Wie junge Moslems um Freiheiten ringen

Wie junge Moslems um Freiheiten ringen: Ohne offen gegen die Eltern zu rebellieren

Ohne offen gegen die Eltern zu rebellieren

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Von Edith Meinhart

„Woher kommst du?“ So steigen „Menschen mit Österreich-Hintergrund“ normalerweise ins Gespräch ein. Auf Saya, 24, wirkt die Frage wie ein Warnschild: „Achtung! Debatte!“ Wenn sie erzählt, dass sie eine sunnitische Kurdin aus dem Irak ist, geht es los: warum sie kein Kopftuch trage, ob ihre Eltern das erlaubten, ob sie einen Freund habe, was ihre Brüder dazu sagten. Und dann ist es nicht mehr weit zu Frauenrechten und Koran, Europa und Demokratie.

Menschen, die Fragen stellen, sind Saya lieber als Menschen, die glauben, „alles zu wissen, aber Klischees im Kopf haben“. Manchmal aber möchte sie „normal jung“ sein – so wie die anderen in ihrem Alter, die studieren, Freunde haben, in Wohngemeinschaften leben, rauchen, trinken, in Cafés sitzen, mit dem Zug irgendwo hinfahren und nebenbei Jobs machen, damit sich das alles finanziell ausgeht.

„Ich komme aus Kärnten“, sagt Saya fast trotzig. 1991 floh die damals Siebenjährige mit ihrer Familie aus dem Norden Iraks nach Österreich – und lebte danach zwölf Jahre lang in Klagenfurt. Es ist anstrengend, nicht ins Bild zu passen, das man sich gemeinhin von „den Moslems“ macht, doch es ist eine Erfahrung, die Saya mit vielen teilt. Der Islam sei vielschichtig und in sich gespalten wie die Mehrheitsgesellschaft auch, sagt Thomas Schmidinger, Herausgeber des Buches „Zwischen Gottesstaat und Demokratie“ (siehe Kasten). In der Öffentlichkeit geben konservative, in Vereinen organisierte Moslems den Ton an. Doch was denkt die unvertretene Mehrheit, was denken die Jungen? Vor zwei Jahren befragte Islam-Wissenschafter Mouhanad Korchide 300 Moslems zwischen 16 und 26 Jahren über ihr Verhältnis zur Religion. Fazit: Für mehr als drei Viertel der Befragten spielt sie im Alltag keine Rolle, neun von zehn sind für eine Trennung von Staat und Religion, 97 Prozent halten Demokratie und Islam für vereinbar. Das Gros fängt mit dem politischen Islam nicht mehr an als Taufscheinchristen mit katholischen Fundi-Positionen.

„Wir sind ständig damit beschäftigt, unsere Mitte zu finden: zwischen Türkei und Österreich, Islam und Islam, Ausländer und Nichtausländer“, sagt Helin*, 21, Tochter „mäßig religiöser“ Alewiten aus der Türkei, die als Gastarbeiter nach Österreich kamen. Die hübsche, sorgfältig gestylte Wirtschaftsstudentin schöpft „Kraft aus der Religion“, lässt sich davon aber nicht ihr Leben vorschreiben. Sie sei halt keine „richtige Türkin, mit Kopftuch und so“, hat kürzlich jemand gesagt. Das „und so“ ging ihr lange durch den Kopf, weil darin alles mitschwang, was „den Moslems“ pauschal umgehängt wird: ein strenges Leben, Rückständigkeit, Frauenfeindlichkeit. Helin findet es „absurd, dass es so oft um einen Islam geht, von dem ich mich abgrenzen muss, obwohl das nicht der Islam ist, wie er gehört“.

Adnan, 26, stört es, dass „auf beiden Seiten nur die Radikalen reden“. Das setzt Liberale wie ihn unter Druck, raubt ihm jeden Spielraum. Der junge Pakistani verbrachte die ersten 20 Lebensjahre in einem Dorf, strenggläubig und traditionell. Dann verschlug es ihn nach China, wo er eine Österreicherin kennen lernte, die dort Mandarin studierte. Seit fünf Jahren leben die beiden in Wien, sie sind verheiratet und ­haben einen kleinen Sohn. Adnan gab sein Medizinstudium auf, um Geld zu verdienen. Er arbeitet als Kellner und Barkeeper. Dauernd löchern ihn Nichtmoslems: „Geht das als Moslem? Darfst du überhaupt Bier trinken?“ Wenn er keine Lust hat zu streiten, sagt er: „Ich bin aus Indien.“ Doch auch Moslems nerven ihn mitunter. In „seiner“ Moschee in Wien goutierte man weder seinen Haarschnitt noch sein transkulturelles Outfit: pakistanische Kurta zu zerrissenen Jeans. Jetzt betet Adnan zu Hause: „Ich habe den Respekt vor dem verloren, was in der Moschee passiert.“

Rechtfertigen müssen sich alle: ob sie Kopftuch tragen oder nicht, beten oder nicht, rauchen und trinken oder nicht. „Wir sind schon so lange da. Eigentlich sollte das kein Thema mehr sein, dass es bei Moslems genauso viele Schattierungen gibt wie bei Christen“, sagt Helin. Saya zum Beispiel ist nur auf dem Papier Moslemin. Sie habe in der Religion „keine Lösungen für das Leben“ gefunden, sagt sie. Deniz*, 21, stammt aus der Türkei und ist in religiösen Fragen das Gegenteil von ihr: „Ohne Koran würde ich mich verloren fühlen.“ Er fastet 30 Tage im Jahr, lässt kein Freitagsgebet aus. Und auch damit kann man anecken: Die Strenggläubigen tadeln ihn, weil er nicht fünfmal am Tag betet. Seinen nichtmoslemischen Bekannten muss Deniz ständig versichern, dass ihn sein Glaube nicht daran hindere, „ein guter Österreicher zu sein“. In Amerika kennt man Bindestrich-Identitäten, hier heißt es: entweder Moslem oder was? Debatten wie kürzlich jene über jene 20 Prozent Islamlehrer, die ihre Religion mit der Demokratie für unvereinbar halten, ärgern ihn, weil sie immer gleich ablaufen: „Man führt eine Gruppe vor und tut, als wären alle so.“

Glaubensfragen. Er selbst hat früh gelernt, dass Moslems so unterschiedlich sein können wie Tag und Nacht. Sein Vater kam vor 30 Jahren ins Land, seine Mutter zehn Jahre später. Deniz, der jüngste von drei Brüdern, ist hier geboren. Seine Mutter war in der Türkei nicht besonders religiös gewesen. Erst in Österreich entdeckte sie den Koran und fing an, ein Kopftuch zu tragen. Sie tat es nicht ihrem Mann zuliebe. Deniz’ Vater ist als aufrechter Atatürk-Anhänger und Kemalist weder auf den Islam noch auf Kopftücher erpicht. In der Familie steht es in Glaubensfragen drei zu zwei: Die Mutter, Deniz und ein Bruder sind religiös, der Vater und ein anderer Bruder nicht. Doch man respektiere einander, sagt Deniz. Wenn der religiöse Teil der Familie im Ramadan fastet, isst der nichtreligiöse Teil auswärts.

Dieses Gefühl, aus „verschiedenen Arten Leben wählen zu können“, hatte Deniz außer Haus nur selten. 2001, als islamistische Terrorkommandos Flugzeuge in die New Yorker Twin Towers steuerten, und später, als in London und Madrid Bomben explodierten, ging er noch in die Schule. Ein Lehrer habe ihn versehentlich einen „Islamisten“ genannt, die Klassenkollegen sekkierten ihn mit „Bombenwitzen“. Hilfreich sei das nicht gewesen, mitten in der Pubertät.

Anfang 20 geht es um andere Themen, doch es wird nicht unbedingt leichter. Jade* ist eine zurückhaltende Irakerin, die ihre Haare mit einem Tuch bedeckt. Die Vorstellungen ihrer tiefgläubigen Eltern vom richtigen Leben sind so weit von ihren eigenen entfernt, dass sie schon lange aufgehört hat, darüber zu sprechen. Sie war 14, als sie zu Hause ihre sehnlichsten Wünsche offenbarte: „Eine eigene Wohnung und eine Katze.“ Die Mutter schrie: „An mich denkst du nicht?“ Danach habe sie nur noch selten versucht, ihren Eltern zu sagen, was sie denke. „Sie haben fixe Ansichten und erlauben nicht, dass ein junger Mensch wie ich an ihrem Weltbild rüttelt.“

Jades Eltern wissen nicht, dass sie nicht fünfmal am Tag betet und aus dem Islam nur herauspickt, was ihr zusagt. Ramadan zum Beispiel findet sie schön, weil da die Familie gemeinsam zu Abend isst. Erst recht wissen ihre Eltern nicht, dass sie malen und schreiben möchte, Künstlerin sein. „Ich habe einen starken europäischen Anteil, den möchte ich mit meinen Wurzeln verbinden“, sagt sie. Irgendwann will sie Kinder haben und ihnen Arabisch beibringen. Jades Vater glaubt, er allein sei für seine Tochter verantwortlich. Vor allem aber glaubt er, dass seine Tochter das ebenso sieht. „Meine Eltern wissen höchstens zehn Prozent von mir“, sagt Jade. Ab und zu denkt sie an Rebellion, doch lässt sie den Gedanken meist schnell fallen. Ihren Eltern einen „so großen Schmerz zuzufügen“ würde auch ihr wehtun: „Am Ende wäre es das nicht wert.“

Für die junge Irakerin ist das Kopftuch Teil ihrer Identität: „Ich bin als Moslemin geboren, etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.“ Gleichzeitig schützt das äußere Zeichen ihrer Angepasstheit ihre heimlichen Pläne. Ausbildung, Beruf, Familie, der eigene Platz in der Gesellschaft beschäftigen viele junge Moslems mehr als die richtige Auslegung des Korans.

Es ist ein zähes Ringen um Freiheiten, selten eine offene Rebellion. Elmira*, 27, türkischstämmige Wienerin, hat seit Jahren einen „sehr lieben“ österreichischen Freund. Zwei Jahre lang ließ sie zu Hause seinen Namen fallen, bevor sie damit herausrückte. Ihre Eltern reagierten zunächst überraschend milde. Ihr Vater spielte den Beschützer, sagte, für ihn zähle, dass der junge Mann seine Tochter gut behandle. Nach einer Weile jedoch kippte die Stimmung. Elmira werde „ihre Wurzeln verlieren“, klagte ihre Mutter. Die türkische Gemeinde hatte der Frau zugesetzt, ihre Tochter zur Räson zu bringen. Monatelang stritt, diskutierte und verhandelte Elmira mit ihren Eltern. Dann durfte ihr Freund einmal zum Essen kommen. Nun geht das Drama in die nächste Runde: Das Paar will zusammenziehen – ohne Trauschein. Und die Eltern wissen nicht, wie sie das in der „Community“ vertreten sollen.

Für Migranten der ersten Generation ist die Community so etwas wie ein Dorfersatz. Elmira weiß, welche Macht ihr Urteil haben kann. Mitunter werden sogar „Fake-Hochzeiten“ ausgerichtet, die nur den Zweck haben, die Gemeinde zu kalmieren. Die „Braut“ zieht sich ein weißes Kleid an, die geladenen Gäste wähnen sich auf einer Trauungsfeier, in Wirklichkeit ist es bloß eine Party. Elmiras Vater hat in seiner Verzweiflung auch schon an eine solche Show-Veranstaltung gedacht. Doch seine Tochter wehrte ab: „Ich heirate, wann ich will, ohne Druck.“ Vor Kurzem erkundigte sich Elmira sogar, was sie machen müsse, um nicht mehr Moslemin zu sein. Auf der Behörde sagte man ihr, sie brauche zuerst eine Bestätigung der Glaubensgemeinschaft, dass sie Moslemin sei. „Grotesk“ fand sie das: „Dort fragen sie mich, wozu ich die brauche, und setzen meine Familie unter Druck.“

Der patriarchalen Umklammerung versuchen junge Frauen vor allem durch Bildung zu entkommen. Österreichweit stammen 12,5 Prozent aller AHS-Schüler aus Migrantenfamilien, sagt das Unterrichtsministerium. Tendenz: steigend. „Oft ist es aber auch umgekehrt: Die Mädchen strampeln sich frei, um Bildung zu bekommen“, konstatiert Schmidinger.

Gegendruck. Leylas* Eltern kamen vor 20 Jahren nach Österreich. Ihre Ehe war arrangiert und wurde bald geschieden. Auf die Frau, die ihre Kinder ohne Mann großzog, schaute die moslemische Community besonders streng. Vielleicht gab es deshalb zu Hause nichts Wichtigeres als Bildung. „Meine Mutter wollte, dass wir selbstständig werden. Sie hat gedacht, Bildung führt aus der engen Herkunftswelt heraus“, sagt Leyla. Tatsächlich schafften es alle Geschwister an die Universität. Leylas Schwestern und ihr Bruder fügten sich den traditionellen Rollen, sie hingegen kämpft wie eine Löwin um ein selbstbestimmtes Leben. Immer wieder versagt ihr dabei die Stimme. Der Arzt sagt, das sei psychisch. Sie sei die Erste ihrer Generation, die eigene Anliegen ausdrücke, manchmal sei der Gegendruck zu stark.

Wenn Migrantinnen der zweiten und dritten Generation um mehr Freiheiten ringen, sind ihre Brüder oft keine Hilfe. Schmidinger kennt „genug Fälle“, in denen die jungen Männer ihre Schwestern sogar kontrollieren: „Die jungen Männer genießen zuerst ihre Freiheit und dann die Vorzüge des Patriarchen. Es ist nicht in ihrem Interesse, für ihre Schwestern zu kämpfen.“ Die Community schaut gnädig weg, wenn die Burschen sich austoben, bevor der Ernst des Lebens als Ehegatte und Familienoberhaupt sie einholt. Mit dem Islam hat das wenig zu tun. Auch in Österreich galten vor allem am Land Männer, die sich mit vielen Frauen vergnügten, als Helden – die „willigen“ Frauen dagegen waren als Dorfmatratzen verschrien. Veränderungen brauchen sehr viel Zeit, sagt die junge Irakerin Jade. Es hat lange gedauert, bis sie die Freiheit errungen hatte, ins Theater zu gehen und erst um Mitternacht nach Hause zu kommen. „Für andere ist das keine große Sache, für mich aber schon.“ Wenn sie beobachte, wie Menschen, die selbstbestimmt leben können, ihre Zeit mit Banalitäten vergeuden, sei ihr zum Weinen: „Sie könnten so viel mehr aus sich herausholen, wenn sie ihr Leben besser einteilen würden.“

* Name von der Redaktion geändert.