In den letzten Tagen der Menschheit

Weltuntergang: in den letzten Tagen der Menschheit

Weltuntergang. Reportage aus Mexiko, Partyzentrale "Mayageddons"

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Von Stefan Apfl

Es begibt sich an einem der letzten Tage der Menschheit, dass tief im Inneren des südmexikanischen Dschungels ein junger Mann, den sie Happy nennen, schreiend aus einem Fluss steigt.
Über einem der Wasserfälle meditiert ein sehniger Mann in Kranichstellung. Zu seinen Füßen bespritzen drei junge Frauen einander mit Wasser, während jemand kreischend an einem Seil über dem Fluss schwingt. Ein Glockenspiel, eine Flöte und ein vielstimmiges Summen dringen aus dem nahe gelegenen Palmenhain herüber.
Happy trägt schwarzes, halblanges Haar, einen dünnen Bart und sonst nichts am Leib, so wie alle, die sich hier waschen oder einfach plantschen. Allmählich wird das Schreien des Nackten zu einem Singen, sein Schütteln zu einem Tanzen. Jemand reicht Happy einen Joint, ein anderer umarmt ihn, ein Dritter gibt ihm ein Banjo. Man nennt das hier, beim „Global Rainbow Gathering“, dem weltweiten Regenbogentreffen, den „flow“ und einander Bruder und Schwester.
Nach wenigen Minuten haben sich ein Saxofonist aus Frankreich, ein Trommler aus Argentinien und ein Gitarrist aus den USA Happy angeschlossen. Mehr und mehr Geschwister strömen zur Musik. Am Ende spielen sie vor einer halben Hundertschaft Menschen, die mittanzen und mitsingen: „Every single cell in my body is happy“, singen sie. „Every single cell in my body is well.“

Der Countdown läuft
Es ist der 10. Dezember 2012 im Garten Eden, und der Countdown läuft. Zehn Tage sind es noch bis zum „Mayaged­don“, also jenem Tag, an dem der Kalender der Maya endet. Hier, im tropischen Süden Mexikos, gelangte die indigene Hochkultur vor 1200 Jahren zur Blüte. Dieser Tage entwickelt die Region eine recht eigentümliche Art von Magnetismus, der Spiritualisten und Partykids, Maya-inclusive-Urlauber und Teilzeit-Aussteiger gleichermaßen anzieht.
Wer sich umtut auf der Halbinsel Yucatan, wer sich in entlegene Maya-Dörfer begibt, eine der zahlreichen Weltuntergangspartys besucht oder eine Weile im Garten Eden zubringt, dem stellt sich die Frage, was nach dem Countdown tat­sächlich kommt. Der Weltuntergang? Oder bloß der große Kater?
„Der Weltaufgang. Wir werden einen neuen Weltaufgang erleben“, sagt Echo, der Gitarrist, der vorhin mit Happy musiziert hat, und holt zu einer Umarmung aus. „Wir haben großes Glück, das erleben zu dürfen, Bruder.“
Es ist Abend geworden im Hippie-Paradies. 400, vielleicht 600 Regenbogenkrieger, wie sie sich selbst bezeichnen, stehen in zwei Kreisen um ein Lagerfeuer, das „heilige Feuer“. Die meisten tragen bunte, wallende Gewänder, viele tragen bloß Rock oder Schurz, manche gar nichts. Sie halten einander an den Händen und brummen ein vielstimmiges, vibrierendes „Om“ in die sternenklare Nacht.

Als die Massenmeditation endet und Freiwillige das Abendessen – vegan, ohne Salz und Zucker zubereitet – in dampfenden Industrietöpfen zwischen die Kreise tragen, klatschen und gellen und tanzen sie. Sie geben Umarmungen und Küsse im Kreis weiter, während die ansässigen Affen, um ihr Revier besorgt, aus dem Dschungel herüberbrüllen.
„Du kannst es Aquarius nennen oder die fünfte Dimension, die neue Welt oder das Reich der Liebe. Es macht keinen Unterschied“, sagt Echo mit weicher Stimme und tiefem Blick. „Liebe ist die Antwort. Diese Botschaft wird sich von hier aus, vom spirituellen Zentrum der Welt, verbreiten.“ Echo ähnelt dem jungen Jerry Garcia, und tatsächlich ziert das Konterfei der Grateful-Dead-Legende seinen Gitarrenkoffer. Daraus holt er eine abgegriffene Visitenkarte – „Advocate of change“ steht darauf: Anwalt des Wandels.

Die universelle Liebe
Wie die meisten hier ist Echo interessiert und gebildet, talentiert und polyglott, rebellisch und verkatert. Er misstraut Gott und seinen Eltern, den Medien und dem Staat, egal welchem. Woran der 28-jährige Echo, der in eine jüdische Mittelschichtfamilie aus Chicago geboren wurde, glaubt, das ist die Liebe. Das ist auch der kleinste gemeinsame Nenner der Straßenkinder aus Los Angeles, der Bankerstochter aus der Schweiz und des Arbeitersohns aus Russland: die universelle Liebe. Es sind, wenn man so will, die Hippies des 21. Jahrhunderts, also Hippies mit iPhone und Facebook-Profil. Ihre Insignien sind Dreadlocks und Tattoos, bunte Gewänder und Geschicklichkeitsspielzeuge wie Feuerstäbe oder Hula-Hoop-Reifen.
Bei Treffen wie diesen leben sie ihre Utopie: hierarchiefreie, autarke Gemeinschaften, in denen nicht bezahlt, sondern getauscht wird. Alkohol ist verboten, Graspfeifen sind willkommen, und der Preis für zehn Liter Wasser liegt bei einem LSD-Trip. Jeder hier hat eine andere Meinung zum 21. Dezember und irgendwie doch die gleiche: dass danach alles gut wird, endlich.
Das jährliche „Global Rainbow Gathering“ findet heuer nicht zufällig ausgerechnet hier statt. Die weltbekannten Dschungelruinen von Palenque liegen eine halbe Autostunde entfernt. Dort zelebrierten die Maya das Ballspiel Pelote, dessen Sieger die Ehre zuteil wurde, im Namen der Götter enthauptet zu werden. Und tatsächlich wohnt dem Ort ein gewisser Zauber inne, dem weder aufdringliche Kleinodverkäufer noch japanische Knipsregimenter etwas anhaben können.
Die paradiesischen Strände, die herzlichen Menschen und die niedrigen Preise: In den 1960er-Jahren wurde Mexiko für die Blumenbewegung zu einem Sehnsuchtsort. Angesichts von „Mayageddon“ erlebt die Region eine Renaissance unter den Bunten.
Der Tabak ist billig hier und das Marihuana noch billiger. Besonders beliebt sind Peyote, Meskalin und Ayahuasca, allesamt psychedelische Substanzen indigenen Ursprungs, deren Konsum spirituell aufgeladen und so zum Massenphänomen unter Touristen wird. Ist ja bald Weltuntergang.
„Der Weltuntergang liegt bereits seit einigen Jahren in der Luft. In der spirituellen Szene wird das Datum deshalb dankbar aufgegriffen“, sagt German Müller, Leiter der Bundesstelle für Sektenfragen. „Das Motto lautet: ‚So kann es nicht weitergehen‘“, sagt Müller und meint damit Finanz- und Demokratiekrise, Terroranschläge und Amokläufe, Klima- und Atomkatastrophen.

Von Stromausfall bis Polsprung
Das Internet wirkt dabei als Brandbeschleuniger, nach dem Motto: Wenn es 80.000 Webseiten über den 21.12.2012 gibt, dann muss doch etwas dran sein. Blockbuster wie „2012“ von Roland Emmerich wiederum verpacken die Botschaft vom nahenden Ende popkulturgerecht.
Dieser global gezählte Countdown der Angstlust ist nicht das erste Phänomen dieser Art im Internetzeitalter. Pünktlich zur Jahrtausendwende ging die Panik um, Computer würden sich wegen der Umstellung von 1(999) auf 2(000) einfach selbst abschalten. Im Facebook-Zeitalter ist es hingegen das erste Ereignis dieser Art und Größe.
Die Thesen zum 21.12. reichen über monatelange Stromausfälle und Kometenhagel bis hin zu einem Polsprung. Szenebeobachter Müller kennt Fälle von Menschen, die 5000 Euro in eine autarke Stromversorgung investieren, ihre Ersparnisse für eine Berghütte in Tirol ausgeben oder gleich in Gold veranlagen.

Weltuntergangspropheten, die in alttestamentarischem Gestus vom Ende der Zeit künden, sind im Internet jedoch ebenso selten zu finden wie hier in Yucatan. Eher sind es Frohbotschaften, mit denen New-Age-Gurus ihre Jünger locken, sagt German Müller: „Der Effekt bei den ‚Auserwählten‘ oder ‚Sehenden‘ ist simpel: mehr Engagement, mehr Mission, mehr Investition. Was die Maya wirklich vorausgesagt haben, das interessiert die wenigsten.“
Was haben sie denn vorausgesagt? Und was sagen ihre Nachfahren heute dazu? „Was passiert im gregorianischen Kalender zwischen dem 31. Dezember und dem 1. Jänner?“, fragt der Maya-Forscher Ramon Santiz Mendez, während er die Besucher durch das andalusisch anmutende Forschungszentrum Na Bolom in San Cristobal de las Casas führt. „Das alte Jahr endet und ein neues beginnt. Das wird auch im ­Maya-Kalender passieren. Sonst nichts“, sagt er.
Die schmucke, bunte 150.000-Einwohner-Stadt San Cristobal, Zentrum der Zapatista-Bewegung, liegt fünf Autostunden westlich von Palenque auf 2000 Meter Seehöhe. Tagsüber droht der Sonnenbrand, und nachts, wenn der Geruch von Zimt und Zucker durch die Straßen weht, die Indigene anzünden, um die Energie zu reinigen, droht die Erkältung.
Santiz Mendez, 36, ist selbst Maya. Als Kind hat sein Großvater ihn mit in die heiligen Höhlen genommen, um den Göttern zu huldigen. Spanisch hat er erst in der Schule gelernt. Seine Muttersprache ist Tseltal, einer von zwölf Maya-Dialekten in der Region. Mit den abrupten Pausen und harten Betonungen hört es sich an, als würde er rückwärts sprechen. „Wie die Maya heute leben?“, wiederholt Santiz Mendez die Frage. „Kommen Sie mit mir.“

Das Dorf Tenajapa, in dem er geboren wurde, liegt eine Autostunde von San Cristobal entfernt. Die Straße führt über sanfte, sattgrüne Hügel. Die Wipfel verschwinden mitunter in vorüberziehenden Wolkengirlanden, so nahe ist der Himmel. Es sind malerische Eindrücke, konterkariert von Bildern der Armut: Wellblechverschläge und Kinder, die, anstatt in die Schule zu gehen, Mandarinen verkaufen.
Zu der zentralamerikanischen Realromantik gehört auch, dass die Straße mancherorts den steil abfallenden Hang hin­untergerutscht ist. Die Fahrt führt vorbei an kleinen Opferaltaren, an Schafen, die auf Friedhöfen weiden, und an vielen, vielen Kreuzen. „Die Maya sind tiefreligiös“, sagt Santiz Mendez. „Sie praktizieren eine Mischung aus Katholizismus und der kosmischen Vision der Maya, wonach alles Leben eins ist.“
Bei der Ankunft kurz vor Sonnenuntergang wölbt sich der Himmel Barbie-rosa und Ken-blau über dem Hauptplatz von Tenajapa. Touristen, das merkt man schnell an den neugierigen Blicken der Männer und am Kichern der Frauen, gehören hier nicht zum Alltag.

Direkt am Hauptplatz thront die Kirche San Ildefonso. Fassade wie Interieur unterscheiden sich nur unmerklich von Gotteshäusern, wie sie sich etwa in Spanien finden lassen. Auch hier stehen Ikonografien der Jungfrau, auch hier wird Weihrauch entzündet, auch hier kratzt ein Halbwüchsiger schüchtern an einer Geige. Nur ist die Jungfrau in indigene Kleidung gehüllt, am Kirchenboden kriechen spielende Kinder umher, und die Messen werden in der Maya-Sprache Tsel­tal gehalten.
In der Kirche zu fotografieren ist ausgeschlossen, auf den Straßen ist es unerwünscht. Die Maya glauben, dass Fotoapparate die Seele stehlen. Zumindest die Alten glauben das. Einige Teenager lassen sich auf Nachfrage dann aber doch ablichten. Auf die Frage, was passieren wird am 21. Dezember, reagieren sie alle gleich in den Straßen von Tenajapa: halb belustigt, halb genervt. „Nichts“, lautet die gängige Antwort, von einem Schulterzucken begleitet.
Das öffentliche Leben mit seinen Handygeschäften, seinen Videotheken und seinem Basketballplatz sieht nicht anders aus als sonstwo in Südmexiko, vielleicht ein wenig ärmer. Die Nachfahren der Maya leben ökonomisch und sozial am Rand der Gesellschaft, was im Süden des Landes nur deshalb nicht so augenfällig ist, weil sie hier die Mehrheit stellen. „Das Verhältnis zwischen Indigenen und Nicht-Indigenen ist in Mexiko von gegenseitigem Respekt geprägt“, sagt Santiz Mendez, „von Respekt und Distanz.“
Ob auch seine Kinder Tseltal sprechen? „Nein“, sagt er nach einer kurzen Pause. Die Frage ist ihm sichtlich unangenehm. Später wird er sagen, dass die Kultur langsam ausstirbt, dass die Alten es immer weniger vermögen, sie weiterzugeben, und die Jungen sich immer weniger dafür interessieren – und dabei wird er zerknirscht wirken, als trage er Mitschuld daran.
„Wenn sie eine Botschaft mitnehmen in ihr Land“, sagt Santiz Mendez beim Abschied, „dann jene: Die Maya leben. Es ist keine tote Kultur. Die Menschen kommen in unser Land, um die Pyramiden zu sehen. Für die Maya haben sie gar keine Augen.“

"Vergiss die verdammte Realität"
Die Maya. Für die Touristen sind das meist jene Menschen, die auf dem Weg zu einem Tempel Holzschnitzereien und Früchte feilbieten, die zur Gaudi Betrunkener vor Plastikbestuhlung ihre traditionellen Tänze aufführen und deren Kinder danach in Lumpen gekleidet um Geld betteln.
Für „George from the Jungle“ sind die Maya die perfekte Ausrede für ein Leben in Saus und Braus. „Was würdest du tun, wenn du noch drei Tage zu leben hättest?“, fragt George, der eigentlich Marc heißt, und wartet eine Antwort gar nicht ab. „Ich würde mit Freunden an einen Traumstrand ziehen und mir Drogen und Frauen besorgen“, sagt er und lacht sein tiefes, selbstgewisses George-from-the-Jungle-Lachen: „Willkommen in meinem Paradies.“

Es ist Nachmittag und brütend heiß am Strand von Tulum, das zwölf Fahrstunden südöstlich von Palenque liegt. 500 Meter weiter thronen die Maya-Tempel von Tulum über der mexikanischen Karibikküste. Neben dem weißen Sand, den wehenden Palmen und dem türkisen Meer sehen sie aus wie fantastische Ritterburgen.
George steckt seine Zehen in den Sand und trinkt seine etwas zu stark geratene Pina Colada. Er trägt langes blondes Haar, eine gespiegelte Sonnenbrille und niemals Shirts. So erinnert der 32-Jährige an einen jungen Crocodile Dundee, der anstatt Krokodilen im Busch Momente in der Karibik jagt.
„Vergiss die verdammte Realität“, sagt George, der das Wort „fuck“ gern mag. „Das ist verdammt noch einmal genau, was wir tun. Egal, ob Hippies oder Yuppies oder verdammte Pensionisten. Hier kommen alle zusammen, die sich gehen lassen wollen.“
So sehen das Tausende Partykids, Lebenskünstler und Teilzeitaussteiger, die sich bei Sonnenuntergang aus ihren Hängematten schälen, um sich von Feier zu Feier zu koksen. Am 21. Dezember wird die Welt ihren Untergang feiern, und Yucatan ist die Partyzentrale.
Kurz vor und, ja, auch nach dem Tag X wird es in der Region ein Dutzend Großveranstaltungen geben. Beim „Time and Space“-Festival nahe Tulum etwa werden mehrere ­hundert DJs auf drei Bühnen drei Tage lang ihre Laptops ­be­arbeiten. Im 50 Kilometer entfernten Playa del Carmen wird Neujahr von Superstar David Guetta eingeläutet.
Und entlang des Strands wird ohnehin seit Wochen jede
Nacht der Maya-Countdown heruntergezählt. Teils atemberaubend irre Szenen spielen sich dann nach Sonnenuntergang ab.
Da blasen sie einander schon mal gegenseitig das Koks mit Holzröhrchen ins Hirn. Da steht eine Handvoll Bekiffter im Kreis und ahmt 30 Minuten lang Tierlaute nach. Da kriecht einer mit einem Mädchen hinter den Palmen hervor, um gleich darauf mit einem anderen Mädchen dorthin zurückzukriechen. Und inmitten der Szene torkeln Maya mit Kriegsbemalung umher und greifen den Sedierten in die Taschen.
Wenn der große Rausch vorbei ist, wird sich wohl so mancher hier wünschen, die Welt wäre doch untergegangen. „Ach was“, sagt „George from the Jungle“, „dann geht es einfach weiter, irgendwo anders, irgendwie anders.“

Wenn es so weit ist am 21. Dezember, wird George mit Tausenden anderen schwitzenden Körpern am „Time and Space“-Festival zu Trance tanzen und „bis zur nächsten Bewusstseinsebene feiern“, wie er sagt. Der Maya-Forscher Ramon Santiz Mendez wird im kühlen Dunkel seiner Bibliothek in San Cristobal sitzen und arbeiten. „Es wird ein Tag wie jeder andere sein“, sagt er. Und Happy und Echo werden tief drinnen im südmexikanischen Garten Eden schreien. Aus Liebe.

+++ Davon geht die Welt nicht unter: Warum die Maya in ihrem Kalender keine Apokalypse prophezeiten +++