Pascal Lamy: Europa schadet sich selbst
Interview: Edith Meinhart
profil: Angenommen, Sie wären ein bestens ausgebildeter junger Spanier ohne Aussicht auf einen Job. Wohin würden Sie auswandern?
Lamy: Ich würde in Europa bleiben, weil mir die Kultur vertraut ist. Vielleicht würde ich nach Deutschland gehen oder in die nordischen Länder, nach Großbritannien, eventuell nach Frankreich.
profil: Selbst Frankreich, traditionell ein Einwanderungsland, läuft derzeit der akademische Nachwuchs davon.
Lamy: Niemand weiß, ob er nicht zurückkommt. Die Menschen gehen dorthin, wo es Arbeit gibt, das kann sich ändern.
profil: Glauben Sie an vorübergehende Auswanderung?
Lamy: Ich glaube jedenfalls nicht an einen globalen Arbeitsmarkt, der nur von Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Da spielen auch psychologische und kulturelle Faktoren mit. Suchen die Menschen Arbeit, Familie, eine bestimmte Umgebung? Was aber viel mehr zählt: Europa hat ein demografisches Problem, das es nur lösen wird, wenn es mehr Einwanderung zulässt.
profil: Wollen die Spitzenkräfte überhaupt noch kommen, die gebraucht werden?
Lamy: Das ist die große Frage. In vielen Ländern gibt es Widerstände, vor allem gegenüber Zuwanderern aus Ländern, die Europa kulturell nicht nahe stehen. Menschen wandern aus Irland oder Polen in alle Teile der Welt aus, umgekehrt funktioniert die Migration nicht so gut.
profil: Vielleicht auch, weil es quer über den Kontinent Rechtsparteien gibt, die aus der Fremdenfeindlichkeit Kapital schlagen.
Lamy: Die Einwanderungsdebatte wurde instrumentalisiert, doch in Ländern wie Österreich oder der Schweiz, geht die Entwicklung in die richtige Richtung. Es gibt weniger Fremdenfeindlichkeit, und es wird immer klarer, dass Europa sich selbst schadet, wenn es Zuwanderung verhindert.
profil: Diese Botschaft ist in Zeiten hoher Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas nicht leicht unter die Leute zu bringen.
Lamy: Verglichen mit der demografischen Entwicklung ist die Jugendarbeitslosigkeit ein kurzfristiges Problem, das wir in den nächsten Jahren lösen müssen. Wenn wir 20 oder 40 Jahre vorausschauen, dreht sich die Problemlage völlig um.
profil: Droht ein Krieg um Talente? Fehlen die besten Köpfe, die ein Land für sich gewinnt, in einem anderen?
Lamy: Das können wir nur durch globale Regeln verhindern, wie sie für Güter und Finanzströme gelten, nicht aber für Menschen. Natürlich ist das um einiges schwieriger. Menschen haben Rechte, Waren nicht.
profil: Migration ist jetzt schon stark geregelt.
Lamy: Ja, auf nationaler Ebene, aber nicht global. Für Migrationsströme gelten viele Import- und Exportbeschränkungen, verglichen mit Gütern und Dienstleistungen. Ich sitze im Vorstand des Marc Mikowski Orchesters, das immer wieder in Salzburg gastiert. Man sollte meinen, Musiker könnten freier reisen als Installateure. Tatsächlich ist jeder Auftritt mit massivem Papierkram verbunden. Die Künstler brauchen sogar eine Arbeitsgenehmigung, wenn sie ein Konzert geben.
profil: Werden die Nationalstaaten je bereit sein, die Kontrolle über ihre Grenzen abzugeben?
Lamy: Das hängt davon ab, welche Vision sie haben, was ihrem Land nützt. In den USA etwa wird über die Legalisierung von zehn Millionen Einwanderern diskutiert, und das sicher nicht aus philanthropischen Überlegungen, sondern weil es das Land vorwärts bringt.
profil: An wem sollte sich Europa ein Beispiel nehmen?
Lamy: Das beste Beispiel auf diesem Planeten ist Kanada, nicht zuletzt deshalb, weil die Bürger die Einsicht teilen, dass Zuwanderer gut für ihr Land sind.