„Wir brauchen neue Aids-Medikamente“

Interview: R. C. Gallo, Mitentdecker des HI-Virus

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profil: Als es vor 25 Jahren die ersten Meldungen über Fälle einer neuen, seltsamen Immunschwächekrankheit gab, haben Sie da gleich an ein neues Virus gedacht?
Gallo: Nein, ich habe mir dabei nur gedacht: interessant, aber nicht etwas, was mein Leben verändert und was mich von meinen Forschungen abbringen kann.
profil: Woran haben Sie zu dieser Zeit gearbeitet?
Gallo: Wir hatten gerade Leukämie auslösende Retroviren entdeckt und konzentrierten uns auf die Biologie der T-Lymphozyten, das sind spezielle Killerzellen des Immunsystems, an denen wir später die Angriffsziele des Aidsvirus entdeckten.
profil: Wann haben Sie das erste Mal daran gedacht, dass die Immunschwächekrankheit durch ein noch unbekanntes Virus verursacht wird?
Gallo: Auslöser war ein Vortrag, den James Curran, ein Epidemiologe der Centers of Disease Control (CDC) in Atlanta, Anfang 1982 in unserem Institut gehalten hat. Dabei wurde uns klar, dass es um eine Krankheit von großer Bedeutung geht. Schließlich fragte Curran: „Wo sind die Virologen?“ Er dachte also an eine Infektionskrankheit, die durch eine rasche Abnahme der T-Helferzellen des Immunsystems gekennzeichnet war. Und wir wussten, wie man diese Zellen züchtet.
profil: Wie kamen Sie zu dieser Expertise?
Gallo: Schon ein paar Jahre davor hatten wir eine Proteinsubstanz namens Interleukin 2 entdeckt, mit der man diese Zellen im Labor züchten konnte. Diese von uns entwickelte Technik war der Schlüssel zur Isolierung jedes beliebigen Virus. Und erst ein Jahr davor hatten wir diese Technik dazu verwendet, um ein menschliches T-Zellen-Leukämie-Retrovirus zu finden.
profil: Wie kam es dann zur Entdeckung des HI-Virus?
Gallo: 1982 stellte ich gemeinsam mit Max Essex von der Harvard Medical School die Hypothese auf, dass die Krankheitsursache sehr wahrscheinlich ein neues Retrovirus sei. Erstens war aufgrund der Epidemiologie klar, dass es um eine neue Krankheit ging …
profil: … die sich rasch ausbreitete.
Gallo: Genau, sie war neu und breitete sich rasch aus. Drittens war vor allem eine spezielle Art von T-Zellen betroffen. Und wir wussten, dass Retroviren sowohl im Tier wie im Menschen oft solche Zellen attackierten. Viertens war laut Curran Blut ein Gefahrenpunkt, Bluter waren besonders betroffen.
profil: Wieso Bluter?
Gallo: Bluter erhalten ein Medikament mit der Bezeichnung Faktor 8. Dieser Faktor wird heute als reines Protein hergestellt, aber damals wurde es aus Blutplasma hergestellt, das von vielen Leuten gesammelt und zur Eliminierung von Bakterien, Pilzen und Parasiten gefiltert wurde. Und obwohl mehrere Faktoren auf ein Virus hindeuteten, dachten manche Wissenschafter, wenn es eine Infektionskrankheit ist, dann aufgrund eines Pilzes.
profil: Der durch den Filter gerutscht sein musste?
Gallo: Ja, sogar mein eigenes damaliges Institut, das National Institute of Allergy and Infectious Disease (NIAID), veröffentlichte noch einen Monat vor meiner gemeinsam mit Essex verkündeten Vermutung eine Erklärung, dass ein Pilz die wahrscheinliche Krankheitsursache sei.
profil: Welchen Reim haben Sie sich auf diese Spekulation gemacht?
Gallo: Ich hatte das starke Gefühl, dass sich diese Vermutung leicht widerlegen lässt. Ich dachte, der Fehlschluss sei wahrscheinlich auf eine Verunreinigung in ihrem Labor zurückzuführen, und so war es auch, denn ein Pilz kann nicht durch den Plasmafilter für Faktor 8 dringen.
profil: Wie kamen Sie dann dem Virus auf die Spur?
Gallo: Von Mai bis Dezember 1982 hatten wir keinerlei Evidenz für die Ursache von Aids, nur sporadische Hinweise auf ein Retrovirus. Die Geschichte war total verwirrend, weil wir unter den Patienten viele doppelinfizierte Drogenabhängige hatten. Die waren nicht nur mit HIV, sondern auch mit dem Leukämie auslösenden HTLV-Retrovirus infiziert. Wir hatten es also mit einer Virenmixtur zu tun.
profil: Welche Rolle spielten in dieser Anfangsphase Luc Montagnier, der Mitentdeckter des HI-Virus, und seine Mitarbeiter vom Pariser Pasteur-Institut?
Gallo: Die waren zu dieser Zeit noch nicht involviert. Luc hat mir später erzählt, dass sie sich erst ab Dezember ’82 mit der neuen Krankheit befassten, neun Monate nach unseren ersten Experimenten.
profil: Aber hat nicht Montagnier das von ihm entdeckte Virus an Sie gesandt und darüber früher publiziert als Sie?
Gallo: Was dabei unerwähnt bleibt, ist, dass ich ihm zuvor das von uns entdeckte Virus gesandt hatte. Montagnier hat nur deshalb früher publiziert, weil ich als Gutachter bei der Wissenschaftszeitschrift „Science“ für ihn interveniert habe. Die Zeitschrift „Nature“ hatte das Papier zuvor zurückgewiesen. Seine Daten waren nicht optimal, aber ich fand sie interessant. Ich war zu dieser Zeit schon ein renommierter und mit hohen Auszeichnungen bedachter Wissenschafter, ich selbst hätte derartige Daten nicht publiziert. Wir veröffentlichten dann unseren Virusnachweis Mitte 1984 in Form von vier Publikationen in „Science“ und einer im Medizinjournal „The Lancet“. Durch eine Indiskretion wurde die Geschichte früher publik. Aber über den Anteil von uns beiden gibt es heute mit Montagnier keinerlei Differenzen. Fakt ist, dass wir von Anfang an gesagt haben, es ist ein neues Virus, und dass wir einen HIV-Bluttest entwickelt haben.
profil: Die erste Aidstherapie gab es schon 1986, was war dabei der Ansatz?
Gallo: Sie sollte verhindern, dass das HI-Virus seine Erbmasse in die Zelle einschleust und sich auf diese Weise reproduzieren kann. Weitere derartige Therapien folgten bis Anfang der neunziger Jahre. Und besonders wirksame Behandlungsmethoden wurden zwischen 1994 und 1997 entwickelt.
profil: Sie meinen die Kombinationstherapie?
Gallo: Ja, man hat verschiedene Ansatzpunkte zur so genannten „triple drug therapy“ kombiniert und damit große Fortschritte erzielt.
profil: Von einer Heilung kann aber bis heute keine Rede sein. Durch die Dreifachtherapie lässt sich die Krankheit zwar in Schach halten, aber in der Praxis funktioniert das nur in den wohlhabenden Ländern, nicht aber in Afrika, weil die Behandlung für die dortige Bevölkerung zu teuer ist.
Gallo: Im Grunde haben Sie Recht, aber was Afrika betrifft, müssen wir differenzieren. US-Präsident George Bush hat im Jahr 2003 ein Aidshilfeprogramm mit dem Namen Pepfar gestartet, um den afrikanischen Staaten rasch zusätzliche 15 Milliarden Dollar für die Therapie zur Verfügung zu stellen, und zwar so, dass die Mittel nicht vergeudet werden. Vor allem sind dabei die gegen mehrere Medikamente resistenten HIV-Mutanten zu berücksichtigen, die besonders gefährliche Epidemien auslösen können. Mit anderen Worten, wir können nicht einfach die Medikamente kaufen, sie am Strand abladen und wieder nach Hause fahren.
profil: Das heißt, Sie müssen auch dafür sorgen, dass die Medikamente in die richtigen Hände kommen und auch richtig angewandt werden?
Gallo: Die Aktion muss von intensiven Trainingsprogrammen begleitet werden. Zu diesem Zweck wurden in den vergangenen anderthalb Jahren auch größere Geldmittel an die Harvard Medical School, die Columbia Medical School, die University of Pennsylvania und an unser Institut gegeben …
profil: ... um Betreuer für Afrika auszubilden?
Gallo: Zunächst um eine größere Anzahl amerikanischer klinischer Forscher zusammenzubringen. Und die Art, wie dieses Programm durchgeführt wird, ist in meinen Augen wirklich großartig, denn es verlangt, dass die universitären Kliniker mit den Hilfsorganisationen vor Ort zusammenarbeiten, die in den einzelnen Ländern auch entsprechende Akzeptanz genießen.
profil: Und das funktioniert?
Gallo: Nach unserer Erfahrung, ja. Es gibt Vertrauen und Zusammenarbeit, und die Afrikaner, die ich gesehen habe, schätzen dieses Programm. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Noch vor wenigen Jahren gab es in den größeren Städten Nigerias keinerlei Behandlungsmöglichkeiten. Wir haben dort schon etliche tausend Patienten behandelt, und wir hoffen, dass allein unser Institut im nächsten Jahr an die 100.000 HIV-Patienten behandelt haben wird.
profil: Wird es möglich sein, in einigen Jahren die Krankheit auch in Afrika in den Griff zu kriegen?
Gallo: Meine simple Antwort ist: Ich weiß es nicht. Es ist nahezu unmöglich. Aber für unser Institut, für meine Kollegen und mich wäre das ein äußerst frustrierender Befund. Wir können uns damit nicht abfinden. Wir müssen daran glauben, dass dieses Ziel erreichbar ist.
profil: Wie weit ist die Forschung, sind neue Medikamente und neue Behandlungsmethoden in Sicht?
Gallo: Sie liegen mit dieser Frage absolut richtig, denn viele Leute glauben, dass wir die Medikamente haben. Aber sogar in den wohlhabenderen Ländern werden wir neue Medikamente brauchen, denn es geht um eine lebenslange Behandlung, weil die Krankheit unheilbar ist. Und wenn Sie lebenslang behandeln und dies perfekt tun, bekommen Sie irgendwann Resistenzen. Und wenn Sie es nicht perfekt tun, bekommen Sie die Resistenzen sehr rasch.
profil: Das heißt, wir brauchen neue Medikamente, bei denen die Resistenzen nicht oder nicht so rasch auftreten?
Gallo: Wir brauchen neue Forschung mit neuen Ideen, um permanent neue Medikamente zu entwickeln. Bisher hat das funktioniert.
profil: Sind neue Medikamente in Sicht?
Gallo: Es wird eine Reihe neuer Medikamente geben. Nummer eins sind zunächst neue Medikamente der bisherigen Klasse, also so genannte Reverse-Transkriptase- und Protease-Inhibitoren, die das Eindringen des viralen Erbguts in die Zelle verhindern. Nummer zwei wird eine neue, bereits in Entwicklung befindliche Medikamentenklasse sein, so genannte Integrationshemmer, die den Einbau von genetischen HIV-Sequenzen in die zelluläre DNA verhindern. Bisherige klinische Studien schauen viel versprechend aus. Und Nummer drei wird eine Medikamentenklasse sein, an der unser Institut höchst interessiert ist. Sie wird das Virus von allem Anfang an seiner Fähigkeit berauben, in die Zelle einzudringen.
profil: Stimmt es, dass die Wissenschaft durch die HIV-Forschung viel über Viren im Allgemeinen gelernt hat?
Gallo: Wir haben viel über das Immunsystem und über die Strategien gelernt, die das Virus nützt, um in die Zelle einzudringen und sich zu reproduzieren. Das hilft uns bei der Entwicklung neuer Medikamente, beispielsweise gegen Influenza. Wir lernen auch viel durch die enormen Schwierigkeiten, denen wir uns bei den Versuchen zur Entwicklung eines Aids-Impfstoffs gegenübersehen. Sollten wir diese Hürde einmal nehmen, dann wird im Impfbereich fast alles möglich sein. Wir brauchen dafür Talent, Zeit und mehr Geld.
profil: Schon vor Jahren haben einige Pharmaunternehmen so getan, als sei ein Aids-Impfstoff in Sicht, das hat aber offenbar nicht gestimmt?
Gallo: Wenn man einen Impfstoffkandidaten testet, heißt das noch lange nicht, dass er erfolgreich sein wird. Und bei den bisher getesteten Impfstoffkandidaten war für mich von vornherein klar, dass sie nicht erfolgreich sein würden.
profil: Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, bis es einen wirksamen Aids-Impfstoff geben wird?
Gallo: Ich weiß es nicht. Unser Institut verfügt über einen Impfstoffkandidaten, der deshalb interessant ist, weil er eine Immunantwort erzeugen soll, die alle HIV-Stämme erfasst. Aber das heißt noch nicht, dass er erfolgreich sein wird.
profil: Im September werden Sie nach Österreich kommen, um am Waldzell-Meeting in Melk teilzunehmen. Werden Sie dort über Aids sprechen?
Gallo: Über Aids, über persönliche und generelle Lernerfahrungen im Bereich der Wissenschaft, über Viren und Epidemien, über die Vogelgrippe, auch über die Erinnerungsspanne von Wissenschaftern. Die spanische Grippe von 1918 oder die Kinderlähmung sind gute Beispiele. Als ich in den sechziger Jahren an die National Institutes of Health (NIH) kam, waren die dortigen Experten noch über Infektionskrankheiten besorgt, Mitte der siebziger Jahre war das vorbei. Virusprogramme wurden eingestellt, Mikrobiologie-Abteilungen geschlossen. Aids kam dann zur best- und zur schlechtestmöglichen Zeit. Zur besten wegen unserer Technologie, zur schlechtesten wegen der absoluten Überzeugung, dass wir die Ära der Epidemien hinter uns hatten.

Interview: Robert Buchacher