Weltschmerz, Schulversagen & Isolation

Weltschmerz, Schulversagen & Isolation: Die Zeit, wenn Teenager zu Aliens werden

Die Zeit, wenn Teenager zu Aliens werden

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Dir gefällt gar nichts, was passiert.‘ ‚Doch, doch … Klar gefällt mir manches. Warum sagst’n das?‘ ‚Weil’s so ist …‘ Mann, wie sie mich deprimierte.“ Ein kurzer Abriss über den Zustand der berühmtesten Weltschmerzikone der Literaturgeschichte Holden Caulfield, Held aus J. D. Salingers „Fänger im Roggen“ aus dem Jahr 1951. Fast 50 Jahre danach hat sich wenig geändert: „Mich nervt einfach nur alles“, seufzt Icherzähler Benjamin Lebert in seinem Pubertätsroman „Crazy“ 1999.

Null Bock auf alles, Schulversagen, Weltschmerz, Stimmungsschwankungen, verbaler Schlagabtausch zu Hause: Die Pubertät, die bei Mädchen heute durchschnittlich mit 12,4 Jahren, bei Buben zwei Jahre später einsetzt, wird zum Härtetest für Eltern wie Jugendliche. Besonders rund um den Schulschluss wird die familiäre Idylle oftmals zum Pulverfass. Auch heuer wird für rund 41.000 Schüler das Schuljahr mit dem deprimierenden Beigeschmack einer Nachprüfung im Herbst enden. Knapp vier Prozent aller österreichischen Schüler bleiben laut Statistik Austria jährlich sitzen. Den höchsten Prozentsatz an Nichtaufstiegsberechtigten weist die neunte Schulstufe auf – in den fünften Klassen der AHS bleiben 12,5 Prozent der Schüler sitzen. Mit dem Ende der pubertären Phase sinkt der Anteil der Wiederholungstäter beträchtlich, in der Maturaklasse scheitern nur mehr fünf Prozent. Kein Wunder, denn in der Zeit davor sind Jugendliche vorrangig mit den Veränderungen ihres Körpers und ihrer Psyche beschäftigt. Dass das traditionelle Schulsystem diesen – für die Betroffenen äußerst anstrengenden – Entwicklungsschub unbeachtet lässt, empfindet der Psychoanalytiker Helmuth Figdor als eklatantes pädagogisches Versäumnis.

Die für die Eltern oft als rasant empfundene Verwandlung vom liebenswerten, lenkbaren Kind zu einem widerborstigen, stets provokationsbereiten Teenager, der zunehmend fremd wird, erklärte die Wissenschaft über Jahre mit den mit Donnergetöse einziehenden Hormonen. Erst vor Kurzem gelang es Neurologen am National Institute of Mental Health in Washington Einblicke in Teenagerhirne zu gewinnen. Mit dem Erkenntnisresultat, dass, so der Studienleiter und Kinderpsychiater Jay Gieed, „sich das Hirn in dieser Zeit weitaus dynamischer entwickelt als bisher angenommen“. In dieser Lebensphase sollte man sich den pubertären Denkapparat wie eine betriebsame Baustelle vorstellen, auf der ständig Gerüste errichtet, neue Verbindungen gelegt und alte abgerissen werden. Auf die gebrüllte Frage der Eltern „Hast du mich endlich verstanden?“ müss­te ein Teenager wahrheitsgemäß antworten: „Nein, ich denke nämlich anders als ihr.“ Denn das Präfrontalhirn, verantwortlich für Arbeitsbereiche wie Zeitempfinden, Orientierung, Entscheidungen und Empathie, funktioniert in dieser Periode nur wesentlich verlangsamt und reduziert.

Doch dieser Erkenntnisstand wird im täglichen Frontgefecht mit all den angegriffenen Nerven irrelevant. „Eltern, die ihre Kinder durch die Pubertät begleiten“, so der fünffache Vater, ehemalige Familien- und aktuelle Wirtschaftsminister Martin Bartenstein, „brauchen mitunter mehr Sozialkompetenz als Führungskräfte.“ Es geht vor allem um die heikle Gratwanderung, Freiräume zuzulassen, ohne die emotionale Präsenz aufzugeben. Drakonisches Sanktionieren zielt ebenso sehr ins Leere wie ein vor Verständnis triefender Kuschelkurs. Das Erziehungsrelikt der 68er-Generation, den eigenen Kindern auf Kumpelstatus begegnen zu wollen, ist genauso daneben wie eine Kommunikationsstrategie, die auf ständiger Torpedierung durch Vorwürfe basiert. „Wie Kinder brauchen auch Jugendliche eine Leine, mit wechselnder Spannkraft und Länge, aber eine Leine“, so die Gesundheitsbeauftragte der Stadt Wien, Beate Wimmer-Puchinger. Das Gefühl von Resignation und Verzweiflung befällt Eltern Pubertierender vor allem im Zusammenhang mit dem Krisengebiet Schule. „Eltern sollten lernen, ihre damit verbundenen Schmerzen zu artikulieren“, so die Pubertätsforscherinnen Cheryl Benard und Edit Schlaffer, „harter Druck geht ins Leere.“

Verunsicherung. Das Marktvolumen für Nachhilfe in Österreich beziffert eine aktuelle Studie der Arbeiterkammer auf rund 140 Millionen Euro jährlich – doppelt so viel wie noch vor zehn Jahren. Neben der Abgehobenheit des Lehrstoffs, „die nahezu schandhafte Vernachlässigung der psychologischen Ausbildung des Lehrpersonals“, so der ehemalige Wiener Stadtschulrat Kurt Scholz, spielt die wachsende Zukunftsverunsicherung unter Jugendlichen eine unterschätzte Rolle. In einer Umfrage zum Thema Zukunftsängste (siehe Grafik Seite 97) gaben 59,2 Prozent der Befragten an, sich am meisten davor zu fürchten, „dass ich einmal keine Arbeit finden oder arbeitslos werden könnte“. Psychoanalytiker Helmuth Figdor unterscheidet bei schulischen Problem-Teenies zwischen „denen, die die Schule als vollkommen irrelevant betrachten“, und jenen, „die sie zwar als lästig empfinden, aber denen sie doch wichtig ist“. Für Vertreter der ersten Kategorie sollte man sich „um Alternativen wie eine Lehre bemühen“. Denn es gelte der Kerngedanke: „Man kann Jugendliche zu nichts zwingen. Wenn sie etwas wirklich nicht wollen, strafen sie es mit Scheitern.“

Ist der Fernseher in den Generationen davor zum pädagogischen Antichrist stilisiert worden, hat diese Rolle der Computer übernommen. Der klassische TV-Konsum unterliegt im Freizeitverhalten heutiger Teenies schwindender Bedeutung. Die Kommunikation mit Freunden findet längst zunehmend über soziale Netzwerkseiten wie Facebook und Chatdienste wie MSN Messenger statt. Was das Sozialverhalten entsprechend beeinflusst: Nie konnte man so schnell und leicht Freunde gewinnen, denen man in der Realität nie begegnen muss. An den New Yorker Universitäten existieren inzwischen bereits Kursangebote mit dem Titel „Facebook in Flesh“, wo Studenten die direkte Kontaktaufnahme von Angesicht zu Angesicht erst einmal wieder üben müssen. Eine Reglementierung, was die Benutzung des Computers betrifft, sollte sehr früh stattfinden. Verpasst man den Zeitpunkt, „stellt sich ohne Computer beim Kind eine gähnende Leere ein, aus der es sich nicht mehr selbst hinausmanövrieren kann“, so Helmuth Figdor. Dann wäre professionelle Hilfe notwendig. Eineinhalb Stunden online sind – wie beim TV-Konsum für kleinere Kinder – ein vernünftiger täglicher Mittelwert.

Online-Sucht. Das Kippen in die Online-Sucht verläuft schleichend. Erkennungsmerkmal ist das drastische Abnehmen sämtlicher anderer Freizeitaktivitäten. Die Suchtspezialistin und Psychiaterin Gabriele Fischer rät dazu, „den Computer zentral im Wohnbereich zu positionieren und das Kind dort ‚World of Warcraft‘ spielen zu lassen“. Stundenlange Isolation im eigenen Zimmer wirkt sich massiv auf die soziale Kompetenz aus, die gefährliche Nebenwirkung wäre „Binge-Eating“, das wahllose Hineinstopfen von Snacks, was das eskalierende Übergewicht von Jugendlichen mit erklärt. Vor allem die Knaben haben Probleme, ihre Spielleidenschaft in Grenzen zu halten. Etwa zehn Prozent der Kinder an Deutschlands Schulen gelten als gefährdet. In Korea existieren bereits Hilfsprogramme der Regierung in Form einer Jump Up Internet Rescue School, wo nach tagelangem Spielen am PC zusammengebrochene Teenies langsam wieder in die Realität zurückgeführt werden. Das Internet beeinflusst aber auch indirekt das Selbstwertgefühl und Sexualverhalten der Teenager. Durch die ständige Konfrontation mit einer digital idealisierten Bilderwelt empfinden vor allem Mädchen ihr Äußeres zunehmend als unzulänglich. „Diese Internet-bedingte Pornografisierung macht uns große Sorgen“, so die Gesundheitsbeauftragte ­Beate Wimmer-Puchinger, „vor allem die im Netz widernatürliche Darstellung der weiblichen Genitalien löst eine tiefe Verunsicherung aus.“ Mit der beklemmenden Konsequenz, dass eine steigende Anzahl von Mädchen sich ihre Schamlippen und Vagina in „Richtung Jungfräulichkeit“ umoperieren lassen wollen, weil sie nicht mit der Internet-Ästhetik übereinstimmen. Die Angebotslage im Netz bezüglich dieser Eingriffe boomt gefährlich. Aufklärungs-Workshops in den Schulen, die den gesellschaftlichen Entwicklungen der massiven Realitätsverfälschung angepasst werden, fände Wimmer-Puchinger dringend notwendig: „Daran arbeiten wir gerade sehr heftig. In diesen neuen Aufklärungsprogrammen gibt es keine Tabus. Da wird auch offen über Dinge wie Analverkehr, eine neuerdings zunehmende Sexualpraktik unter Jugendlichen, geredet.“

Als unterversorgt in ihrer sexuellen Aufklärung gelten die Buben. Was durch die Scheidungsrate, die wachsende Zahl von Alleinerzieherinnen und das oftmalige Fehle von männlichen Bezugspersonen zu erklären ist: „Mütter reden mit ihren Töchtern. Die Söhne bleiben da oft über. Da besteht ein großer Aufholbedarf.“ Trotz der medialen Übersexualisierung hält sich das Durchschnittsalter für das erste Mal bei knapp über 15 Jahren, wobei sich der Altersschnitt von Buben und Mädchen zunehmend annähert. Während in den Jugendumfragen der vergangenen Jahre eine Beziehung als wichtigste Voraussetzung für den ersten Geschlechtsverkehr angeführt wurde, macht sich in den aktuellen Studien eine wachsende Trennung zwischen Gefühlen und Sexualität bemerkbar. „‚Ich will mit Victoria von den Spice Girls ficken‘, sagt Janosch. Er deutet mit den Fingern auf ein Foto der Popband im ‚Playboy‘, ‚die hat tolle Brüste‘.“ Auszug aus „Crazy“, Benjamin Leberts Pubertätsroman, der symptomatisch für das Sexualverhalten der Teenies ist. Der Tendenz zum Sex ohne Emotionen sollte man entgegenwirken. Durch Gespräche und durch die Integration der Partner der Jugendlichen in die Familie.

„Besser die Kids schlafen mit ihren Sexualpartnern unter dem Dach der Eltern als irgendwo“, so Wimmer-Puchinger. Wenn keine Grenzen gesetzt werden, suchen sie sich Pubertierende. Das gilt besonders für den Drogenkonsum. Seit einem Jahr geistert das Schreckgespenst „Komatrinken“ durch die Medien. Statistiken zeigen, dass Alkohol tatsächlich die am weites­ten verbreitete Droge ist: Mehr als 90 Prozent der 15- bis 16-Jährigen sind in den letzten zwölf Monaten mit Alkohol in Berührung gekommen. Andererseits kommt es pro Jahr nur zu rund 1400 alkoholbedingten Spitalseinlieferungen von Jugendlichen in Österreich; das entspricht 0,15 Prozent der Zehn- bis 19-Jährigen – ein Wert, der seit Jahren konstant bleibt. Gabriele Fischer, Leiterin der Drogenambulanz des AKH Wien, ortet dennoch eine markante Entwicklung: „Man fängt im Schnitt zwei Jahre früher, also mit 13 oder 14 Jahren, an, Alkohol zu konsumieren; außerdem haben die Mädchen beträchtlich aufgeholt. “ Wenn das eigene Kind als Folge eines einmaligen Alkoholexzesses im Krankenhaus aufwacht, sind Sorgen zwar durchaus angebracht. Doch die unmittelbare Gefahr, dass sich daraus eine Abhängigkeit entwickelt, besteht nicht. Fischer: „Normalerweise reicht der Schockeffekt, damit man in Zukunft vorsichtiger ist. Ein einmaliger Vollrausch ist noch kein Indikator für Alkoholsucht; von einem Problem kann man erst bei wiederholten Vorfällen oder dem kombinierten Konsum mit anderen Drogen sprechen.“ Laut einer Statistik der europäischen Forschungsinitiative ESPAD haben 21 Prozent der 15- bis 16-jährigen Österreicher bereits Erfahrungen mit Cannabis gemacht. Ansonsten zählen zu den aktuellen Modedrogen primär „Aufputscher, also Amphetamine. Dazu gehört auch Ritalin, das eigentlich gegen Aufmerksamkeitsstörungen verschrieben wird.“ Diese helfen bei Leistungsdruck und sind laut Fischer „vor allem bei jungen Mädchen beliebt, da sie den Appetit zügeln“. Die Fertigkeit des Gratwanderns der Eltern ist auch hier gefragt. Zu heftiges, offensives Vorgehen treibe die Teenies in die Isolation; klare, mit Konsequenz betriebene Grenzen müssen jedoch auch hier gezogen werden.

Das Expertenfazit: Die Pubertät wäre jene Phase, in der Kids die Eltern so dringend wie sonst nur im Kleinkindstatus brauchen. Die schlechte Nachricht: Sie sind niemals so nicht in der Lage, diese Message ankommen zu lassen.

Von Laura Bronner und Angelika Hager. Mitarbeit: Sebastian Hofer