Bahnhofsbescherung

„Wien Mitte“ wächst sich zum baulichen Desaster aus

Architektur. „Wien Mitte“ wächst sich zum baulichen Desaster aus

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Von Alexander Bartl

Erst wollte der Gebäudekomplex hoch hinaus, zu hoch, wie viele fanden. Also wurden die geplanten ­Bürotürme des Bahnhofs Wien Mitte erst gekürzt und schließlich bis auf einen ganz gestrichen, denn in Sichtweite des historischen Zentrums sollte kein neumodisches Hochhaus-Ensemble die Silhouette beherrschen.

Noch ist das, womit die Wiener stattdessen beglückt werden sollen, nicht ganz fertig, noch rumoren Baumaschinen im Bauch des Gebäudes. Doch schon jetzt offenbart die gestutzte Architektur, dass der ausgebremste Aufwärtsdrang Spuren hinterlassen hat – und schön sind die nicht. Die U-förmig angeordneten Etagen, die über den unterirdischen Gleisen 35 Meter hoch aufragen, ruhen auf zehn Meter hohen Kolonnaden. Die Glasfassade knickt am unteren Rand nach innen. Sollte jemand beabsichtigt haben, dem Bau dadurch eine schlanke Taille zu verleihen, so ging das leider daneben. Mit ihrem kopflastigen Oberteil wirkt die Randbebauung vielmehr so, als wäre sie aus Frust in die Breite gegangen, weil sie nicht in den Himmel wachsen durfte.

Häusern, an denen noch gewerkelt wird, sagt man normalerweise nichts Übles nach, immerhin könnte sich die Sache auf der letzten Etappe zum Guten wenden, der Koloss zur Grazie werden oder zumindest zu einem Gebäude, das nicht aussieht wie ein Glassarg auf Stelzen. Doch im Fall Wien Mitte muss man alle Hoffnung fahren lassen: Denn so, wie sich der Bau schon jetzt wehrlosen Passanten aufdrängt, sobald sie, von der Innenstadt kommend, über die Landstraßer Hauptstraße schlendern, ist es fast unmöglich, der neuesten Wiener Bahnhofsbescherung ohne Skepsis zu begegnen. Klar, noch fehlt das dreigeschoßige Shopping-Paradies auf mehr als 30.000 Quadrat­metern. Aber wird man damit jene Zweifel, die beim Anblick des Gebäudes aufkamen, innen umgehend zerstreuen können?

Es ist höchste Zeit, über Form und Haltung des neuen Shopping-Büro-Bahnhofs nachzudenken: darüber, wie er das Straßenbild verändert und was er mit der Stadt, in der er sich auf immerhin fast 17.000 Quadratmetern entfaltet, durch seine Gegenwart macht. Schließlich handelt es sich um das größte innerstädtische Bauprojekt Wiens. Entwickelt wurde es mit freundlicher politischer Unterstützung aus dem Rathaus von der Wien Mitte Immobilien GmbH, die je zur Hälfte der BAI Bauträger Austria Immobilien GmbH und der Bank Austria gehört. Mit der Bahnhofsüberplattung steht ein weiteres jener ­vorgeblichen Prestigeprojekte vor der (für kommenden Herbst geplanten) Voll­endung; Projekte, die schon am Wiener Westbahnhof und bei der Neugestaltung der Schnellbahnstation am Praterstern weit hinter den vollmundigen Versprechungen zurückblieben.

Bemerkenswert eigentlich, wie eine Stadt, die nicht nur mit hochklassigen historischen Bauten punktet, sondern auch mit Beispielen spannender zeitgenössischer Architektur, ausgerechnet ihre Megaprojekte so verlässlich in den Sand setzt – zumindest, was deren Design betrifft. Breitbeinig drängeln sie sich in den Bestand und machen Reizlosigkeit durch Penetranz wett. Höflich ist das nicht; die Nachbarhäuser ducken sich neben solchen Business-Großkalibern kleinlaut in den Schatten. Aus gutem Grund, denn der Wien-Mitte-Komplex erweckt den Eindruck, als würde er dem 1906 vollendeten Wiener Bürger-Hof nebenan andernfalls sein wuchtiges Eck in die Beletage rammen.

Niemand, der auf seinen guten Ruf bedacht ist, wird ernsthaft behaupten, die Anlage sei die neue Zierde der Stadt, ein visionäres Wahrzeichen für alle, denen David Chipperfields Kaufhaus an der Kärntner Straße zu dezent, Jean Nouvels Hotel am Donaukanal zu kompliziert und das Museumsquartier viel zu schlicht geraten ist. Schönfärberei ist ebenso fehl am Platz wie die fatalistische Trostformel, dass es schlimmer hätte kommen können. Aufschlussreicher ist es, das 480 Millionen Euro teure Projekt als Symptom für eine Malaise zu deuten, die zahlreiche europäische Großstädte beutelt. Es ist eine traurige Tatsache, dass die gestalterische Qualität oftmals sinkt, je mehr Geld im Spiel ist. Wer in Immobilien investiert, verspricht sich davon Gewinn, und wer richtig viel ausgibt, um in prominenter Lage mit bester Verkehrsanbindung zu bauen (wie im Fall von Wien Mitte), reizt das Terrain gern bis zum Anschlag aus, damit sich die Sache lohnt.

Neue Wohnungen? Fehlanzeige, denn die sind nicht profitabel genug. Büro- und Gewerbeflächen müssen her, und zwar nicht zu knapp. Hier ein paar lukrative Quadratmeter mehr, dort noch ein gewinnmaximierendes Extrageschoß: Fertig ist die nach allen Regeln der Öko­nomie verkorkste Superbox. Natürlich sind rentable Immobilien in jeder Stadt willkommen – solange man ihnen von außen nicht anmerkt, wie sie innen ohne Rücksicht auf Verluste zum erhofften Megaseller aufgepumpt werden. Wo die Grundstückspreise horrend sind, also in Top-Lagen, werden die Metropolen mit Häusern verstellt, die mit robustem Ego die Lieb­losigkeit ihrer Architektur unzulänglich kaschieren.

Ein weiteres Wiener Beispiel ist das Forum Schönbrunn, jener an die Flanke des Schlossparks geklatschte Komplex, der mehrere Bauteile zu einer Art Business-Viertel mit Kaiserflair vereinen möchte. Zugegeben, in diesem Fall entstehen neben Geschäfts- und Büroräumen auch Wohnungen, allerdings in zweiter Reihe, damit der tosende Verkehr auf der Schönbrunner Straße die Menschen nicht um den Schlaf bringt. Doch was vorne dem imperialen Park die Stirn bietet, ist bloß verwinkeltes und verspiegeltes Geplänkel, das der prominenten Gegend einen Hauch von Stadlauer Gewerbepark verleiht.
Bemerkenswert ist die Selbstgefälligkeit, mit der neue Bürokomplexe vielfach in Europas Städte gequetscht werden. Häuser wie „The Squaire“ am Frankfurter Flughafen oder wie das weiß getünchte „WB 57“ in Hamburg, das sich innerstädtisch aufplustert wie eine Diva im Brautkleid, wurden ebenso beherzt am Zeitgeist vorbei gebaut wie die Wien-Mitte-Immobilie: Einer Gesellschaft, die sich wie nie zuvor um Gesundheit und Fitness sorgt, die sich mit Bio-Obst und Light-Getränken in Schuss hält, klotzt man nicht systematisch Häuser mit Hüftspeck in die City.

Zeitgenössische Architektur muss sich weder historistisch dem Bestand anbiedern, noch braucht sie sich für extravagante Silhouetten zu schämen. Allerdings sollte sie den Metropolen schon ein bisschen mehr bescheren als überzählige Kilos.

Weh ums Herz kann einem werden, wenn man sich vor Augen führt, wie schön drahtig Bürohäuser einmal aussahen: Ludwig Mies van der Rohe achtete 1958 bei seinem New Yorker Seagram Building noch auf Ecken und Kanten, Egon Eiermann baute Firmensitze mit messerscharfen Bügelfalten, und der Wiener Planer Karl Schwanzer bewies mit seiner 1973 vollendeten BMW-Zentrale in München, dem so genannten Vierzylinder, dass runde Formen nicht zwangsläufig in teigiger Architektur gipfeln müssen. Auch in der allerjüngsten Vergangenheit entstanden figurbetonte Bürohäuser. So demonstrierten Dieter Henke und Marta Schreieck mit ihren gekrümmten, in der Höhe gestaffelten Bauten im Wiener „Viertel Zwei“, wie gut sich Eleganz mit ökonomischen Maximen verträgt.

Allein den Architekten die Schuld am neuen Dick-Chic der Städte in die Schuhe zu schieben wäre unfair. Wie man Bauprojekte einer weder art- noch stadt­gerechten Brachialmast unterzieht, dafür liefert die wechselvolle Wien-Mitte-­Geschichte leider reiches Anschauungsmaterial (siehe Chronik oben). Denn was dort ungeniert aus dem Leim geht, wurde tatsächlich über Jahrzehnte von renommierten Planern stets aufs Neue durchgeknetet.

Schon in den 1980er-Jahren befassten sich der Architekt Roland Rainer und der Verkehrsexperte Hermann Knof­lacher mit dem Projekt, dann übernahm das Büro Ortner und Ortner, das auf dem Areal Hochhäuser versammeln wollte. Schließlich grätschte die Unesco dazwischen. Zwar liegt das Areal nicht in der zum Welterbe zählenden Altstadt, wohl aber in der so genannten „Pufferzone“, in der sich kein Neubau zu hoch erheben darf.

Anrainer bejubelten den Einspruch der Welterbe-Wächter, doch die Projektentwickler, die ihre Türme natürlich munter in den plötzlich so vehement verteidigten Luftraum stapeln wollten, fanden das weniger lustig. Ein neuer Wettbewerb wurde organisiert, ein neuer Gewinner gekürt. Das Projekt wurde um einen weiteren klingenden Namen reicher: Das Büro Henke und Schreieck brachte die Idee des auf drei Seiten umbauten Blocks auf, dem die Planer ein schlankes Hochhaus in den Hof schoben. Luftig und anmutig sah der Entwurf aus. Schwierig fand dies jedoch die BAI, der ein paar tausend Kommerz-Quadratmeter zum Glück fehlten. Also wurde die klar geglie­derte Kreation zu einem drallen Ding aufgebläht, bei dem ein 70 Meter hoher Bürobrocken dazwischengedrängt wurde und gleich daneben noch ein weiteres Gebäude; so blieb von den ursprünglich vorgesehenen Freiräumen nichts übrig. Dieter Henke und Marta Schreieck sahen ihre ­Vision entstellt. Es übernahmen Ortner und Ortner, die inzwischen gemeinsam mit Heinz Neumann als „Architekten Wien Mitte“ firmierten. Das Ergebnis protzt nun mit einer Bruttogeschossfläche von 130.000 Quadratmetern, einem Terrain, auf dem man 18 Fußballfelder verstauen könnte.

Die besondere Tragik dieses Unternehmens liegt darin, dass alle beteiligten Planer eigentlich viel zu gut und zu erfahren sind, um der Stadt ein solches Gebäude in die Silhouette zu prügeln. Schließlich schufen Ortner und Ortner einst das stimmige Miteinander von alter und neuer ­Architektur im Museumsquartier. Und den markanten Uniqa Tower am Donaukanal hat Heinz Neumann erdacht. Henke und Schreieck schließlich planen Häuser, die sensibel auf die jeweilige Nachbarschaft reagieren, ohne ihre zeitgenössische Identität preiszugeben.

Auch wenn sich die Bahnhofsüberbauung von innen noch als hochfunktionales Raumwunder erweisen sollte: Applaus wäre den Schöpfern gegenüber ein Affront. Denn eine ­Architektur, die sich zur Straße und zur Stadt hin derart taktlos benimmt, befindet sich entschieden unter deren Niveau. Immerhin tauchen die Baumassen in ihrer Finalform nun unter dem Unesco-Radar durch, und der Investor bekam seine Wunschflächen: im Ergebnis ziemlich wenig für derart viel Bombast.