Faul, gefräßig und doch die großen Stars

Wiener Knut

Warum sind die Kuschel-tiere bei uns so beliebt?

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Die Sonne ist wieder da, jetzt sollten wir filmen“, sagt „Panda-TV“-Regisseur Heinz Leger. Der Kameramann nimmt eine der im Gehege montierten Überwachungskameras ins Visier. Währenddessen telefoniert Regisseur Leger mit der Tierpflegerin im Pavillon: „Kannst du die Kamera jetzt bewegen?“ Die Videokamera schwenkt vom schlafenden Pandamännchen über den kleinen Teich zur Filmkamera, die gerade sie, die Videokamera, aufnimmt. Der Beobachter beobachtet den Beobachter des Beobachters. Willkommen bei der Panda-Show!
Seit in den Morgenstunden des 23. August im Wiener Tiergarten Schönbrunn zwei Pandababys geboren wurden, von denen eines überlebte, stehen die österreichischen Medien kopf. „Sensation!“, jubeln sie. „So süß!“, „Noch so klein und schon sooooo bärig!“, „Es nuckelt auch nachts!“, „Der neue Superstar!“. Und (zwar kein Cordoba, aber immerhin ein gerechter Ausgleich): „Nun hat auch Wien seinen Knut!“

Zustandsbericht. Der „Ö3-Wecker“ bringt einen täglichen, von der diensthabenden Pflegerin gelieferten Zustandsbericht („Es schläft gerade“, „Es saugt gerade“, „Es schläft gerade“). Tageszeitungen animieren Kinder zum Pandazeichnen. Online-Magazine begeben sich auf Namenssuche („Krümel“, „Schön-Brummi“, „Fiat“). „Österreich“ verlost den „ersten Live-Blick“ auf das Pandababy. Auf ORF2 läuft jeden Sonntag ein 20-minütiges „Panda-TV“ mit Neuigkeiten aus dem Zoo und werktäglich ein kurzes Pandavideotagebuch, in dem dann beispielsweise über die Überwachungskameras im Gehege berichtet wird. Am Mittwoch der Vorwoche stattete Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel dem neuen Herziputz der Wiener einen Staatsbesuch ab.
Viel Aufregung um ein seltsames Tier, dessen Dasein sich hauptsächlich ums Fressen dreht. Der Große Panda (Ailuropoda melanoleuca), dessen Vorfahren sich vor rund 15 Millionen Jahren von der Entwicklungslinie der Bären entfernten, hat sich nämlich im Laufe der Zeit auf einen Lebensraum spezialisiert, in dem es fast nur Grünzeug zu futtern gibt. Anatomisch mit dem kurzen Verdauungssystem eines fleischfressenden Raubtiers ausgestattet, lebt er heute fast ausschließlich als Vegetarier, genauer gesagt als Bambusverzehrer. Andere Pflanzen oder Pilze oder ein nahrhaftes Aas nimmt er nur selten zu sich. Seine Vorliebe für den Bambus hat sogar zur Entwicklung eines Greifballens an seinen Sohlen geführt, eines eigenen „Daumens“, der das Festhalten von Bambusrohren erleichtert.
Eine extreme Spezialisierung, die aus Menschensicht ein wenig aufregendes und äußerst mühsames Leben bedeutet: Gut vierzehn Stunden am Tag opfert der Popstar des Naturschutzes allein der Nahrungsaufnahme. Da Magen und Darm die pflanzliche Zellulose nicht verwerten können und nur der Inhalt der Zellen der Bambuspflanzen Energie und Protein liefert, muss der im Schnitt 120 Kilo schwere Pandabär Unmengen von Stängeln, Blättern und Sprossen zu sich nehmen, 30 Kilo am Tag, in freier Wildbahn meist noch mehr. Ein Job, der keinen längeren Schlaf erlaubt, von interessanten Freizeittätigkeiten ganz zu schweigen. Der kraftraubende Sex bleibt auf das Notwendigste beschränkt. Und auf eine geringe Auswahl an Partnern.
Kein Wunder, dass einige Wissenschafter die Pandabären in einer „evolutionären Sackgasse“ sehen, wie sie schon andere Nahrungsspezialisten im Laufe der Naturgeschichte einschlugen. „Sobald sich die Lebensumstände des Spezialisten wesentlich ändern, ist er zum Untergang verurteilt“, schreibt der Wiener Wissenschaftstheoretiker Franz M. Wuketits in seinem Buch „ausgestorben – ausgerottet“. Da Evolutionsprozesse nicht umkehrbar seien, „kann keine einmal spezialisierte Art wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren, an dem ihr noch mehrere Entwicklungsmöglichkeiten offenstanden“.

Provokante Stimmen. Kein Wunder auch, dass inmitten der weltweiten Pandavergötterung provokante Stimmen laut werden, man täte doch besser daran, die Bären mit dem traurigen Blick weitab von den neugierigen Blicken des Publikums in aller Stille aussterben zu lassen. „Weiß Gott, der dröge Bär hat viel getan, um sich aus dem Verkehr zu ziehen. Doch so einfach ist das heute natürlich nicht mehr. Artenschutz ist eine ernste Sache und gestattet keine Ausnahme“, schreibt der Ex-profil-Mann Wolf Lotter im deutschen Wirtschaftsmagazin „brandeins“ zum Thema „Bitte nicht helfen!“. Und legt an anderer Stelle noch nach: „Während die ganze Welt das Recht auf aktive Sterbehilfe diskutiert, hat der Panda nicht mal einen Anspruch auf die passive Variante.“
Solche Ansichten mögen in den mit Pandaplüschbären, Pandarucksäcken, Pandapolstern und Pandapatschen ausgestatteten Kinderzimmern für Entsetzen und Empörung sorgen, die Strategen des Tiergartens Schönbrunn bleiben gelassen: „In einer Welt, in der die Natur so maßgeblich vom Menschen beeinflusst wird, kann man nicht mehr von einem natürlichen Aussterben sprechen. Bei neunzig Prozent aller bedrohten Tierarten spielt einfach der Lebensraumverlust eine große Rolle. Und so ist es auch beim Großen Panda“, kontert Regina Pfistermüller, die neu eingesetzte Kuratorin für Forschung und Artenschutz.
„Der Große Panda in den chinesischen Reservaten ist vor allem durch Landwirtschaft, Straßenbau, Bambusernte und Wilderei bedroht“, ergänzt die Zoologin und Pandatierpflegerin Eveline Dungl. „Und indem wir ihn schützen, quasi als Flagship-Art, schützen wir auch die anderen Tierarten in diesem Lebensraum, wie zum Beispiel für uns Menschen wenig attraktive Krötenarten.“ Dungl, die im Jahr 2003 in der mit 120 Tieren weltweit größten Pandazuchtstation in Wolong (in der südwestlichen Provinz Sichuan) ihre Einschulung im Bereich Pandapflege erhalten hat, verfasste vor Kurzem eine Dissertation über die visuellen Fähigkeiten ihrer Schützlinge.
Die Hypothese, dass sich der Große Panda in einer evolutionären Sackgasse befinde und auch trotz aller Anstrengungen der Artenschützer zum Aussterben verurteilt sei, ist falsch, sagen nun auch Forscher von der Cardiff University und der China West Normal University in Sichuan. Professor Michael Bruford aus Wales und seine chinesischen Kollegen haben die genetische Entwicklung von Pandabären und die Populationsdynamik der Tiere in geschützten und ungeschützten Lebensräumen untersucht. Dabei stellten die Forscher fest, dass das genetische Potenzial des Großen Panda weder die Evolution noch die Anpassungsfähigkeit des Tieres negativ beeinträchtige.
„Unsere Forschung legt nahe, dass wir unser Wissen über die evolutionären Aussichten für den Großen Panda berichtigen müssen“, schreibt Bruford in der Fachzeitschrift „Molecular Biology and Evolution“. Die Spezies besitze die genetische Kapazität, sich an neue Bedingungen anzupassen und habe daher eine durchaus entwicklungsfähige Zukunft. „Als wir anfingen, den Großen Panda mit anderen Bären zu vergleichen, waren wir wirklich überrascht, dass seine genetische Vielfalt sogar etwas höher war als der Durchschnitt.“
Wenn Bruford Recht hat, geht es also letztendlich nur darum, angemessene Lebensbedingungen zu schaffen.

Kotballenanalyse. In den Reservaten in den Bergregionen von Zentral- und Südchina leben heute laut offiziellen Angaben 1590 Pandabären. Aber es könnten mehr sein, schätzungsweise an die 3000. Denn die bisherigen Zahlen wurden durch schlichte Volkszählungen der Wildhüter und Wissenschafter ermittelt. Bruford und sein Team versuchten es mit einer neuen Methode: Sie sammelten in einem 26 Quadratkilometer großen Reservat die Kotballen und unterzogen sie einer DNA-Analyse. So konnten sie die 27 gezählten Bären auf 66 Individuen erhöhen.
Auch im Tiergarten Schönbrunn dürften angemessene Lebensbedingungen vorherrschen, denn die Geburt des Pandababys ist die erste in Europa, die durch natürliche Zeugung zustande kam. Als sich Yang Yang und Longhui im Mai 2006 das erste Mal vor den Augen der Zoobesucher und Fernsehkameras paarten, frohlockten die heimischen Medien schon („Sex! Endlich!“), doch es folgte nur eine Scheinschwangerschaft. Heuer, Ende April, das gleiche Prozedere plus journalistischer Erregung („Es ist zum Jungekriegen! Sie haben’s getan, und zwar gleich viermal hintereinander!“), doch im August wurde die Hoffnung auf einen „Panda-Knut“ vorerst begraben: kein Baby in Sicht. Dass man den Embryo bei der Ultraschalluntersuchung wenige Wochen vor der Geburt nicht erkennen konnte, lag wohl daran, dass die Gebärmutter von dem vielen Bambus im Bauch von Yang Yang verdeckt wurde, erklärt Eveline Dungl.
Die Tierpflegerin ist mittlerweile Co-Star bei „Panda-TV“. Während sie lässig an der Glaswand des Geheges lehnt und dem Fernsehteam Auskunft gibt, drängen sich vor den beiden Monitoren beim Eingang des gesperrten Pavillons die Zoobesucher und schauen sich den Zusammenschnitt der besten Wurfbox-Szenen der letzten Woche an. „Süß!“ und „Lieb!“ und „Ma schau!“ tönt es in einem fort, denn auch wenn der Panda mit seinem Alltagsleben etwas enttäuscht, mit seinem dem Kindchenschema nahezu ideal entsprechenden Aussehen (großer runder Kopf, groß wirkende Augen und dicke Pausbacken) begeistert er allemal.

Männchen? Live sehen dürfen das Pandababy einzig die der Mutter vertrauten Pflegerinnen. Selbst die Zoodirektorin kennt das Tier nur vom Monitor. In die Hand genommen hat den kleinen Bären bisher kein Mensch, die täglichen Angaben über Größe und Gewicht stammen von Tabellen. Nach einem Foto durch die Wurfboxluke wird vermutet, dass es sich bei dem Baby um ein Männchen handelt, Klarheit wird man erst nach der ersten Untersuchung haben. Die Geschlechtsunterschiede sind bei Bären nicht so deutlich ausgeprägt, ein Pandapenis bringt es bloß auf eine Länge von drei Zentimetern. In einem chinesischen Zoo brachte heuer ein bei seiner Geburt als Männchen eingestufter Panda Zwillinge zur Welt.
Der Tiergarten Schönbrunn unterstützt den Landankauf für neue Reservate und den Ausbau der Zuchtstation in Wolong mit regelmäßigen Zahlungen. Sie sind Teil der Abmachungen, die für die zehnjährige Verleihung des Pandapaares Yang Yang und Longhui mit China ausgehandelt wurden. Andere Verpflichtungen betreffen die Ausbildung von chinesischen Reservatmitarbeitern in Sachen Wildlife-Management und die Durchführung von Forschungsprojekten (so entsteht derzeit etwa eine chronoethologische Arbeit über Zeitmuster im Verhalten des Pandajungen).

Pandapreise. Wie viel Geld nach China fließt, will Zoodirektorin Dagmar Schratter nicht verraten: „Der Vertrag ist vertraulich, aber von der Summe, die aus amerikanischen Zoos kolportiert wird (1,2 Millionen Dollar pro Panda im Jahr, Anm.), sind wir weit entfernt. Das kann sich Schönbrunn nicht leisten.“ Vorgänger Helmut Pechlaner gab sich im Jahr 2003, als es eine rund 20-prozentige Erhöhung der Eintrittspreise zu rechtfertigen galt, auskunftsfreudiger: „Der Tiergarten hat sich verpflichtet, zum Lebensraumschutz der Pandas und für Forschungsprojekte jährlich 250.000 Euro zur Verfügung zu stellen und weitere 100.000 Euro in Form von wissenschaftlichem und medizinischem Gerät.“
Trotz der beachtlichen Preiserhöhung im ersten Pandajahr schaffte der Zoo damals mit zwei Millionen Besuchern einen neuen Rekord. In den darauf folgenden Jahren pendelte sich die Zahl bei 1,7 Millionen ein. Und das Jahr 2006 brachte mit 2,3 Millionen Besuchern eine neue Bestmarke. Grund dafür dürfte eher der milde Winter als die neu eröffnete Nashornanlage gewesen sein.
Ob das Wetter wichtiger ist als ein Pandababy, wird sich demnächst zeigen, wenn der junge Panda im Dezember erstmals im Gehege zu besichtigen sein wird und die Wiener Familien statt zu den Adventkrippen in den Zoo pilgern werden. Experten schätzen, dass sich die Besucherzahlen 2008 der Drei-Millionen-Marke annähern könnten. Erhöhung der Eintrittspreise soll es keine geben, auch die Jahreskarte bleibt bei 29 Euro. Und am Merchandising-Geschäft will sich der Tiergarten höchstens mit einem Stofftier in Kooperation mit der Firma Steiff beteiligen. „Der junge Pandabär ist keine Cashcow, sondern der jüngste Botschafter für den Artenschutz“, betont Schratter. Die Pandababy-Torten, -T-shirts, -CDs und -Klingeltöne werden uns trotzdem nicht erspart bleiben.

Von Peter A. Krobath