US-Wahl 2004: Bush wird unsicher

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Kurz vor der Wahl ist Bush nicht mehr siegessicher

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Die Kamera verweilte nur kurz auf dem Rücken des Präsidenten. Wenn doch, dann schaute jeder genau hin. Ist da, auf dem rechten Schulterblatt, eine verdächtige viereckige Ausbuchtung mit scharfen Kanten wie in der ersten Debatte? Etwas, das ein Funksender sein könnte, um dem Präsidenten die richtigen Antworten einzuflüstern, wenn er nicht mehr weiter weiß? George W. Bushs Personal hatte diesmal gut gebügelt. Es war nichts zu sehen. Er fand seine Worte selbst, in der dritten ebenso wie in der zweiten und der ersten TV-Konfrontation. Doch die Gerüchte um das kleine Viereck waren verräterisch.

Schließlich ist George W. Bush einer, dem man solche Tricks zutrauen würde. Sie passen zu seinem wesentlichsten Charakterzug, der im Finale des Wahlkampfs immer deutlicher zutage tritt: Er bleibt auf Kurs, unbeirrbar von Fakten. Zweifel und Widerspruch erträgt dieser Mann nicht, sie verursachen ihm sichtbares körperliches Unbehagen. Sein Bild von der Welt ist in sich geschlossen: Alles ist gut, wir sind auf dem richtigen Weg.

George W. Bush hat eine Meisterschaft darin entwickelt, seine Überzeugungen hermetisch zu versiegeln. Er umgibt sich mit wenigen Beratern seines Vertrauens, konsumiert ausschließlich Medien, die sein Weltbild teilen. Richard Clarke, einst Chef der Antiterrorbehörde, verriet: „Bush braucht keine Leute, die etwas besser wissen. Er hat einen sehr schmalen, regulierten Raster von Kanälen, über den er Ratschläge bezieht.“ Das Magazin „New Yorker“ urteilt ähnlich: „George W. Bush liebt Tautologien: Ich tue das Richtige, weil es richtig ist, und es ist richtig, weil ich es tue.“ Warum sollte er also ausgerechnet in einer TV-Debatte lieber einem Kritiker zuhören als seinen vertrauten treuen Einflüsterern und deren argumentativen Endlosschleifen?

Japsender Terrier. Es ist Dramatisches passiert in den vergangenen beiden Wochen: Die beiden Kandidaten liegen seit den drei Fernsehdebatten in Umfragen beinahe gleichauf, alles ist möglich am 2. November. Das liegt nicht daran, dass sich der Präsident gewandelt hätte, im Gegenteil: Seine größte Stärke, seine unbeirrbare Selbstsicherheit, ist in der öffentlichen Wahrnehmung plötzlich in eine Schwäche gekippt. Kann man die Zukunft des Landes wirklich einem Mann anvertrauen, der nicht in der Lage ist, Probleme zu erkennen?
Dieser Umschwung begann damit, dass 60 Millionen Fernsehzuschauer – mehr als je zuvor bei solchen Debatten – den Herausforderer erstmals in ganzer Länge und Statur zu Gesicht bekamen. John Kerry, trommelten die Republikaner seit Beginn, sei „weit außerhalb des Mainstreams, am Rand der Gesellschaft“, wie Bush am vergangenen Mittwoch beharrte, ein „Liberaler“, was in Amerika so viel wie „Linksradikaler“ bedeutet; es wäre eine „Gefahr für das Land“, so jemanden zum Präsidenten zu machen.

Diese Beschreibung kollidierte seltsam scharf mit dem Bild, das jeder mit eigenen Augen am Bildschirm sah: Hinter dem Pult stand da ein distinguierter, kontrollierter Sir, aufrecht in der Haltung, im Tonfall sonor und präsidentieller als der Präsident; eher dem „treuen Schäferhund“ gleich, während sich Bush als „japsender Terrier“ gerierte (wie Jonathan Alter im Magazin „Newsweek“ bissig anmerkte).
Woran sich die Frage knüpft: Wenn Bush in der Charakterisierung seines Gegners so danebenliegt, wie sehr irrt er dann in allem anderen?

Nirgendwo kommt Optimismus so gut an wie in Amerika – und doch haben die Wähler in letzter Zeit Zweifel beschlichen. Dass es einen unaufhaltsamen wirtschaftlichen Aufschwung gibt; dass die Steuergeschenke an die Reichsten allen Amerikanern nützen; dass das Schulsystem besser ist als je zuvor, ebenso wie die Krankenversorgung – diese Beteuerungen sind inzwischen ähnlich glaubwürdig wie jene, im Irak laufe alles bestens und nach Plan. Die durchschnittlichen Haushaltseinkommen sind in Bushs Amtszeit gesunken; 400.000 Arbeitsplätze gingen unterm Strich verloren; die Krise des Gesundheitssystems und die steigenden Energiepreise spürt jeder Bürger am eigenen Leib. Dass sogar 33 Prozent der Bush-Anhänger sich eine Kurskorrektur in seiner zweiten Amtszeit wünschen, hätte ein Alarmsignal sein müssen.

Mehrmals wurde der Präsident nach Fehlern gefragt, die ihm womöglich passiert sein könnten. Es sind ihm nie welche eingefallen. Nun, im Endspurt, ist es zu spät für Zerknirschung – „es gibt kein Zurück“, gibt einer seiner Berater die Parole aus. Kerry hat, nach langen Monaten des Lavierens, diesen wunden Punkt endlich entdeckt. „Wahre Führungsqualität zeigt sich darin, die Wirklichkeit zu erkennen, die Wahrheit zu sagen, Fehler zuzugeben und die Konsequenzen daraus zu ziehen“, sagt er seither. Das sitzt. Und die Wähler sind seither in Bewegung.

Kampf um die Vorstadtmütter. Das einleuchtendste Erklärungsmodell für diese neue Dynamik bietet die Küchentisch-Psychologie. Frauen sind die Mehrheit der unentschlossenen Wähler – und sie waren in jüngerer Vergangenheit immer sicher auf Seite der Demokraten (Al Gore hatte bei der letzten Wahl bei den Frauen einen Vorsprung von elf Prozentpunkten). Seit dem Krieg gegen den Terror war diese Geschlechterdifferenz so gut wie verschwunden – in Zeiten der Krise, so die Analyse der Meinungsforscher, scharen sich auch Frauen gern hinter einem, der demonstriert, dass er weiß, wo es langgeht.

Doch dieser Vetrauensvorschuss kann kippen. Mary Beth Cahill, Kerrys Chefstrategin, bringt es auf den Punkt: „Bush ist der Ehemann, der im Auto kilometerweit in die falsche Richtung fährt und stur die Ehefrau ignoriert, die darauf drängt, doch endlich anzuhalten und jemanden nach dem Weg zu fragen.“ Solche Momente hat jede amerikanische Ehefrau schon erlebt. Es sind Momente, in denen die anfängliche Bewunderung in Zorn umschlägt. „Es sind nicht die Fehler, die eine Frau wütend machen“, teilt die Sprachwissenschafterin Deborah Tannen die Analyse. „Es ist die Weigerung, sich dafür zu entschuldigen.“
Noch schlimmer: Als Bush seinem Kontrahenten am Mittwoch vorhielt, er habe „keinen richtigen Plan zu bieten, sondern bloß eine Litanei, eine endlos lange Liste von Beschwerden“, außerdem „versteht er das einfach nicht“, mag sich manche Zuhörerin mit dem Angegriffenen spontan identifiziert haben. Nichts kann Frauen so rasend machen wie ein Mann, der erst nicht zuhört – und dann wehleidig ist, wenn er kritisiert wird.

Offenbar haben die Spindoktoren beider Seiten diese Gefühlslage nun als wahlentscheidend erkannt. Es ist kaum zu übersehen, wie die Kontrahenten einander neuerdings im Werben um die Vorstadtmütter überbieten. In von Bill Clinton geliehenen Worten beschwor Kerry die „Frauen, die hart arbeiten, um ihre Kinder über die Runden zu bringen“. Der Präsident konnte gar nicht oft genug beteuern, die Lösung aller Wirtschaftsprobleme liege darin, „dass Kinder ordentlich lesen und schreiben, addieren und subtrahieren lernen“.

Wie dem Wahlkampf-Lehrbuch entlehnt, wurde da neckisch die Stärke der eigenen Ehefrauen beschworen; bei Kerry („Ich habe hinaufgeheiratet, aber ich kann damit umgehen“) sogar gewürzt mit einem Schuss Selbstironie. Bush erzählte von der „Ruhe“, die er „inmitten aller Stürme findet“: „Ich bete viel, um Stärke, um Weisheit, um meine beiden Mädchen.“ Selbst Kerry, der dem Thema Religion bisher großräumig auswich, rang sich ab, von seiner Mutter am Sterbebett und von seiner Kindheit als Ministrant zu erzählen. „Wir müssen unsern Nachbarn noch viel mehr lieben“, interpretierte er die Bibel.

Weil Wohlfühlrhetorik für Frauen noch nicht ganz reicht, gab es auch noch eine knallharte Offenbarung. Wie stehen Sie zu „Roe vs. Wade“, jenem Höchstgerichtsentscheid, der das Recht auf straflose Schwangerschaftsabbrüche festschreibt? „Ich werde dieses Recht verteidigen“, sagte Kerry in ungewohnter Unzweideutigkeit, „ich werde keinen Richter ernennen, der dieses Recht abschaffen will.“ Bushs Antwort war die kürzeste, ausweichendste und damit vielsagendste des Abends. „Ich werde meine Richter keinem Test unterziehen. Ich werde Richter aussuchen, die die Verfassung interpretieren.“

Aus gleichem Stall. Deutlicher hätte nicht werden können, um wie viel es bei dieser Wahlentscheidung geht. Tatsächlich kann nach den drei Fernsehdebatten kein Amerikaner mehr behaupten, er wisse nicht, worin sich die Kandidaten unterscheiden. Zur Wahl stehen zwei Männer mit einem beinahe identischen Hintergrund: beide aus reichen, etablierten Ostküsten-Familien mit Stammbaum, beide Absolventen der Elite-Universität Yale. Beide hatten sogar Unterricht bei demselben Professor in der Rhetorikklasse (bei der sich der zwei Jahre ältere Kerry als strebsam hervortat, während Bush eher mit dem Minimum an Aufwand durchrutschte).

Doch die Lebensläufe, die die beiden aus dieser Herkunft heraus entwickelt haben, könnten gegensätzlicher nicht sein. Bush gibt mit dem Habitus des texanischen Bauernjungen vor, ein Mann aus dem Volk zu sein, während er Politik für die Eliten macht; Kerry fordert mit dem Habitus des privilegierten intellektuellen Brahmanen die Anhebung des Mindestlohns von fünf Dollar 15 und macht die Sorgen allein erziehender Mütter zu den seinen. Von den großen Visionen bis hin zu den Details stehen die beiden an den entgegengesetzten Enden des amerikanischen politischen Mainstreams: mit dem unerschütterlichen Glauben an Freiheit, Eigentum und Markt der eine; an Ausgleich, Allianzen und staatliche Regelungen der andere.
Dass sie einander hassen, ist offensichtlich. Doch die beiden Amerikas, die sie verkörpern, begegnen einander normalerweise kaum. Anhänger beider Lager leben geografisch voneinander getrennt, jedes hat seine eigene Öffentlichkeit, in der man bloß noch die Meinungen von Gleichgesinnten hört. Die Rechte hat Fox News und die rabiate Radio-Talkshow von Rush Limbaugh; die Linke ihre elitären Ostküsten-Zeitungen und das öffentlich-rechtliche Radio; beide haben ihre Weblogs, die unermüdlich Gift, Galle und Verschwörungstheorien speien.

Schallisoliert. Feuilletonisten haben für dieses Phänomen einen Namen gefunden – das iPod-Syndrom. Mit dem schicken tragbaren Musikspeichergerät entzieht sich der Konsument der Allgemeinheit und färbt den Alltag mit seinem ganz persönlichen Soundtrack ein. Niemand muss mehr hören, was ihm nicht gefällt, niemand muss sich belästigen lassen von den Geschmäckern anderer Leute. Je vielfältiger die TV-Kanäle und die kulturellen Nischen werden, desto mehr schrumpft der öffentliche, geteilte, umstrittene Raum.

Das Finale des Präsidentschaftswahlkampfs ist auch aus diesem Grund aufregend. Es ist eine der ganz seltenen Gelegenheiten, bei denen sich die Nation vor einer gemeinsamen Bühne zusammenfindet wie zu einem mittelalterlichen Ritterspiel. Erst bei diesem intimen Showdown, der seinen Gegner bis auf Armeslänge an ihn heranrückte, scheint George Bush mit einiger Irritation zu bemerken, dass es außerhalb seines penibel errechneten Paralleluniversums vielleicht auch noch ein anderes gibt.

Seine Berater hatten dieser Irritation vorbauen wollen. Sie wollten mit ihm ein in Washington übliches Traningsspiel machen: das so genannte „Mörderpodium“, bei dem Mitarbeiter den Präsidenten zu Übungszwecken mit den allergemeinsten Fragen bombardieren. Bush weigerte sich. Stattdessen lud er freundliche konservative Groupies zum Plaudern ins Weiße Haus. Sogar seinen Wahlkampf bestritt Bush immer vor sortiertem Publikum: Wer in diesen Wochen an einem seiner Auftritte teilnehmen will, muss vorher ein Formular ausfüllen, in dem er seine Loyalität bekräftigt. „Er lebt in einer schallisolierten Echokammer“, ätzt der Essayist Frank Rich.

In diesem Sinn mag George W. Bush ein typischer Vetreter der iPod-Generation sein. Es ist trotzdem unwahrscheinlich, dass er ein Gerät unter sein Sakko steckte, um während der TV-Debatte Popmusik zu hören.