Wird Irland einfach abgekoppelt?

Sinnkrise nach 'No' zum Reformvertrag

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Es ist viel leichter, Ängste zu verbreiten, als sie zu zerstreuen“, klagte Alan Dukes, Abgeordneter der größten irischen Oppositionspartei Fine Gael aus Kildare im Gespräch mit profil: „Meine Landsleute haben leider all die Schauermärchen geglaubt, die ihnen die Gegner aufgetischt haben: von der Erlaubnis für Abtreibungen bis zu angeblich möglichen Strafverfahren gegen dreijährige Kinder.“

Drei Millionen Iren waren am vergangenen Freitag aufgerufen, über den Reformvertrag von Lissa­bon abzustimmen. Es war das einzige Referendum in den 27 EU-Staaten, von denen bereits 18 Länder den Vertrag ratifiziert hatten. Bei der Auszählung der Urnen kristallisierte sich rasch ein einheitlicher Trend heraus: Arbeiterbezirke und ländliche Regionen wählten klar mit Nein. Aber auch bürgerliche Stimmberechtigte stimmten nicht wie erwartet massiv mit Ja. Am Abend wurde das offizielle Ergebnis in Dublin Castle verkündet: 53,4 Prozent Nein-, 46,6 Prozent Ja-Stimmen. Die Wahlbeteiligung betrug 53 Prozent.

Die Rechnung, dass nicht einmal eine Million Iren die Weiterentwicklung der Europäischen Union mit fast 500 Millionen Bürgern aufhalten, stimmt so nicht. Denn hätte es Volksabstimmungen über den Vertrag in anderen Ländern, die sich mit Abstimmungen in den Parlamenten begnügten, gegeben, wären wohl auch dort einige negativ ausgegangen. Denn abgestimmt wurde in Irland weniger über den Inhalt des Vertrags als über nationale Anliegen und Sorgen. Der Plan, EU-weite Abstimmungen an einem Tag zu einem Thema abzuhalten und die Mehrheit entscheiden zu lassen, wurde schon bei der Ausarbeitung der EU-Verfassung von mehreren Staaten verworfen.

So schlitterte Europa am Freitag, dem 13. Juni, neuerlich – wie schon 2005, als Franzosen und Niederländer die EU-Verfassung ablehnten – in eine tiefe Existenzkrise. Doch diesmal droht der Europäischen Union erstmals auch ein Zerfall. „Die Nationalisten sind überall im Vormarsch“, stellt der frühere EU-Agrarkommissar Franz Fischler ernüchtert fest. Und er sieht eine deutliche Entwicklung hin zu einem „Kerneuropa“, einem Zusammenschluss von einigen willigen Staaten, welche die weitere Integration untereinander fortsetzen, vor allem auch auf dem Gebiet der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die anderen bleiben draußen und begnügen sich mit der bisherigen Zusammenarbeit. Die Folge wäre ein Europa mehrerer Geschwindigkeiten und das Ende der gemeinsamen Vorgangsweise.

Stopp für Erweiterung. Aber auch über ein Abkoppeln Irlands wird in den Staatskanzleien nachgedacht. „Man könnte ihnen sagen: Ihr wollt also nicht mehr bei allen Projekten mitmachen, vielleicht wollt ihr lieber einen Sondervertrag mit uns?“, erklärt ein slowenischer Diplomat, dessen Land gerade den EU-Vorsitz führt. Auch die Aufnahme weiterer EU-Mitglieder erscheint ohne den Reformvertrag undurchführbar, was zumindest Erweiterungsgegner freuen wird.

„Der Ratifikationsprozess muss fortgesetzt werden“, erklärte EU-KommissionsPräsident José Manuel Barroso am Freitag in einer ersten Reaktion. „Es ist nicht das erste Mal, dass wir ein Nein zu einem Vertrag haben, also werden wir eine Lösung finden.“ Wichtige Fragen wie Klimaschutz, gestiegene Lebensmittelpreise und soziale Themen könnten nur von der EU gemeinsam behandelt werden. In einer gemeinsamen Erklärung bedauerten die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy den Ausgang des Referendums. Die Ratifizierung solle nun in den restlichen acht EU-Ländern fortgesetzt werden. Die im Vertrag vereinbarten Neuerungen seien erforderlich, „um die Europäische Union demokratischer und handlungsfähiger zu machen“, so das deutsch-französische Führungsduo.

Lange hatte die irische Regierung mit einem sicheren Ja gerechnet. Als sie von Umfragen, die erstmals dem Nein-Lager eine Mehrheit zuwiesen, erfuhr, handelte sie verschreckt und verspätet. Alle Parteien – mit Ausnahme der katholischen Sinn-Fein-Partei, hatten für ein Ja geworben. Sogar die wegen der Senkung der Agrarförderungen lange skeptisch eingestellten irischen Bauernverbände riefen ihre Mitglieder auf, mit Ja zu stimmen. Alles vergeblich. Wie schon beim Referendum über den Vertrag von Nizza im Jahr 2001 sagte eine Mehrheit der Iren Nein zum Reformvertrag. Dass gerade Irland, das sich seit seinem EG-Beitritt 1973 auch durch üppige Förderungen aus dem gemeinsamen EU-Haushalt vom Armenhaus Europas zu einem der reichsten Länder in der EU entwickelt hat, so oft die Stopptaste drückt, hat viele Ursachen. Der Vertrag selbst, den kaum einer gelesen hat, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Irlands Konjunktur schwächte sich zuletzt ab, die Arbeitslosenrate stieg erstmals seit zehn Jahren wieder deutlich an. Die Iren klagten auch über hohe Preise in den Geschäften. Diese Alltagssorgen, gemischt mit der durchaus begründeten Angst, Irland werde in einem größeren Europa an Einfluss verlieren, etwa durch Verlust des irischen Kommissars, kamen dem Nein-Lager zugute. Dazu kam die Verunsicherung über die Inhalte des schwer lesbaren Vertragswerks. „If you don’t know, say no!“ („Wenn du’s nicht weißt, sage Nein“) lautete ein einprägsamer Slogan der Vertragsgegner.

Declan Ganley, ein charismatischer irischer Unternehmer, hatte über 1,3 Millionen Euro in eine Kampagne gegen den EU-Vertrag gesteckt: Irland sei ohne den Vertrag besser dran, hieß es auf Plakaten und in TV-Spots. Denn Irland werde keinen eigenen Kommissar mehr haben und zur Teilnahme an militärischen Operationen und zu höheren Ausgaben für die Armee gezwungen werden. Aber auch die Einmischung von Politikern aus anderen EU-Ländern erwies sich als kontraproduktiv. Die Iren sollten sich wegen der erhaltenen Millionen aus Brüssel gefälligst dankbar zeigen, forderte Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner. Dass eigentlich Frankreich 2005 mit seinem Nein zur EU-Verfassung die Lähmung der EU eingeleitet hatte, erwähnte Kouchner nicht.

Auch die Pläne von Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, die europäische Verteidigung zu stärken, kamen im neutralen Irland nicht besonders gut an, obwohl für Neutrale Sonderregelungen gelten, wonach niemand zur Teilnahme an EU-Operationen gezwungen werden kann. Auch die neue Beistandsklausel im Vertrag stellt die genaue Art der Hilfeleis­tung jedem EU-Land frei. Wenig hilfreich waren außerdem Ankündigungen der französischen Regierung, unter ihrem EU-Vorsitz eine Angleichung der Unternehmensbesteuerung anzugehen. Denn genau die niedrige Besteuerung von 12,5 Prozent hatte viele ausländische Multis, darunter IBM, nach Irland gelockt, was maßgeblich zum irischen Wirtschaftswunder beigetragen hat. Die irische Mitte-rechts-Regierung ­unter Premier Brian Cowen hatte den Ernst der Lage lange nicht erkannt. Der Schulterschluss mit Gewerkschaftern und Bauernvertretern erfolgte zu spät.

Druck aus USA. Sogar US-Politiker hatten sich in das irische Referendum eingemischt. Der frühere US-Botschafter bei den UN, John Bolton, forderte bei einem Vortrag in Dublin die Iren dazu auf, mit Nein zu stimmen, „um nicht die Bürokraten in Brüssel zu stärken“. Solche Äußerungen verstärkten den Verdacht, dass vor allem neokonservative Kreise in den USA an einem gestärkten Europa kein Interesse haben. Die Folgen des irischen Neins sind nachhaltig. Denn für ein negatives Referendum hatten die EU-Politiker keinerlei Vorsorge getroffen.

„Einen Plan B gibt es nicht“, beteuerte Kommissionspräsident Barroso. Denn der Reformvertrag selbst ist schon Ersatz für die 2005 bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden abgelehnte EU-Verfassung. Nach einer einjährigen Phase der Lähmung wurde die Verfassung gründlich abgespeckt. Ergebnis war der Ende 2007 verabschiedete Vertrag von Lissabon, der die EU durch leichtere Mehrheitsentscheidungen handlungsfähiger und durch eine Aufwertung des Europaparlaments demokratischer machen soll. Eine Charta der Grundrechte sollte – mit Ausnahme Großbritanniens und Polens – allen EU-Bürgern einklagbare Rechte sichern, vom Datenschutz bis zum Streikrecht.

„Der Vertrag von Lissabon ist besser als der geltende von Nizza, aber schlechter als die abgelehnte EU-Verfassung“, stellte der grüne Europaabgeordnete Johannes Voggenhuber fest. „Er macht die EU insgesamt demokratischer und handlungsfähiger, gerade auch gegen die schlimms­ten Auswüchse der Globalisierung.“ Doch nun hält Voggenhuber den Vertrag für kaum noch zu retten. Damit sei auch die Strategie der Regierungen gescheitert, den Vertrag „mit Verpackungskünsten“ und „durch Vermeiden von Volksabstimmungen“ durchzubekommen. Eine zweite Befragung, die in Deutschland SPD-Politiker empfahlen, lehnt Voggenhuber ab. So gebe es diesmal kein spezifisches irisches Interesse, das etwa durch ein Protokoll lösbar wäre. Auch Neuverhandlungen des EU-Vertrags „sehe ich nicht“, so der Europa­abgeordnete. Dazu gebe es derzeit keinen Konsens unter Befürwortern von mehr und weniger Europa in den Regierungen. Ob der Vertrag überhaupt noch für jene Länder, die ihn ratifiziert haben oder noch ratifizieren werden, durchsetzbar ist, ist zweifelhaft. Denn in vielen Ländern, gerade auch in Österreich, werden die EU-Gegner mobilisieren. Somit wackeln die Eckpunkte des Vertrags: Geplant waren neue Positionen wie ein „Hoher Vertreter“ (eine Art Außenminis­ter) für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, ein neuer Ratspräsident, der den halbjährlich wechselnden EU-Vorsitz weitgehend ablösen soll, dazu noch mehr Mitentscheidungsrechte für das Europaparlament sowie eine kleinere Kommission ab dem Jahr 2014. Für Abstimmungen war ein neues System der „doppelten Mehrheit“ vorgesehen. Neue Richtlinien bedürfen der Mehrheit der Mitgliedsstaaten und der Mehrheit der Bevölkerung. Dazu kam erstmals ein EU-weites Volksbegehren, für das mindestens eine Million Unterschriften in der EU gesammelt werden müssen.

Rettung. Ist der neue Reformvertrag tot?, fragen sich die geschockten EU-Regierungschefs. So soll beim dieswöchigen EU-Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel eine gemeinsame Haltung verabschiedet werden. Irlands Premier Cowen muss seine Kollegen über die Gründe des Neins aufklären und wohl auch eine Lösung anbieten.
Viel hängt nun davon ab, ob die anderen noch fehlenden EU-Staaten, darunter Großbritannien und die Tschechische Republik, die Ratifizierung des Vertrags fortsetzen oder nicht. „Wenn es zu einem Stopp kommt, dann ist der Vertrag tot“, meint Hannes Swoboda, SPÖ-Europaabgeordneter. „Wenn die anderen Länder die Ratifizierung fortsetzen, dann hat er noch eine Chance.“

Zwar erklärte der britische Premierminister Gordon Brown, dass die Ratifizierung unabhängig von Irlands Entscheidung fortgesetzt werde, aber die EU-skeptischen Tories wollen der Labour-Regierung die Entscheidung so schwer wie möglich machen. Die niederländische Regierung kündigte am Freitag an, sie werde die Ratifizierung des Vertrags fortsetzen. In Tschechien hat der Senat das Verfassungsgericht um neuerliche Prüfung des Vertragswerks gebeten. Außenminister Karl Schwarzenberg zu profil: „Man kann die EU auch mit dem Vertrag von Nizza regieren. Aber wir werden die Ratifizierung durchführen.“

Einige EU-Politiker setzen darauf, dass 26 EU-Länder ohne Irland den Vertrag umsetzen. Aber rein rechtlich ist das umstritten. „Die Iren müssen sich in einem zweiten Referendum zwischen der Stärkung Europas oder einem Austritt aus der EU entscheiden“, erklärt EU-Abgeordneter Hannes Swoboda. „Man könnte ihnen eine privilegierte Partnerschaft, etwa nach dem Vorbild der Schweiz, anbieten.“ Ein Warten auf ein positives Ergebnis bei einer neuerlichen Volksabstimmung in Irland wird dieses Mal eher abgelehnt. „Es gibt im Juni 2009 Europawahlen, dann wird im Herbst die neue Kommission bestellt. Wir können nicht ewig auf die Iren warten“, erklärt der Chef des ÖVP-Klubs im Europaparlament und EVP-Vizepräsident Othmar Karas.
Die Iren hatten 2001 den Vertrag von Nizza abgelehnt. Sie sicherten sich darauf einige Sonderrechte, etwa die Nichtverpflichtung des neutralen Irlands zur Teilnahme an EU-Militärmissionen, und gaben 16 Monate später bei einer zweiten Volksabstimmung ihre Zustimmung. Doch dieses Mal könnte man den Iren wohl nur kosmetische Operationen anbieten. Ein Ja beim neuerlichen Referendum ist damit wohl nicht erreichbar.

„Die Zeiten sind vorbei, wo man den Leuten sagen konnte: Stimmt ab, bis ein Ja herauskommt“, erklärte der Chef der sozialdemokratischen Fraktion im Europaparlament, Martin Schulz, verbittert. Und er stellte eine „tiefe Bruchlinie“ in der EU fest, zwischen Befürwortern einer weiteren Vertiefung und „jenen, die nur einen gemeinsamen Markt oder gar eine Rückkehr zu nationalen Alleingängen wollen“. Am vergangenen Freitag hat eindeutig die zweite Gruppe gesiegt.

Von Otmar Lahodynsky