Wir Türken

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Ja, ich bin ein Gutmensch. Aber ich war auch schon ein eiskalter Manchesterliberaler, ein „Goebbels der Wirtschaftsberichterstattung“, wie mich Rudolf Edlinger, damals Finanzstadtrat in Wien, schimpfte. Das bloß, weil ich das Festhalten der Stadt an ihren beamteten Stadtwerken „stalinistisch“ genannt hatte. Mit Edlinger bin ich inzwischen, ein paar Jahre Klima und vier Jahre Schwarz-Blau später, befreundet.

Ob man gerade ein Gutmensch ist oder ein Bösling, hängt also maßgeblich davon ab, wo sich die Welt in Relation zur eigenen Position gerade befindet. Das sehen wir gerade ganz deutlich an der Diskussion über den Beitritt der Türkei zur EU. Da dürfen sich selbst hartgesottene politische Träumer, also etwa ich, über die Positionen der anderen Träumer, also etwa über jene von Peter Michael Lingens und Georg Hoffmann-Ostenhof, wundern.

Ja, wir sind wohl alle – wie Hoffmann-Ostenhof – für ein von christlicher Bigotterie befreites Europa, und sei es, dass diese mit einem gehörigen Schuss islamischen Weltbildes ausgetrieben werden muss. Und ja, auch ich finde – wie Lingens –, dass die Türkei mit den Erziehungsmaßnahmen der Union zu einem Staat werden kann, der die Menschenrechte besser achtet.

Aber müssen diese Wünsche an die politische Realität wirklich dazu führen, dass sich die „Guten“ nun gerieren, als hätten sie nicht die Zukunft Europas im Auge, sondern jene der Türkei? Darf der Wunsch nach einer friedlichen, multikulturellen und gerechten Welt in Argumentationen münden, die jene des türkischen Premiers oder des ostanatolischen Landwirts sein sollten? Kann Wünschen blind machen?

Lingens etwa nennt seinen dieswöchigen profil-Kommentar programmatisch: „Demütigen oder ermutigen?“. Als gelte es in diesen Tagen zuvorderst, die Freiheitsrechte und den Wohlstand der Türken zu beachten.
Den Beweis für diesen Sog führt er über eine Zeitspanne von drei Jahren: „Bereits 2001 sind 34 von der EU geforderte Verfassungsänderungen durchgeführt.“ Bei Jörg Haider hätte einem Lingens – mit Recht – ein Wohlverhalten während dreier Jahrzehnte nicht gereicht, um es als Beleg für nachhaltige Läuterung zu akzeptieren.
Und als Vorbildsfälle für den neuen Kandidaten führt Lingens Irland, die Slowakei und Rumänien.

Irland: „Die Annäherung an die EU hat Armut wie Wahn wie Terror beendet“, sagt Lingens. Das ist diskussionsbedürftig, denn wahnhaft gehasst wird weiterhin. Vor allem aber: Irland hat 3,5 Millionen Einwohner, die Türkei bald 90 Millionen.
Slowakei: „Wie es mit dem Land weiterging, kann jeder sehen, der sich ins Auto setzt“ ... und mangels Auto mit dem Zug zurückfahren muss, könnte man boshaft weiterführen. Ernsthaft: Die Slowakei hat 5,5 Millionen Einwohner, die Türkei bald 90 Millionen.

Rumänien: Rumänien hat 22 Millionen Einwohner, die Türkei bald 90 Millionen.
Wünschen macht blind; verführt dazu, fremde Interessen zu vertreten; lässt kurzfristigen Erfolg an die Stelle von gewachsener Veränderung treten; führt zum Vergleich von Unvergleichlichem.

Und verleitet zur Themenverfehlung. Denn als Hauptargument für einen Beitritt der Türkei wird stets die stabilisierende Wirkung auf das Land selbst und auf die Welt im Allgemeinen ins Treffen geführt. Mein Freund Attila Dogudan etwa schreibt dieser Tage: „Die Angst der Europäer vor einer Islamisierung ist lächerlich. Wenn ein islamisches Land zu einem christlichen Verein dazustoßen dürfte, wäre das das größte Friedensprojekt der Welt.“

Die Angst ist tatsächlich lächerlich, und ein Beitritt der Türkei mag auch friedensstiftend sein. Aber Dogudan übersieht, dass die EU zwar an ihren Wurzeln als (europäisches) Friedensprojekt ausgerufen wurde, dass die EU aber längst ein ökonomisches Projekt geworden ist. Ihre Mitglieder haben sich der meisten wirtschaftspolitischen Kompetenzen begeben, während sie die „friedensrelevanten“ wie Verteidigungs- und Außenpolitik weit gehend behalten haben.

Dieses ökonomisch determinierte Europa – das erst in der Folge zu einer politischen Einheit werden kann – ist durch einen Beitritt der Türkei gefährdet. Ein Land mit 90 Millionen Menschen, die pro Kopf auch 2015 erst ein Drittel der durchschnittlichen EU-Wirtschaftsleistung erbringen, ist ein gewaltiges Risiko. Das Gefälle im Einkommen, am Arbeitsmarkt, in der Industrialisierung könnte das bisher Erreichte ins Abgleiten bringen.

Diese ökonomische Dimension greift bei den Befürwortern – auf Kosten der Friedensdebatte – reichlich kurz. Hoffmann-Ostenhof etwa schrieb vor zwei Wochen im profil eher knapp über einen „sich rasant entwickelnden und modernisierenden Markt“, während er sich ausführlich der angeblich ähnlich restriktiven europäischen Sexualmoral widmete. Lingens beschränkt sich in dieser Woche auf den Vergleich mit dem „Ende der Armut“ in Irland.

Besonders skurril an solchen Positionen „unter uns Gutmenschen“: Durch den Beitritt der Türkei werden sich ausgerechnet die glühendsten Vertreter der politischen Einheit, der „Vereinigten Staaten von Europa“ also, mit dem Modell eines losen europäischen Staatenbundes begnügen müssen.