"Schau, a Beatles!"

Wienpop: Ein halbes Jahrhundert Austro-Musikgeschichte

Musik. Der Interview-Ziegel "Wienpop“ fasst ein halbes Jahrhundert Austro-Musikgeschichte zusammen

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Von Thomas Edlinger

Wenn sich Ostbahn-Kurti alias Willi Resetarits an die versprengte Popszene im Wien der frühen 1960er-Jahre erinnert, kommt ihm das Bild der "Urchristen“ in den Sinn, die in den Lokalkatakomben ihren musikalischen Passionen nachhingen - teils sogar im Naheverhältnis zu jener Handvoll von Kunstavantgardisten, die an den Nebentischen an ihren Dopplern saugte. Es ist die lange, bleierne Zeit in der "toten Stadt“, wie es auf den Punk-Lederjacken später heißen sollte, in der Wienerlied-Sänger wie Horst Chmela als erste Rock’n’Roller durchgehen, Vinyl-Singles "Blue Jean Jack aus Meidling“ heißen und Haarbüschel über dem Ohr mit den Worten "Schau, a Beatles!“ kommentiert werden.

"Wienpop“, ein aus 130, fast exklusiv männlichen Interviewstimmen komponierter Erinnerungsstrom über das urbane Nachtleben und die darin geborene Musik, lockt - ähnlich wie der deutsche Oral-History-Vorläufer "Verschwende deine Jugend“ - mit einer Vielzahl solcher verwobenen G’schichterln. Er zeigt, wie sich das Lebensprinzip Pop in der Stadt einnistet: zunächst als Imitat angloamerikanischer Vorbilder, oft gebrochen durch den urösterreichischen Hang zum Kabarettistischen und Aktionistischen, dessen Kultivierung in den 1970er-Jahren zur Hochblüte des Austropop führte. Die Ausläufer der Punk-Explosion nach der Arena-Besetzung setzen, sehr effizient, "Geschwindigkeit und Licht“ (so Zeitzeuge Thomas Kramar) gegen die dunkelgrauen Lieder der Latzhosenfraktion.

Distinktion wird auch innerhalb des Popszene wichtig. Die Jungen brechen mit den Kontinuitäten, Wien erfindet sich mit Blick auf London und Berlin neu. Die Lokale werden neonhell, die Drogen sollen wach und nicht "waach“ machen, und die vielen vergessenen Bands jener Periode heißen Kleenex Aktiv, Kamillentee oder Vaterlandverräter. Postpunk und New Wave bilden anschließend die Ursuppe, aus der sich die Anfänge von Elektronik und später Techno herausschälen. Seit den 1980er-Jahren normalisiert sich die bis dahin unterentwickelte Popkultur und findet zu neuem Selbstbewusstsein. Die letzte Dekade vor der Jahrtausendwende zeigt - nicht nur durch Hypes wie die Wiener "Kaffeehaus-elektronik“ um Kruder & Dorfmeister oder die Wertschätzung der experimentellen Szene rund um Christian Fennesz und Peter Rehbergs Mego-Label -, dass man auf Augenhöhe mit internationalen Entwicklungen agiert. Wie überall auf der Welt schießen die Clubs aus dem Boden, die DJ-Culture setzt sich durch, und nach einer ersten Beschnüffelungsphase des US-Stoffes in der Ö3-"Musicbox“ werden sogar regionale HipHop-Geschmacksstoffe produziert. Wien ist um 2000 zwar nicht Berlin geworden. Dafür muss man sich, wie einst Stefan Webers Band Drahdiwaberl, auf der Bühne auch nicht mehr fäkal an Musikkolleginnen wie Jazz Gitti abarbeiten, wie es in der langen, analen Phase des Wienpop nicht unüblich war.

W. Gröbchen, Th. Mießgang, F. Obkicher, G. Stöger: Wienpop. Falter Verlag, 400 S. EUR 39,90