Hellers biografische Erzählung

'Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein'

'Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein'

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André Heller leidet an der Unteilbarkeit seiner Talente. Jedes Mal, wenn er ein neues Produkt seines vielfältigen Schaffens der Öffentlichkeit überantwortet, muss dieses erst einmal das Gravitationsfeld seines Schöpfers verlassen, um ein bisschen Aufmerksamkeit für sich selbst zu bekommen. So sehr hat Heller, 61, die generelle Kunst, er selbst zu sein, kultiviert, dass die spezielle Kunst, die er produziert, darum heischen muss, so ernst genommen zu werden, wie es ihr zusteht.

Dieses Problem hat nicht Heller allein. Wenn der Songwriter Bob Dylan eine Ausstellung mit wunderbaren Bildern eröffnet, reichen die Kunstkritiker den Katalog höflich lächelnd an die Kollegen vom Popressort weiter, könnt ihr etwas damit anfangen? Der fotografierende Popstar Bryan Adams musste sich eine eigene Zeitschrift gründen, um als Fotograf so präsentiert zu werden, wie er sich das vorstellte, und Erfolge bei Kritik und Publikum, wie sie der herrliche Romane schreibende Sänger der Formation „Element of Crime“, Sven Regener, hinlegte, sind die glänzende Ausnahme von der Regel. Wer nicht ausschließlich sein angestammtes Terrain bestellt, erregt Misstrauen. Zum Beispiel: Was sollen wir nach „Afrika, Afrika“, einer Show, die bei ihren Gastspielen in ganz Europa zuletzt Besucherrekorde meldete und das als überreizt geltende Genre der großen Revue mit neuem Leben erfüllte, jetzt mit diesem schmalen Buch anfangen, das im Untertitel lakonisch „Eine Erzählung“ heißt? Welcher Heller meldet sich da?

Es ist der Heller, von dem alle etwas wissen wollen, der private Heller. „Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ liefert schon mit seiner Vorbemerkung den Schlüssel zu der Lesart, die der Autor vielleicht nicht intendiert hat, die seinem Buch aber nicht erspart bleiben wird: „Diese Erzählung greift einige Themen und Begebenheiten auf, die meine Kindheit für mich bereithielt. Die Oberhand beim Schreiben hatte allerdings die Fantasie.“ Heller erzählt aus seinem Leben, und das Spiel kann beginnen. Was ist wahr, was basiert auf Fakten? Welche Begebenheiten hielt Hellers Kindheit für ihn tatsächlich bereit (um den charakteristischen ­Sound seiner Fragestellung aufzugreifen), und was ist Produkt seiner bekanntlich nimmermüden Fantasie? Wie fühlt es sich an, wenn einer „zwischen den Zuckerln“ aufwächst? Was ist der Nährboden für diese erstaunliche Karriere?

Zögling. Die Erzählung präsentiert uns einen Helden namens Paul Silberstein. Paul ist der Sohn eines despotischen Vaters aus einer Dynastie von jüdischen Süßwarenfabrikanten. Weil der Vater das so entschieden hat, „genießt“ Paul seine Ausbildung in einem Jesuitenkolleg. Paul berichtet mit großer Leidenschaft von den Qualen, die ihm die Patres im Internat zufügen und die nur von der Grausamkeit übertroffen werden, mit welcher der Vater die Familie regiert, seine Frau unterdrückt, betrügt und seinem Sohn alle Menschlichkeit auszutreiben versucht, sodass es Paul zu einem regelrechten Fest wird, die Geschichte vom Hingang seines Vaters zu erzählen – als Geschichte seiner eigenen Befreiung.

Der Autor – Paul Silberstein? Oder André Heller, der seinem Helden bis ins Detail gleicht? – erzählt das offen und detailreich. Wir begegnen zum Beispiel einem jungen Ladiner im Jesuitenkolleg, der darüber zu wachen hat, dass die Kinder das Nachmittagsstudium stillschweigend und regelkonform erledigen. Zu den Regeln gehört es, dass vergessene Gegenstände, auch wenn sie zur Bewältigung der Aufgaben nötig sind, erst in den Pausen aus dem Pult genommen werden dürfen. Als Paul einmal – „alle Regeln missachtend“ – einen Radiergummi, den er vergessen hat, aus seinem mit einer Klappe verschlossenen Pult fischen will, wird er vom diensthabenden Vizepräfekten dabei ertappt: Er „näherte sich mir mit einer Art Dreisprung und schlug mit beiden Fäusten auf die Klappe. Der Schmerz in der eingeklemmten Hand war groß, aber ohne nachzudenken, entschied etwas in mir, daraus noch Größeres zu machen, eine Tragödie, die den Vizepräfekten verstören sollte. Ich schrie, sprang auf, um mich gleich danach noch heftiger schreiend zwischen den Stuhlbeinen und Beinen der Studierenden auf dem, zur Abwehr von Ungeziefer, mit Petroleum eingelassenen Bretterboden zu wälzen. Einige Mitschüler sprangen erschrocken ebenfalls auf, und inmitten des Tumultes begann ich zu singen: ,Großer Gott, wir loben dich. Herr, wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke.‘ Das Lied, mit dem wir gewöhnlich die Sonntagsmesse einleiteten. Nun geschah etwas, das ich nicht erklären kann. Als ob eine außerirdische Macht eine unmissverständliche Anordnung erteilt hätte, die es zu befolgen galt, stimmten alle, bis auf den Vizepräfekten, in den Gesang ein. Fünfzig elf- oder zwölf-jährige Buben mit ihren hellen Sopranen.“

Die Szene würde sich sowohl in einem Film von Pasolini wie in einem von Peter Weir gut machen, und sie zeigt bereits, mit welch heiterer Monstrosität Paul sich anschickt, den dramatischen Treibstoff für seinen Aufbruch ins Erwachsenwerden zu sortieren. Das Buch ist reich an solchen Stellen, und die vielleicht fürchterlichste findet außerhalb der Mauern des Kollegs, dafür im Zentrum der familiären Kampfzone statt, in den pittoresken Kulissen des Salzkammerguts, wo die Familie Silberstein die Sommerfrische zu verbringen pflegt.

„Ich bring mich um“. Es ist 1955, ein Nachmittag im August, der Vater – er „war aus Eisen“ – steht in Fürberg am Ufer des Wolfgangsees, blattelt mit Zehngroschenstücken und singt eine Schlagermelodie. Plötzlich, wie in der Landestheaterinszenierung einer Horváth-Groteske, beginnt die Mutter zu schreien: „,Ich bring mich um. Ich ertrag’s nicht mehr.‘ Dann lief sie ans Ende des hölzernen Stegs und ließ sich mit einem Dirndl, der Dirndlbluse, weißen Stutzen und schwarzsamtenen Silberschnallenschuhen bekleidet in den See fallen.“ Dem Vater ist die verzweifelte Hysterie seiner Frau nur einen beiläufigen Kommentar wert: „Verreck! Du bist keine Träne wert.“ Während die Mutter mit dem Untergehen kämpft, besteigt er das Ruderboot und löst das Tau, mit dem es am Steg befestigt ist.

„Ich dachte, dass er die Ertrinkende trotz seiner bösen Worte retten würde, aber als er endlich auf ihrer Höhe war, schlug er sie mit einem Ruder auf den Kopf. ,Verreck! Es ist für uns alle das Beste.‘“ Paul und sein Bruder springen ins Wasser, um der Mutter beizustehen, „und erst im Wasser fiel mir ein, dass ich nicht schwimmen konnte“. Während sich der Vater nun um Pauls Rettung bemühen muss, gelingt es dessen Bruder, die Mutter aus dem See zu bergen. Es kehrt Ruhe ein. Alle weinen, nur der Vater hält sein Gesicht in den Händen versteckt und murmelt irgendetwas, dass die Kriege daran schuld seien, wenn er so tief gesunken sei. Paul ist „triefend nass und frierend und von niemandem benötigt und wahrgenommen“. Er will etwas „Sinnvolles tun, aber mir fiel nichts ein. So schaute ich auf meine Fingernägel und sah, dass es höchste Zeit war, sie zu schneiden. Im selben Augenblick hörte ich wieder das Geräusch von über Wasser geworfenen Münzen.“

„Hündisches Warten“. Paul Silberstein beschreibt seinen Vater als Monster, aber auch als Verzweifelten, der seine Frau zu Beginn der Nazi-Herrschaft zwingt, sich von ihm scheiden zu lassen, damit sie nicht in Sippenhaft genommen wird; der in Paris große Teile seines Vermögens in die Stärkung von monarchistischen Verschwörern investiert, die Otto Habsburg über Hitler triumphieren lassen wollen; der als Verbindungsoffizier der französischen Exilregierung, die sich um General de Gaulle in London formiert hatte, zum Weißen Haus in Washington fungiert; der den Anruf des Generals nicht entgegennimmt, weil er vorher die dunkelblaue französische Offiziersuniform anlegen will und die Schirmmütze, „die auf abstoßende Weise seine Ohren betonte“. Doch als Roman Silberstein adjustiert ist, gewährt ihm der General nicht die Gnade des zweiten Anrufs. Paul beobachtet seinen Vater beim „hündischen Warten“, und zum einzigen Mal im Leben tut er ihm leid – „aber noch mehr tat ich mir selber leid, dass [Vater] nicht bedeutend genug war, um dieses nochmaligen Ferngesprächs würdig zu sein“.

Wie ist der Umstand also zu deuten, dass André Heller über seinen Vater Ste­phan Heller Geschichten erzählt, die den Geschichten Paul Silbersteins über seinen Vater so ähnlich sind wie de Gaulle und de Gaulle? Heller selbst schweigt zu dieser Frage. Er ist klug. Als fabelhafter Geschichtenerzähler weiß er um den Wert der Legende und der unbeantworteten Frage viel zu genau Bescheid, als dass er mit der simplen Aufklärung, welche der Episoden seiner Erzählung wirklich wahr ist und welche nur wahr sein könnte, den literarischen Schwung aus der Sache herausnehmen würde. Umgekehrt überlagert die Suche nach den biografischen Wunden des prominenten Österreichers schnell die entscheidende, künstlerische Frage: Wie gut ist Hellers neue Erzählung? Was leistet sie literarisch? Wo fügt sie sich in sein großes erzählerisches Werk ein?

„Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein“ ist ein mehrfach erstaunliches Buch. Es führt vor, wie ein Stoff so lange gewartet hat, bis sein Autor in der Lage war, ihn auf der Höhe des eigenen Niveaus zu bewältigen. Heller hat bereits die eine oder andere Facette seiner Biografie in seine klingende, manchmal manieristische Prosa übersetzt: Schon in seinem Erzählungsband „Als ich ein Hund war“ steht er an der Bahre des Vaters und weint diesem keine Träne nach. Und doch brauchte es Zeit, Abstand und die seelisch-künstlerische Aufgeladenheit des reifen Autors, bis er den Stoff in eine neue Vielfalt von Formen übersetzen konnte. Die Sprache ist nicht mehr „wie Schnitzler“ oder „wie Maupassant“, so wie es Joachim Kaiser nach der Lektüre des Erzählbands „Schlamassel“ diagnostiziert hat. Sie nähert sich konsequent einem autochthonen, Heller’schen Eklektizismus, einem Kaleidoskop vielfältig beeinflusster Bilder und Rhythmen, das sich auf keinen Vergleich mehr beruft – und keinen scheuen muss.

Wenn die Brüder des verstorbenen Vaters in der Villa im 13. Bezirk aufeinandertreffen, könnte ein lyrisch-epischer Visconti-Film beginnen, der nahtlos in eine Episode der „Munsters“ übergeht; wenn der Vater seine Frau im Wolfgangsee untergehen lässt, zieht Fassbinder’sche Dunkelheit auf; wenn in einem Vorstadtwirtshaus eine Wahl zur „Miss Krampfader“ stattfindet, grüßen Qualtinger, Bronner und die Meister des Fünfziger-Jahre-Witzes; einzelne Träume des jungen Paul könnten auch in der „Omama im Apfelbaum“ geträumt werden, und manche Sergio-Leone-Passage verwandelt sich durch ein, zwei Kunstgriffe des Autors in eine Legende von biblischer Wucht. Doch so vielfältig und assoziationsfördernd die Bilder sind, die Heller erzeugt, in seiner Sprache bleibt er dem klassischen Duktus treu, den die großen österreichischen Erzähler der vorvergangenen Jahrhundertwende geprägt haben. Ein Popliterat ist er nicht und will er nicht sein, und auch die schnellen, lakonischen Writer der angloamerikanischen Literatur haben in Hellers Art, seine Welt entstehen zu lassen, keine Spuren hinterlassen.

Von vielen seiner Manierismen hat sich Heller verabschiedet. Worten, deren Klang ihn stets berauscht hat, widersteht er – meistens jedenfalls. Dafür lässt er auf dem Boden seiner Biografie einen Baum von wunderbaren Legenden wachsen, und die Frage, welche dieser Legenden stimmt und welche nicht, wird am Schluss nur ­eine von ihnen sein.

Von Christian Seiler