„Wie Armstrong auf seinem Rad“

„Wie Lance Armstrong auf seinem Rad“

Michael Stipe, Mastermind der US-Band R.E.M.

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profil: R.E.M. gelten als Superstars der so genannten Alternative-Rock-Szene. Klingt das Etikett „alternative“ in Ihren Ohren nicht schon ein wenig albern?
Stipe: Das ist ein Begriff, der einmal Bands beschrieben hat, die in keine Kategorie passten. Er wurde nur sehr schnell zu einer eigenen Kategorie. Der Mainstream hat sich den Begriff einverleibt wie alles andere auch, das einen gewissen Erfolg hat. Ich glaube aber, dass die Essenz dessen, was das Wort ursprünglich meinte, noch immer existiert.
profil: Ihr neues Album „Around the Sun“ klingt überaus entspannt, aber auch sehr melancholisch. Hat sich bei R.E.M. ein Gefühl der Reife eingestellt?
Stipe: Es ist nicht so, dass wir eine reife Platte machen wollten. Wenn alles gut geht, teilen die Songs uns mit, was sie sein wollen. Man führt so etwas wie einen Dialog mit der Musik. Ich will nicht wie ein Hippie klingen, denn eigentlich spreche ich mit Songs ja nicht, aber dieses Album entstand unter extrem günstigen Bedingungen: Wir haben diese Musik eher gefunden als geschaffen, das war schon seltsam.
profil: Macht es Ihnen eigentlich noch Mühe, ein Album fertig zu stellen?
Stipe: Ich bin von uns dreien der am wenigsten produktive Schreiber. Für mich war und ist es ein gewaltiger Kampf, die Dinge zu artikulieren, die ich mitteilen will. Ein Popsong ist ein sehr beschränktes Medium, wenn es darum geht, eine Idee zu vermitteln. Noch schwieriger ist es, mehrere Ideen zu vermitteln – und dann soll man all diese Ideen auch noch sinnvoll zu einem Album verknüpfen. Wir hatten für „Around the Sun“ aber mehr Songs zur Auswahl als je zuvor. Die Schreibblockade, an der ich vor ein paar Jahren litt, ist weg – ich hoffe, das bleibt auch so.
profil: Es ist nicht immer leicht, Ihre sehr assoziativen Songtexte zu entschlüsseln. Wie sehr liefern Sie sich der Sprache aus, wenn Sie schreiben?
Stipe: Sehr. Die besten Songs entstehen immer dann, wenn ich nicht nachdenke. Das ist eine Sache des Adrenalins, das übrigens auch für den Trance-Zustand bei Konzerten sorgt. Dieses High gehört zu den besten Dingen, die man als Performer erlebt. Da geht es einem dann wie Lance Armstrong auf seinem Rad. Man wächst, ohne irgendwas Besonderes tun zu müssen, über sich hinaus.
profil: Sehen Sie das Schreiben denn auch als eine Art Performance?
Stipe: Vielleicht – eine sehr private Performance allerdings: eine Sache, die nur für mich oder meinen Hund stattfindet. Aber wenn dabei etwas von Bedeutung passiert, ist das ein unwiederbringlicher Moment, den man, so gut es geht, festzuhalten versucht.
profil: Sie sind bekannt dafür, politisch sehr unverblümt Stellung zu nehmen. Derzeit setzen Sie sich mit Konzerten und Interviews, neben Kollegen wie Bruce Springsteen und den Beastie Boys, vehement für die Abwahl des US-Präsidenten ein.
Stipe: Wir waren heuer politisch sehr aktiv, als öffentliche Figuren, als Musiker und als amerikanische Staatsbürger. Aber wir tun auch hinter den Kulissen vieles, von dem Sie vermutlich nie lesen oder erfahren werden. Was Präsident Bush betrifft: Wir werden in dieser Sache bis zum 2. November aktiv sein. Das steht fest.
profil: Befindet sich der Künstler als politischer Agitator nicht auch in einer problematischen Position? Bei Michael Moore etwa schlägt das politische Engagement doch immer wieder in Selbst-Promotion um.
Stipe: Ich sehe das in seinem Fall nicht so. Allerdings frage ich mich, ob die Kategorie des Künstlers wirklich zu ihm passt. Er ist eher Agitator, sein Job ist es aufzurütteln. Dazu gehört eben auch der massive Einsatz seiner Person. Und er macht das gut: „Fahrenheit 9/11“ spielt mit der David-und-Goliath-Situation, wobei den US-Medien die Rolle des Goliath zukommt. Ich halte das für einen sehr puren, sehr klar inszenierten Film.
profil: Ein alter Song von R.E.M., „Shiny Happy People“, taucht in Moores Film an prominenter Stelle auf. Waren Sie an „Fahrenheit 9/11“ beteiligt?
Stipe: Nein, Moore hat einfach angerufen und gefragt, ob er das Lied verwenden könne. Wir sagten nur: Absolut! Das war’s. Wir stellten keine Fragen.
profil: Michael Moore sagt, er glaube fest an ein liberales Amerika. Teilen Sie diesen Optimismus?
Stipe: Ich bin mir nicht sicher, ob das die USA von heute widerspiegelt. Aber Amerika ist ein gigantisches Land. Bestimmte Ideen brauchen viel Zeit, um sich zu verbreiten. Man braucht vier Tage, nur um in diesem Land von Westen nach Osten zu fahren. Die Conditio humana ist auf der ganzen Welt dieselbe. Wir alle haben sehr einfache Bedürfnisse, Begierden, Träume und Ambitionen. Wir sind Tiere – sich das einzugestehen, könnte die Vereinigten Staaten fundamental verändern, daran glaube ich. Ich bin ein unverbesserlicher Optimist: der ewige Glas-halb-voll-Typ.
profil: Sie arbeiten neben der Musik auch als Fotograf, haben beispielsweise R.E.M.-Videoclips inszeniert. Sie produzieren auch Kinofilme, etwa „Being John Malkovich“ oder „Velvet Goldmine“. Woher kommt dieses Interesse an visuellen Dingen?
Stipe: Ich habe an einer Kunsthochschule studiert, so fiel es immer mir zu, an Videos, Covers, Bühne und Merchandising zu arbeiten. Musik ist für mich eine visuelle Sache. Ich kann einen Song, wenn er gut ist, tatsächlich sehen.
profil: Sind Musikvideos dann nicht eigentlich nur noch unnötige Verdoppelung?
Stipe: Nicht immer. Klar, Musikclips sind im Grunde nichts anderes als Werbespots für Songs, Bands oder Alben – ein Medium, das so ausgelutscht und so randvoll mit Klischees ist, dass es nur noch zum Gähnen reizt. Geben wir einfach zu, dass Musikvideos nach 25 Jahren kein spannendes Medium mehr sind. Und doch: In seinen raren guten Momenten zeigt es das Bild eines Songs, das dir dein eigenes Bild nicht stiehlt, sondern sogar noch bereichert.
profil: Aber die Musik ziehen Sie Ihren Filmen, Fotos und Clips dann doch immer wieder vor.
Stipe: Es gibt kein mächtigeres Medium als die Musik. Ich sage das, obwohl ich etwa die Fotografie aus sehr eigennützigen Gründen verfolge. Filme zu produzieren ist wieder etwas anderes: Es bedeutet für mich, in der Nähe anderer kreativer Menschen zu sein. Aber ich bin da nur hinter den Kulissen tätig, um in einem brutalen Geschäft ein Umfeld für die Visionen anderer zu schaffen. Musik ist viel persönlicher. Es gibt Songs, die einen so sehr an die eigene Geschichte erinnern, dass man zu träumen glaubt – und schon der Nächste, der denselben Song hört, sagt dann nur: „Ich mag den Klang der Gitarre.“ Und der Übernächste sagt: „Ich will die Stimme dieses Typen nie mehr hören, sie kotzt mich an.“ Musik ist eine höchst persönliche Angelegenheit, und die Interpretation dessen, wovon ein Song handelt, halte ich für kostbar. Ich versuche daher, meine Sicht auf den Kern eines Songs niemals preiszugeben. Meine Interpretation als Autor ist ohnehin schon da: Sie ist zu hören. Aber sie ist die unwichtigste.
profil: Denken Sie an Verkaufszahlen, wenn Sie arbeiten? Fühlen Sie kommerziellen Druck?
Stipe: Nicht so sehr. Natürlich will man, wenn man sich ein Album hart erarbeitet hat, dass es so viele Leute wie möglich erreicht. Wie sie es dann hören oder finden, steht – mit dem Internet und dem Kollaps der Musikindustrie – ohnehin längst in den Sternen. Ich habe die Geschäftsseite dieses Gewerbes immer im Auge behalten, aber ich könnte nicht sagen, dass sie mir besonders wichtig wäre.
profil: Sie haben einen unglaublich hoch dotierten Plattenvertrag. Haben Sie da nicht ununterbrochen Auflagen der Industrie zu erfüllen?
Stipe: Die einzige Auflage von Bedeutung ist, gute Musik herzustellen und nach gegenwärtigen technischen Standards aufzuzeichnen. In meinem Fall gibt es diesen mythischen Kampf zwischen Plattenfirma und Künstler nicht. Wir haben, obwohl wir uns der Sache von verschiedenen Seiten nähern, dasselbe Ziel: Diese Musik an die Leute zu bringen. Ich sage daher nicht: Zum Teufel mit euch, ich mache, was ich will! Das wäre sinnlos.
profil: Wie stellen Sie die heikle Balance zwischen dem Kommerziellen und dem Persönlichen her?
Stipe: Ich empfinde sie eigentlich als natürlich, aber ich halte es auch für wichtig, auf diese Balance zu achten. R.E.M. sollen nicht plötzlich als Popband gesehen werden, die es darauf anlegt, Hit-Singles zu produzieren.
profil: Das heißt, Hits sind bei R.E.M. eher Zufälle?
Stipe: So kann man das nicht sagen. Wenn man für einen Song massiv Promotion-Arbeit leistet, dann wäre das Wort Zufall schon ein wenig untertrieben. Man muss aber sagen: Großartige Musik kann mitten im Mainstream existieren. Und wirklich gute Popmusik, wage ich zu behaupten, gehört sogar dorthin. Es ist auch schön, Wegwerfmusik zu haben, die einfach nichts bedeutet, die sich nur wunderbar dazu eignet, damit zur Arbeit zu fahren. Aber erst wo sich das mit ein paar ernsteren Dingen verbindet, wird es spannend.
profil: Ist das Gefühl, auf der Bühne zu stehen, nach so vielen Jahren für Sie eigentlich noch spannend?
Stipe: Es ist immer noch ziemlich aufregend – und jedenfalls einer der besseren Aspekte meines Jobs. Es gibt keine synthetische Droge, die stärker ist als Adrenalin. In dieser Hinsicht bin ich Junkie.
profil: Sie haben einmal gesagt, dass Sie vor der Möglichkeit, sich auf der Bühne lächerlich zu machen, noch immer Angst hätten.
Stipe: Klar. Aber es gibt auch die befreiende Wirkung, da loszulassen und zu sagen: Okay, dann sehe ich eben wie ein Idiot aus. Wir alle wollen richtig coole Menschen sein, die jeder bewundert und für makellos und souverän hält. Ich werde das nie sein. Damit kann ich leben.
profil: Sie waren zu Beginn Ihrer Karriere „fast pathologisch scheu“, wie Sie einmal bekannten. Wie haben Sie diese Weltangst überwunden?
Stipe: Habe ich nicht. Es ist nur so, dass mein Job es erfordert, dass ich Menschen gegenübersitze, ihnen in die Augen sehe und tatsächlich kommuniziere. Darin war ich vor zwanzig Jahren gar nicht gut. Irgendwann habe ich aber gelernt, damit umzugehen. Manche finden es aber immer noch ein wenig irritierend, mit mir zu reden, weil ich dazu tendiere, an ihnen vorbei in die Ferne zu schauen. Die Distanz, in die ich blicke, ist für mich ein Bild dessen, was ich sagen will. Ich könnte auch Augenkontakt halten, aber das ist schwierig, denn ich fange dann eher damit an, die Person, mit der ich spreche, genau zu untersuchen, als mich auf meine Argumente zu konzentrieren. Das heißt: Der Punkt, um den es mir geht, liegt hinter Ihnen, irgendwo da in der Luft.