Wenn die Muskeln verrückt spielen

Stationen einer dramatischen Woche

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Sonntag, 24. Februar, 10 Uhr, Wien
Unter den ÖVP-Mitgliedern der Bundesregierung herrscht Unruhe. Minister und Staatssekretäre wurden gebeten, an diesem ungewöhnlich warmen Frühlingstag jederzeit telefonisch erreichbar zu sein. Günther Platter sitzt angespannt zu Hause vor dem Fernseher. Am Donnerstag zuvor war der Innenminister überraschend aus der „Pressestunde“ ausgeladen worden. Man bedaure, hieß es im ORF: Der Kanzler höchstpersönlich wolle sich mit einer „Ansage“ zu Wort melden.

Sonntag, 11 Uhr, Küniglberg
Kanzler Alfred Gusenbauer sagt in der „Pressestunde“, er bestehe auf einer Steuerreform im Jahr 2009 und nicht, wie mit der ÖVP ursprünglich vereinbart, erst im Wahljahr 2010. Auf mehrmaliges Nachfragen, ob er die Koalition in die Luft sprengen wolle, indem er seinem Regierungspartner über das Fernsehen mitteile, was er vorhabe, erklärt der Kanzler lediglich, im Herbst müsse die Steuerreform stehen. Auf die Frage, ob er die Freiheitlichen für regierungsfähig halte, bricht Gusenbauer mit einem sozialdemokratischen Tabu. Alle im Parlament vertretenen Parteien seien von einem Teil der Bevölkerung gewählt worden, das habe man zu akzeptieren. Nicht alle in der SPÖ-Spitze sind glücklich über den Auftritt des Kanzlers. Man begrüßt zwar, dass er die Gangart gegenüber der ÖVP verschärft, so wie es in der Strategiesitzung vom 17. Februar im Bundeskanzleramt beschlossen wurde. Nach Ansicht der Kritiker steht das Thema Neuwahlen nun jedoch zu sehr im Vordergrund. Gusenbauer war mit Fallbeispielen von einer Supermarktkassiererin und einem Metallarbeiter ausgerüstet gewesen, die selbst nach der guten Lohnrunde vom vergangenen Herbst wegen der Steuerprogression weniger am Lohnzettel haben als im Jahr zuvor und sich wegen der hohen Inflation dafür auch noch weniger kaufen können. Die Beispiele waren nicht zum Einsatz gekommen.

Sonntag, 19.30 Uhr, ÖVP-Zentrale
Vizekanzler Wilhelm Molterer, ÖVP-Klubobmann Wolfgang Schüssel sowie Bundesgeschäftsführer Hannes Missethon beratschlagen, was zu tun sei. Molterer meint, die ÖVP dürfe sich nicht provozieren lassen, Schüssel plädiert für einen harten Kurs gegenüber der SPÖ. Missethon berichtet von einer Umfrage unter Bürgermeistern, wonach die Teuerungswelle das Thema Nummer eins in der Bevölkerung ist, die SPÖ also einen Nerv getroffen habe. Auch der Umgang mit den Enthüllungen des Ex-BKA-Chefs Herwig Haidinger ist umstritten. Die Strategie, den unbequemen Beamten als psychisch labil dazustellen, stieß schon in der vergangenen Woche nicht bei allen ÖVP-Funktionären auf Beifall.

Montag, 14 Uhr, Parlament
ÖVP-Klubobmann Wolfgang Schüssel überrascht in der Präsidiale des Nationalrats mit ungewohntem Drang zur Öffentlichkeit: Er will den druckfrischen Bericht der Kampusch-Kommission, der bisher nur Innenminister Günther Platter zugänglich ist, sofort dem Parlament übergeben lassen. Die anderen lehnen das ab. Der Bericht werde ohnehin am nächsten Tag im Innenausschuss präsentiert. ÖVP-Mitarbeiter sind derweil bemüht, Journalisten für den Kampusch-Bericht zu interessieren. Der Kabinettschef von Jus­tizministerin Maria Berger soll mehrmals beim Vorsitzenden der Kommission, dem früheren VfGH-Präsidenten Ludwig Adamovich, interveniert haben, um die Untersuchungen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dies sei verdächtig, quasi ein Missbrauchsfall in der roten Reichshälfte.

Montagnachmittag, Bundeskanzleramt
Kanzler Gusenbauer und Vizekanzler Molterer treffen sich zur Aussprache. Molterer warnt vor einer Diskreditierung der großen Koalition. Er meint, dass SPÖ und ÖVP Gefahr liefen, bei einer Neuwahl die Zweidrittelmehrheit zu verlieren. Gusenbauer kontert ungerührt: Eine rasche Steuerreform sei notwendig.

Montag, 18 Uhr, SPÖ-Bildungszentrum, Praterstraße
Der Saal ist so voll, dass der ehemalige ÖGB-Präsident Fritz Verzetnitsch kaum bemerkt wird. Gusenbauer hat auf dem roten Sessel am Podium Platz genommen und genießt die Akklamationen für seinen Auftritt in der „Pressestunde“. Doch das Lob des Moderators ist zwiespältig. „Höchste Zeit, dass du so klare Worte gefunden hast“, sagt SPÖ-Gemeinderat Ernst Woller. Die Fragen der Basis fallen kritisch aus: „Wir haben vor der Wahl eine sofortige Steuerreform versprochen. Das haben wir gebrochen. Warum sollen die Wähler glauben, dass es dir jetzt ernst ist?“

Dienstag, 9.15 Uhr, Parlament
Herwig Haidinger, Ludwig Adamovich und Martin Kreutner warten vor dem Lokal VI. Die ÖVP, die von der Innenminis­teriumsaffäre am liebsten nur als Fall Kampusch spricht, möchte, dass Adamovich als Leiter der Kampusch-Kommission als Erster im Innenausschuss aussagt. Sie wird überstimmt. Haidinger eröffnet den Reigen, gefolgt von BIA-Chef Martin Kreutner.

Adamovich wird unterdessen im Warteraum von Journalisten bedrängt, sich zu den angeblichen Interventionen im Auftrag von SPÖ-Ministerin Maria Berger zu äußern. Adamovich lächelt milde: „Das waren keine Interventionen. Der Kabinettschef hat sich nur erkundigt, was wir vorhaben, weil zur selben Zeit das Verfahren läuft, ob Frau Kampusch eine Entschädigung zusteht.“ Der ÖVP-Abgeordnete Hermann Schultes, selbst Mitglied des Innenausschusses, sorgt für Erheiterung, als er meint, dass es sich bei den bekannt gewordenen Missständen im Innenministerium, etwa dem Verhalten des früheren Kabinettschefs Philipp Ita, nicht um politische, sondern um Stilfragen handle. „Das, was da passiert ist, ist ein Thema für den Elmayer (Benimm-Experte Thomas Schäfer-Elmayer, Anm.) und nicht für einen Untersuchungsausschuss.“

Dienstagnachmittag, Hofburg
Bundeskanzler Alfred Gusenbauer trifft mit Bundespräsident Heinz Fischer in der Präsidentschaftskanzlei zusammen. Fischer nutzt den schon länger vereinbarten Termin, um sich über die Krise in der Koalition informieren zu lassen.

Dienstag, 17 Uhr, Bundeskanzleramt
Die Koordinierungssitzung für den morgigen Ministerrat beginnt mit einem Eklat. Von der SPÖ wird ein gemeinsames, mit dem Logo des Finanzministers und des Bundeskanzlers versehenes Papier für das Vorhaben Steuerrefom 2009 vorgelegt. Die ÖVP protestiert heftig. Sie fühlt sich provoziert, umso mehr, als dieses Papier danach von einem Mitarbeiter Gusenbauers ohne Kommentar in einige Zeitungsredaktionen gefaxt wird.

Dienstag, 18 Uhr, Parlament
Nach acht Stunden ist der Innenausschuss zu Ende. Herwig Haidinger hat im Wesentlichen wiederholt, was er schon vor dem Staatsanwalt ausgesagt hat. In den Wahlkampfmonaten 2006 sei er von ÖVP-Kabinettsmitarbeitern im Innenministerium aufgefordert worden, allfällige Erkenntnisse über Geldflüsse zwischen Bawag, SPÖ und ÖGB an ÖVP-Ministerin Liese Prokop zu melden. Nach der Wahl, als der Banken-Untersuchungsausschuss tagte, hätte er die Akten zuerst in den ÖVP-Klub und dann erst in den Ausschuss bringen sollen. Walter Kogler, Abgeordneter der Grünen, der damals im Bankenausschuss saß und heute als Zuschauer am Rande steht, kommentiert bitter: „Alle ­relevanten Unterlagen kamen erst im ­letzten Abdruck und konnten aus Zeitgründen gar nicht mehr anständig durchgearbeitet werden.“ SPÖ-Klubchef Josef Cap ruft sein schwarzes Gegenüber Wolfgang Schüssel an und informiert ihn, dass die SPÖ einen Untersuchungsausschuss unterstützen werde. Schüssel nimmt dies frostig zur Kenntnis. Ein SPÖ-Mitarbeiter sieht dem Untersuchungsausschuss mit gemischten Gefühlen entgegen: „Da wird ein Kieberer den anderen verpfeifen. Hoffentlich können wir die Sache auf der politischen Ebene behandeln.“

Mittwoch, 9 Uhr, Parlament
Die SPÖ-Abgeordneten treten zu einer Klubvollversammlung zusammen. Tenor aus den Bundesländern: Der härtere Ton gegenüber der ÖVP komme daheim gut an. Sie würden den Parteichef aber gern fragen, ob er es auf Neuwahlen anlege und ob die SPÖ dafür gerüstet sei. Doch der Kanzler sitzt seit 9 Uhr mit Wilhelm Molterer beim Ministerrats-Frühstück.

Mittwoch, 11 Uhr, Parlament
Wilhelm Molterer schickt seinem Pressesprecher Nikola Donig ein SMS: „Kein Pressefoyer.“ Später sagt er in kleiner Runde, er sei vom Kanzler „gelegt“ worden. Gusenbauer habe das Pressefoyer unter dem Vorwand abgesagt, dass er gleich in den Verfassungsausschuss müsse, und sei anschließend allein vor die Journalisten getreten. Molterer musste im Ministerratssaal warten, bis die Journalisten für ihn Zeit hatten. Es hätte ohnehin nicht viel zu berichten gegeben: Umweltminister Josef Pröll attackierte Sozialminister Erwin Buchinger wegen Terminstreitigkeiten, Buchinger kritisierte Außenministerin Ursula Plassnik wegen der Visa-Affäre. Wissenschaftsminister Johannes Hahn ging „alles auf den Keks“. Und Gusenbauer verteilte im Ministerrat nur die Wortmeldungen. Sonst schwieg er.

Mittwoch, später Nachmittag
Vizekanzler Wilhelm Molterer telefoniert mit Bundespräsident Heinz Fischer. ­Fischer versucht auszuloten, ob sich SPÖ und ÖVP darauf einigen könnten, nur ­einen Teil der Steuerreform auf 2009 ­vor­zuziehen.

Donnerstag, 8 Uhr, Verkehrsministerium
Sozialminister Erwin Buchinger und ÖVP-Regierungskoordinator Josef Pröll versuchen trotz koalitionsinterner Eiszeit, beim „Papa-Monat“ eine Einigung herzustellen. Mehr als die Einrichtung einer Arbeitsgruppe bringen sie allerdings nicht zusammen. Bei der im Regierungsprogramm vereinbarten Mindestsicherung geht gar nichts weiter.

Donnerstag, 11 Uhr, Parlament
FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache genießt seinen unverhofften Aufstieg vom Rabauken zum Jolly Joker. Er bringt sich in einer Pressekonferenz als möglichen Partner für SPÖ oder ÖVP ins Spiel. Auf zweiter Ebene werden die Angebote konkreter: Die FPÖ signalisiert der SPÖ, etwa für die Abschaffung der Studiengebühren bereitzustehen. „Jetzt kann die Zeit des freien Spiels der Kräfte im Parlament beginnen“, frohlocken die Freiheitlichen. Die Unterstützung einer Minderheitsregierung schließt die FPÖ allerdings aus. Darauf hatten manche in der SPÖ gehofft. Das Tabu, mit den Freiheitlichen zu kooperieren, wackelt. Peter Pilz erzählt in den Couloirs, die ÖVP habe wegen eines Eurofighter-Ausschusses gegen SPÖ-Verteidigungsminis­ter Norbert Darabos angefragt. Doch die Grünen würden dabei nicht mitspielen. „Die ÖVP soll einen Untersuchungsausschuss auf Antrag der Opposition ermöglichen. Dann kriegen sie ihren Eurofighter-Ausschuss“, sagt Pilz.

Donnerstagnachmittag
Allgemeine Erschöpfung ist eingetreten. In der SPÖ warnen manche Minister vor Euphorie über das neue Muskelspiel des Kanzlers. Jeder wisse doch, dass vom Wähler bestraft wird, wer Neuwahlen provoziert. In der ÖVP-Spitze schöpft man dagegen wieder Mut. Die Hoffnung steigt, dass in der Innenministeriumsaffäre keine ­neuen Enthüllungen zu erwarten sind. Womöglich empfinden es die Wähler sogar als Befreiung, wenn jemand den Dauerstreit und damit die Koalition für beendet erklärt, so die Überlegung. Außerdem böte ein Schlusspfiff vor Beginn der Fußball-EM der ÖVP die Chance, dass sich Gusenbauer nicht als oberster Kicker der Nation präsentieren könnte. Tirols Landeshauptmann Herwig van Staa fordert Neuwahlen.

Donnerstag, 19 Uhr, Prunksaal Nationalbibliothek
Der Kanzler eröffnet die Ausstellung „Bilder aus der versunkenen Welt des jüdischen Sammlers Raoul Korty“. Gusenbauer kündigt bei dieser Gelegenheit eine Novelle des Kunstrückgabegesetzes an, sodass auch die Sammlung Leopold von den ­Restitutionsbestimmungen erfasst werde. Gusenbauer verspricht, „rasch zu handeln“. Stimmen gegen die Restitution – wie sie zuletzt auch vom Ehepaar Leopold zu hören waren – nennt er „beschämend“. Vermutlich ein neuer Fall für einen Koalitionskrach.

Freitag, 10 Uhr, Bundeskanzleramt
ÖGB-Präsident Rudolf Hundstorfer und Arbeiterkammer-Präsident Herbert Tumpel beraten mit Alfred Gusenbauer über die Steuerreform. Über den so genannten „Gusi-Hunderter“ war die Gewerkschaft so verärgert gewesen, dass sie die geforderte öffentliche Unterstützung verweigerte. Mit der vorgezogenen Steuerreform ist die Harmonie wiederhergestellt.

Freitag, 11 Uhr, Parlament
Im Justizausschuss herrscht Jahrmarktsstimmung. ÖVP-Mandatare – selbst die Juristen unter ihnen – beklagen lautstark, dass sich Justizministerin Maria Berger mit dem Hinweis auf laufende Verfahren weigert, die anwesenden Staatsanwälte von der Amtsverschwiegenheit zu entbinden. Die Eilt-Meldung der APA, dass im Keller von Walter Flöttl senior Unterlagen gefunden wurden, laut welchen in den siebziger und achtziger Jahren Gelder von der Bawag an die SPÖ geflossen sein könnten, platzt mitten in die Befragung. Abgeordnete verlassen aufgeregt den Raum. BZÖ-Generalsekretär Gerald Grosz triumphiert: „Jetzt ist die SPÖ endgültig weg.“

Freitag, 17.40 Uhr, Wien-Schwechat
Alfred Gusenbauer besteigt erleichtert das Flugzeug, das ihn zum Europaforum nach Lech am Arlberg bringt. Skifahren und Gespräche mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und anderen internationalen Gästen sind nach dieser Woche fast eine Erholung.

Von Eva Linsinger und Christa Zöchling