„Wir bestehen nur aus Klimbim“

Interview mit Dirigent Nikolaus Harnoncourt

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profil: Herr Harnoncourt, warum ausgerechnet Henry Purcell?
Harnoncourt: Weil internationales Welttheater wie jenes von Purcell oder Shakespeare nach Salzburg gehört und es keinen triftigen Grund gibt, sich auf jene Repertoire-Opern zu beschränken, die ohnedies überall gespielt werden. Warum nicht George Gershwins „Porgy und Bess“ bei den Festspielen? Fände ich gut. Heuer werden die Festspiele eben mit Purcells „King Arthur“ eröffnet.
profil: Festspielintendant Peter Ruzicka titulierte die 1691 entstandene Oper als „erstes Musical in der Geschichte“. Hat er Recht?
Harnoncourt: Das hat er von mir. Ich bezeichne das Stück seit jeher als Musical. Aber für mich ist ja auch Mozarts „Entführung aus dem Serail“ eine Operette.
profil: Mit dieser Meinung dürften Sie Mozart-Liebhaber schockieren.
Harnoncourt: Da wäre ich mir nicht so sicher. Mozart selbst hat seine „Entführung“ als Operette bezeichnet. Wenn wir nur die kitschigen Stücke des vorigen Jahrhunderts als Operetten bezeichnen, dann ist das ein pejorativer Begriff. Doch da kriege ich ähnlich rote Augen, wie wenn jemand von der „Lodenfraktion“ spricht. Da wird eine ganze Industrie verhohnepipelt. Das darf man nicht machen.
profil: Ausgerechnet Sie, der große Moralist der Branche, brechen für das Musical eine Lanze?
Harnoncourt: Es kommt doch immer bloß darauf an, was man unter Oper, Operette oder Musical versteht. „King Arthur“ ist für mich ein Musical, weil Show-Elemente, gesprochener Text, Patriotismus und Satire vereint werden. Wenn all diese Aspekte heute in ein Werk integriert würden, wäre das garantiert ein Musical. Nur müsste das vom besten heute lebenden Komponisten vertont werden – und nicht von irgendjemandem, der gerade mal ein paar lächerliche Melodien draufhat.
profil: Wer wäre das denn?
Harnoncourt: Vor zwei Generationen wäre es George Gershwin gewesen, auch Kurt Weill konnte solche Sachen.
profil: Können Sie sich auch vorstellen, dass etwa György Ligeti ein Musical schreibt?
Harnoncourt: Wenn er den Humor dazu hat, warum nicht? Das Kaliber hätte er. Ich weiß freilich nicht, ob er es gern hat, dass man ihn überhaupt für so etwas in Betracht zieht.
profil: Gefallen Ihnen die Musicals von Andrew Lloyd Webber?
Harnoncourt: Nein, unter das Niveau eines Gershwin gehe ich nicht.
profil: Henry Purcell wurde 36 Jahre alt. Der Vergleich mit Mozart liegt nahe. Hat der Brite eine ähnlich große Bedeutung?
Harnoncourt: Purcell zählt zur Hand voll der größten Komponisten, die je gelebt haben. Seine Musik ist unverkennbar. Das allein ist schon etwas sehr Merkwürdiges und Großartiges. Ganz abgesehen von den Melodien, die er schreiben konnte, und der so kühnen wie raffinierten Art, wie er Harmonien setzte. Ich bin nicht wie Marcel Prawy, der sagte: Na ja, es gibt auch schwache Stücke von Mozart. Von Mozart und Purcell gibt es keine schwachen Stücke, denn die ganz großen Meister haben nichts Schwaches rausgelassen. Da kann man angreifen, was man will.
profil: In „King Arthur“ tritt der Zauberer Merlin auf, der Geist Grimbald und der Luftgeist Philidel. Was hat der Klimbim mit uns zu tun?
Harnoncourt: Wir sollten nicht so protzig tun, als wären wir unklimbimhaft. Der Tiefgang unserer Zeit ist äußert gering, wir bestehen überhaupt nur aus Klimbim. Wenn eine Zeit geistig und kulturell über großen Tiefgang verfügt – und damals haben Leute wie Pascal oder Descartes gelebt –, dann ist Klimbim ein wunderbares Gegengewicht, vor allem hochwertiger Klimbim. Nur wir sind gewohnt, auf alles rotzig herunterzusehen.
profil: Sie stehen der Gegenwart pessimistisch gegenüber?
Harnoncourt: Ich bin zumindest der Meinung, dass wir einem dramatischen Dekultivierungsprozess unterliegen. Unlängst war ich zu einer Tagung von Gehirnforschern eingeladen, weil dort das Thema „Gehirn und Musik“ besprochen wurde. Den Forschern ist es gelungen, sichtbar zu machen, was wir Musiker längst wissen: dass durch die Beschäftigung mit Musik im Gehirn Vernetzungen hergestellt werden, die es ohne Musik nicht geben würde. Kinder haben also ein gleich großes Anrecht darauf, die Sprache der Künste zu lernen wie Schreiben oder Rechnen. Doch genau dieses Anrecht wird seit fünfzig Jahren unterminiert. Es werden Generationen herangezogen, denen wichtigstes Lebensmaterial entzogen wird. Da sehe ich schwarz, total schwarz.
profil: Beneiden Sie Merlin manchmal um seine Talente als Zauberer?
Harnoncourt: Nein, weil ich es ganz gerne habe, wenn etwas ungeklärt bleibt. Außerdem ist Merlin ja eher ein Quacksalber.
profil: Sie haben sich nie gewünscht, eine Partitur schlagartig auswendig zu können?
Harnoncourt: Nein, mein Kollege Lorin Maazel kann das. Der fährt im Taxi zur Probe und kennt nachher jede Note, weil er ein fotografisches Gedächtnis hat. Wenn man dann mit einer Frage zu ihm kommt, sieht man richtig, wie er in seiner Partitur blättert, um nachzuschauen. Das ist eine tolle Fähigkeit, hat aber mit Musik nichts zu tun. Maazel könnte das mit einem Telefonbuch genauso – denke ich.
profil: Warum machen Intendanten um „King Arthur“ für gewöhnlich einen großen Bogen?
Harnoncourt: Weil so ziemlich alle Häuser, die sich früher an „King Arthur“ versuchten, eingegangen sind. Es ist einfach unheimlich teuer, dieses Stück zu produzieren. Früher hat man geglaubt, die szenischen Anforderungen eins zu eins erfüllen zu müssen: eine Insel einzufrieren etwa.
profil: Wie lösen Sie das in Salzburg?
Harnoncourt: Ich bin Gott sei Dank nicht der Regisseur. Dafür ist Jürgen Flimm zuständig.
profil: Flimm ist auch als Nachfolger von Intendant Peter Ruzicka im Gespräch: Eine gute Wahl?
Harnoncourt: Auf jeden Fall. Insgesamt haben sich zwölf Leute beworben. Wenn ich gefragt werde, sage ich, dass sicher jeder von denen wunderbar wäre. Ich will es ja nicht selber werden.
profil: Wurden Sie gefragt, die Festspiele zu leiten? Sie waren in Salzburg der prägende Dirigent der letzten Jahre.
Harnoncourt: Nein, das wissen die schon, dass ich das nicht will. Wenn die Sprache auf Peter Ruzickas Nachfolge kommt, reagiere ich wie der Vogel Strauß: sofort mit dem Kopf in die Erde. Mich interessiert dieses Gerede nicht.
profil: Dirigent Franz Welser-Möst schlug für die Salzburger Festspiele eine deutliche Reduktion der Vorstellungen vor.
Harnoncourt: Das ist eine kluge Idee. Es kann nicht darum gehen, ein Festival über Masse zu definieren.
profil: Bayreuth, Glyndebourne, Edinburgh, Aix-en-Provence: Welche Rolle spielt Salzburg noch im internationalen Festspiel-Zirkus?
Harnoncourt: Die Festspiele haben noch immer einen großen Namen und einen großen Ruf. Die Initialzündung durch das Triumvirat Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt verlieh dem Festival seine große Autorität.
profil: Eine Autorität, die bis heute gilt?
Harnoncourt: Reden wir über etwas anderes.
profil: Die Fülle der Sommerfestivals wird immer größer: Was legitimiert ein Festival noch?
Harnoncourt: Es kann der Schauplatz
sein, wie etwa in Bayreuth, oder ein Gründungsereignis, wenn dieses erhalten bleibt. Glyndebourne existiert, weil der Ehe-mann einer Sängerin wollte, dass sie singt, und er über das nötige Geld dazu verfügte. Da es ihm außerdem gelang, Künstler
wie Fritz Busch anzulocken, wurde aus Glyndebourne ein Festival. Aber das meiste ist heute nur noch Gschaftl-huberei.
profil: Sie als Experte müssen es wissen: Warum sind die Festspielkarten in Salzburg so teuer?
Harnoncourt: Das ist ein trauriges Kapitel. An den Künstlern liegt es nicht, denn die sind für Festivals tendenziell sogar billiger als für normale Opernhäuser. Dass die Ticketpreise so hoch sind, hängt wohl damit zusammen, dass Festivals schlechter subventioniert werden. Dabei kann und darf sich Kunst nicht rechnen. Kultur ist ja kein Zirkus. Wenn von Oper verlangt wird, sich selbst zu erhalten, wird es teuer – und der Kreis jener, die sich ein Ticket leisten können, stark gefiltert.
profil: Die Bayreuther Festspiele schlugen mit dem Engagement von Starprovokateur Christoph Schlingensief und Filmemacher Lars von Trier neue Wege ein – und schlitterten prompt in Probleme. Wie flexibel sind Festivals?
Harnoncourt: Mit diesen Schwierigkeiten war zu rechnen, wenn man Festivalleiter Wolfgang Wagner und Regisseur Christoph Schlingensief kennt. Beide Seiten haben sich wohl ein bisschen überschätzt. Prinzipiell gilt, dass nicht jeder Regisseur Oper inszenieren kann. Die Grundvoraussetzung ist, dass er wirklich musikalisch ist. An Unmusikalität sind schon viele Regisseure gescheitert.
profil: 2006 ist Mozart-Jahr. Freuen Sie sich schon?
Harnoncourt: Vielleicht habe ich 2006 Grund zur Freude, aber wenn, dann sicher nicht deswegen. Vielleicht bin ich da körperlich unerwartet gut beieinander. Die allgemeine Gesinnung für 2006 lautet sicher: Was ist drin, wo ist noch etwas herauszupressen? Da mache ich mir nichts vor.
profil: Sie haben soeben Mozarts „Requiem“ auf CD herausgebracht. Warum haben Sie das Werk über zehn Jahre nicht dirigiert?
Harnoncourt: Ich habe auch Beethovens 8. Symphonie jahrelang nicht aufgeführt, obwohl die von jedem Dirigenten jedes Jahr dreimal interpretiert wird. Schuberts „Unvollendete“ habe ich ebenfalls zehn Jahre lang nicht dirigiert. Ich will einfach nur Uraufführungen machen. Ich will spontan bleiben.
profil: Sie haben das Musizieren mit Originalinstrumenten populär gemacht: Was soll von Ihren Revolutionen bleiben?
Harnoncourt: Im Zentrum stand für mich immer die Suche nach Inhalt. Wenn die Menschen glauben, es geht mir um die Form, also das Musizieren auf originalen Instrumenten, dann haben sie mich missverstanden. Ich habe auf historischen Instrumenten zu spielen begonnen, weil durch sie etwas zum Vorschein kam, was wichtig ist, etwas, das sich so besser sagen lässt. Mir ging es immer nur um das Was, nie um das Wie.
profil: Wie stehen die Chancen, dass Ihr Erbe in die richtigen Hände gelangt?
Harnoncourt: Die Chancen hängen vom Einzelmenschen ab, von den Persönlichkeiten. So weit sind wir noch nicht in der Katastrophe, dass keine Persönlichkeiten mehr entstehen.
profil: Für Furore sorgte Ihre neue Aufnahme von Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“. Tut es Ihnen Leid, im Lauf Ihrer Karriere nicht mehr Musik des 20. Jahrhunderts aufgeführt zu haben?
Harnoncourt: Was die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts betrifft, auf jeden Fall. Sterben zu müssen, ohne Alban Bergs „Lulu“ und seinen „Wozzeck“ je dirigiert zu haben, ist schon nicht so lustig.
profil: Beruhigt es Sie, dass Ihr Lebenswerk auf CD vorliegt?
Harnoncourt: Nein, so ichbetont bin ich nicht. Mir ist klar, dass von einem reproduzierenden Künstler nichts bleibt.
profil: Der Schriftsteller Peter Turrini sagte einmal, in der Kunst ginge es nur um eines: Unsterblichkeit.
Harnoncourt: Das mag die Antriebsfeder für Künstler sein, aber ich betrachte mich nicht als Künstler. Wenn ich Bildhauer wäre, würde ich selbstverständlich den Anspruch stellen, dass mein Moses oder mein David ein paar Jahrtausende überstehen sollten. Da wäre ich nicht bescheiden. All die Bachs, Mozarts und Purcells sind ja auch nicht bescheiden. Die wissen sehr genau, wer sie sind.