Synästhesien: Töne sehen, Farben hören

Wenn Pfeffersauce nach Dreiecken schmeckt

Eine verblüffende Verschmelzung der Sinne

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Wenn Alexandra D. Rot sieht, ist das kein Anzeichen für Unruhe. Im Gegenteil: Möglicherweise lauscht sie gerade dem Spiel einer Geige. „Ich sehe einen Geigenton als rötliche Spirale. Er kringelt sich durch den Raum und verblasst schweifartig“, beschreibt die junge Frau ihre Sinneseindrücke. „Und der Geruch des Tones ist erdbeer-pfirsichartig.“

Sabine L., Magistra der Philosophie aus Wien, verbindet Farben und Gefühle eng miteinander: Rot beispielsweise bedeutet Wohlgefühl. Für die Journalistin Claudia M. ist der Buchstabe M rot, stets erscheint diese Farbe beim Hören oder Lesen des Buchstabens wie vor einem inneren Auge. Auch Zahlen, Wochentagen oder Monaten ist eindeutig eine Farbe zugeordnet. „Ich habe immer angenommen, dass ich die farbigen Buchstaben und Zahlen als Kind von einem Buch übernommen hatte“, berichtet M. „Dass meine Wahrnehmung etwas Besonderes ist, weiß ich erst seit einigen Monaten.“

Die drei Frauen erleben so genannte Synästhesien, neurologische Phänomene, bei denen es gewissermaßen zur Vermischung von Sinneseindrücken kommt. Der Name leitet sich von den altgriechischen Begriffen syn (zusammen) und aisthesis (Empfinden) her. „Mitempfindung in einem Sinnesorgan bei Reizung eines anderen“, definiert das Medizinlexikon Pschyrembel die sonderbare und erstmals 1880 vom englischen Natur- und Erbforscher Sir Francis Galton wissenschaftlich untersuchte Fähigkeit mancher Menschen, etwa einen Ton nicht nur als Laut wahrzunehmen, sondern auch als Farbe, Form, Geruch oder Geschmack.

Sinneskoppelung. „Synästhesie ist eine Verschmelzung der Sinne, eine Spielart der Evolution“, sagt Markus Zedler, Oberarzt der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, Mitglied der dortigen „Arbeitsgruppe Synästhesie“ und Koautor eines soeben erschienenen Sachbuches zum Thema.*) „Für einen Synästhetiker ist eine Sinnesempfindung mit einer anderen gekoppelt“, so Zedler, „der Buchstabe A etwa ist für den einen blau, für einen anderen riecht der Ton C nach Zitrone, und für einen dritten schmeckt Pfeffersauce nach spitzen Dreiecken. Das ist höchst individuell.“

Vor allem viele Künstler scheinen seit jeher von diesem Phänomen betroffen zu sein. Der Komponist Arnold Schönberg war angeblich ebenso Synästhetiker wie Johann Wolfgang von Goethe oder der Maler Wassily Kandinsky, dessen Werke zurzeit in der Schau „Der Klang der Farbe“ im Wiener Kunstforum zu sehen sind. Kandinsky beschrieb etwa einst, der Himmel Moskaus habe sich „wie eine tolle Tuba“ verfärbt.

„Ob er tatsächlich ein Synästhetiker war, wissen wir nicht“, sagt Ausstellungskuratorin Evelyn Benisch. „Aber besonders in den Jahren 1910 bis 1912, die den Schwerpunkt unserer Ausstellung bilden, hat er mit synästhetischen Elementen gearbeitet und sich intensiv mit Farbwirkungen beschäftigt, wie wir aus seinem Briefwechsel mit Arnold Schönberg wissen.“

Verbreitetes Phänomen. Die Schätzungen über die Zahlen der Betroffenen werden kontinuierlich nach oben revidiert. Der Pionier der modernen Synästhesieforschung, Richard E. Cytow, ging um 1980 noch davon aus, dass bei einer von 25.000 Personen Synästhesien auftreten. Zedler hingegen hat festgestellt, dass „bei jedem Vortrag etwa eine von 300 Personen seine eigenen Symptome als Synästhesie erkennt“. Für Österreich wird die Zahl der Betroffenen heute, je nach Schätzung, auf 10.000 bis 30.000 Menschen geschätzt. Bei Frauen tritt dieses Phänomen im Schnitt achtmal häufiger auf als bei Männern.

Die Wissenschaft unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Ausprägungen von Synästhesien: der genuinen/konstitutionellen und der Gefühls-/metaphorischen Synästhesie – auch Mischformen sind möglich. Bei der genuinen Variante, die zumeist bereits im Kindesalter oder in der Jugendzeit bemerkt wird, gibt es eine feste Koppelung von auslösendem Reiz und damit verbundener zusätzlicher Wahrnehmung – beispielsweise wird die Zahl fünf immer als grün erachtet. Diese Zuordnung lässt sich nicht verändern, wird automatisch und unabhängig vom Willen hervorgerufen und bleibt ein Leben lang erhalten – auch wenn die Eindrücke, etwa durch Stress oder Entspannung bedingt, mitunter stärker oder schwächer auftreten können. Reiz und Wahrnehmung laufen außerdem simultan ab.

Die häufigsten Wahrnehmungen sind dabei das „Coloured Hearing“, das Farbhören, sowie das Sehen und Hören von Farben in Zusammenhang mit Buchstaben, Zahlen, Tagen oder Monaten. Die farbigen Wahrnehmungen werden dabei, so die Angaben vieler Betroffener, vor einer Art innerem Auge oder auf einem inneren „Monitor“ dargestellt.

Farbkorrektur. „Am besten kann man das wohl mit der Wirkung eines Schwarzweißfilmes vergleichen“, meint Claudia M. „Der Film hat nur Grautöne. Trotzdem gibt das Gehirn den Dingen manchmal eine Farbe. Es korrigiert zum Beispiel den blassgrauen Ton der Gesichter zu menschlicher Haut, oder das hellgraue Haar der Hauptdarstellerin wird als blond erkannt. So ungefähr wird bei mir ein druckschwarzes A im Gehirn als blau dekodiert.“

Seltener sind Wahrnehmungen wie mit bestimmten Reizen gekoppelte Geschmacksempfindungen und das Fühlen geometrischer Formen. Als Gefühlssynästhesie werden ausgeprägte bildhafte, geometrische oder farbige Erlebnisse genannt, die etwa beim Hören von Musik oder bei Meditationen auftreten. Auch Schmerz, große Freude oder andere Gefühlszustände können als farbige Bilder empfunden werden. Die Grenze zur bloßen Assoziation eines Reizes mit einem anderen – die freilich jeder Mensch hat – ist bei dieser Form nicht leicht zu ziehen, weshalb manche Wissenschafter diese Variante der Synästhesie nicht als solche anerkennen. Eines haben all diese Menschen jedenfalls gemeinsam: Sie verbinden Dinge miteinander, die wahrnehmungstheoretisch eigentlich nichts miteinander zu tun haben.

Die Ursachen für diese Verknüpfungen liegen im Gehirn. Hirnstrommessungen und Aufnahmen mit Computertomografen haben gezeigt, dass die Reizverarbeitung eines Synästhetikers anders verläuft als jene von „normalen“ Kontrollpersonen. Bei ihm aktiviert das Gehirn beim Verarbeiten eines Reizes nicht nur das dafür „zuständige“ Zentrum, sondern mehrere Areale zugleich. Wie und warum dies passiert, ist allerdings derzeit noch weit gehend ungeklärt.

Freilich erlaubt moderne Technologie eine immer genauere Spurensuche im Gehirn. War man früher ausschließlich auf Erfahrungsberichte Betroffener angewiesen, arbeiten Forscher heute mit bildgebenden Verfahren wie der funktionalen Kernspintomografie (fKRT) oder der Positronen-Emissions-Tomografie (PET). Derart lassen sich Blutströme im Gehirn und damit die neuronalen Aktivitäten in verschiedenen Hirnzentren sichtbar machen. „Damit können wir erstmals subjektive Berichte über synästhetische Wahrnehmungen durch objektive Untersuchungen ergänzen oder bestätigen“, so Zedler.

Erklärungsmodelle. Das Team um Zedler und seine Kollegen Hinderk Emrich in Hannover, das auch mit der Universität Magdeburg kooperiert, ist längst nicht mehr die einzige Forschergruppe, die den neurologischen Ursachen synästhetischer Vernetzungen auf die Spur kommen möchte. Simon Baron-Cohen von der britischen Cambridge University hält es beispielsweise – wie die Mehrzahl der Forscher – für wahrscheinlich, dass die Anlage zur Synästhesie vererbt wird, da sie gehäuft innerfamiliär auftritt.

Baron-Cohen glaubt, dass ein noch nicht näher bestimmtes Gen auf dem X-Chromosom dafür verantwortlich ist, dass die bei Säuglingen noch vielfältigen Verknüpfungen im Gehirn bei Synästhetikern nicht wie üblich zurückgebildet werden. Möglicherweise, so die Überlegung des Forschers, bleiben durch die Wirkung des Gens bei Synästhetikern direkte Verbindungen zwischen den Hör- und den Sehzentren bestehen, über die dann die Bindung läuft.

Der Psychologe Peter Grossenbacher von der Naropa University Boulder hat die Theorie aufgestellt, dass Synästhesie eine Genmutation sein könnte, die sich auf den Neokortex, das Großhirn, auswirkt – den entwicklungsgeschichtlich jüngsten Teil des Gehirns. Annina Rich von der Universität Melbourne glaubt ebenfalls, dass die Verknüpfung der Sinne in höheren Denkarealen des Gehirns erfolgt.

Pionier Richard Cytow dagegen mutmaßt, dass Synästhesie eine ursprünglich ganz normale Hirnfunktion ist, die aber nur bei wenigen Menschen ins Bewusstsein vordringt. Durch minimale Unterbrechungen der Blutversorgung im so genannten Ammonshorn, einem Teil des Limbischen Systems, werde der sonst unbewusst ablaufende Prozess erlebbar. Dieses Wahrnehmungsmuster sei den meisten Menschen im Lauf der Evolution verloren gegangen. Die Synästhetiker seien, formuliert Cytow, „kognitive Fossilien“, welche diese Fähigkeit behalten hätten. Emrich und Zedler wiederum gehen von einer Art „Brücke“ über das Limbische System aus, dem so genannten Gefühlszentrum des Gehirns.

Die Forschungen auf diesem Gebiet sollen allerdings nicht nur für Synästhetiker selbst von Bedeutung sein. „Wenn wir nachvollziehen können“, so Hinderk Emrich, „wie das Gehirn diverse Reize und Teilaspekte der Wahrnehmung wie des Fühlens, Denkens und der Erinnerung zu einer Einheit kombiniert, dann sind wir in der Bewusstseinsforschung einen großen Schritt weiter.“

Bild der Realität. Die besondere Aufmerksamkeit der Wissenschafter gilt in diesem Zusammenhang dem Mechanismus des so genannten „Binding“. Dieses sorgt bei allen Menschen dafür, dass etwa ein Ball als ein Ganzes wahrgenommen wird, obwohl seine Farbe, seine Form und seine Bewegung in ganz verschiedenen Gehirnzentren verarbeitet werden. Bei Synästhetikern ist dieses Binding stärker ausgeprägt. „Deshalb können diese Personen quasi als Vergrößerungsglas dienen, durch das wir das Phänomen besser untersuchen können“, so Zedler. „Und damit könnten wir verstehen, wie das Gehirn aus den unterschiedlichsten Reizen ein Bild der Wirklichkeit schafft. Wir wollen wissen, wie das Bewusstsein entsteht, mit dem wir uns selbst und die Welt erleben.“

Doch auch außerhalb von Fachkreisen beschäftigen sich immer mehr Menschen mit dem Phänomen: Als Thema bei „Jugend forscht“ oder für Fachbereichsaufgaben an Universitäten wird Synästhesie vor allem in Deutschland und der Schweiz immer öfter gewählt. In Österreich indes wird zumindest in einer breiteren Öffentlichkeit noch kaum darüber diskutiert. Und ebenfalls vor allem in Deutschland hat sich mittlerweile eine Reihe von Plattformen im Internet etabliert, auf denen Betroffene über ihre Wahrnehmungen und ihren Umgang damit berichten (siehe Kasten Seite 109).

Viele Synästhetiker beschäftigen sich dabei mit der Frage, inwiefern ihr Charakter, ihre Beziehungen zur Umwelt und ihr Verhalten von ihrer Art der Wahrnehmung geprägt sind. „Man kann die Synästhesie nicht vom Menschen trennen“, glaubt Wissenschafter Emrich. „In gewisser Weise ist Synästhesie eine eigene Art des Denkens.“ Häufig handle es sich um sehr selbstbewusste und optimistisch denkende Menschen. Viele Synästhetiker würden Berufe wählen, die Kreativität und Fantasie fordern. Andererseits berichten viele Gefühlssynästhetiker von Wachträumen oder visionären Erlebnissen, die ihnen meist sehr unangenehm seien. Auch Déjà-vus seien bei dieser Gruppe außergewöhnlich häufig.

Freilich, so Zedler, dürfe man Synästhesien nicht als Krankheit betrachten. Allerdings seien die Phänomene noch so unbekannt, „dass Betroffene manchmal verunsichert sind, weil sich ihre Form der Wahrnehmung von der ihrer Umwelt unterscheidet. Sie halten es verborgen, um nicht als verrückt zu gelten.“

Auch der amerikanische Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman, ebenfalls Synästhetiker, beschäftigte sich unter anderem mit der Frage, wie andere Menschen die Welt wohl wahrnehmen mögen. „Wenn ich Gleichungen sehe, dann sehe ich die Buchstaben in Farbe, ich weiß nicht, warum“, schreibt Feynman in seiner Autobiografie. „Und ich frage mich, wie zum Teufel es wohl für die Studenten aussehen mag.“