darf. Der frühere Präsidentschaftskandidat der Demokraten, Al Gore, hielte das für „völligen Wahnsinn“. Doch beim einstigen Gegner im Kalten Krieg, in Moskau, hängt man offenbar bereits ähnlichen Gedanken nach: Auf der Sicherheitskonferenz in München protzte Russlands Verteidigungsminister Sergej Iwanow jüngst, sein Land werde bald „eine einzigartige neue Generation von Nuklearwaffen besitzen, die es in keinem Staat der Welt“ gebe. Diese neuen Waffen würden „auf kein bestimmtes Land gerichtet sein“, sondern „uns erlauben, unsere Sicherheit und Souveränität zu garantieren und zwar gegen jegliche Bedrohung, absolut jede Bedrohung, die existiert oder in der Zukunft auftreten könnte“.

Da ist er wieder, der Katla-Drache, riesig und einzigartig in seiner universellen Bedrohlichkeit. Etwas entzaubert bloß durch Aussagen wie die des Raketenexperten Robert Bykow, der meinte, es könne sich bei der Geheimwaffe eigentlich nur um einen Prototyp handeln, „der schon vor einer Weile entwickelt worden ist. Seit die Sowjetunion zusammengebrochen ist, hat Russland keine neuen strategischen Raketensysteme auf der Grundlage völlig neuer Entwicklungen zustande gebracht.“

Es gibt Zweifel an der Sinnhaftigkeit der modernen Atomprogramme – ebenso wie es Zweifel gibt, ob der nordkoreanische Diktator Kim Jong Il mit seinen martialischen Gesten nicht bloß blufft. Der Weltöffentlichkeit präsentiert sich ein verwirrendes Puzzle aus Mutmaßungen, Übertreibungen, Heimlichtuerei und Lügen. Doch die Zweifel können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wunsch nach der Wunderwaffe, nach ihrer Weiterentwicklung, Perfektionierung und vielleicht sogar Anwendung, allgegenwärtig und greifbar geworden ist – und sich in den ganz normalen Diskurs unter den Mächtigen der Welt eingeschlichen hat.

Mit einem Anflug von Verzweiflung mahnt Mohammed El Baradei, der Wachhund vor der atomaren Höhle: Es sei das „falsche Signal“ der Großen an die Kleinen, würde die Atombombe wieder als ganz normale Waffe unter vielen legitimiert.

Der Drache ist noch nicht los, aber es ist sicher, dass er existiert. Seit Hiroshima weiß man, was er anrichten kann. Aber seit das 21. Jahrhundert angebrochen ist, weiß keiner mehr genau, in welcher Höhle er eigentlich sitzt.