Wirtschaftskrise trifft Entwicklungsländer

Wirtschaftskrise trifft Entwicklungsländer: Weil reiche Staaten Zusagen nicht halten

Weil die reichen Staaten Zusagen nicht halten

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Von Gunther Müller

Steigende Arbeitslosigkeit, Kon­sumflaute, ins Bodenlose gefallene Aktienkurse, Rezession: Rene Gibson sind die Folgen der schlimmsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten durchaus geläufig, doch der Mitarbeiter der Hilfsorganisation Rice kennt noch viel dramatischere Beispiele. Gibson ist in Bong County im Nordosten Liberias stationiert, dem viertärmsten Land der Welt. Vor wenigen Wochen hatte er den Auftrag, den am stärksten betroffenen Menschen der Region ein wenig Bargeld für das Bestellen von Feldern und das Schneiden von Brennholz zukommen zu lassen. Was dann passierte, hatte er nicht erwartet. „Es war grausam. Wir mussten hunderte unterernährte Menschen, die um Arbeit bettelten, wieder nach Hause schicken. Wir hatten einfach nicht genügend Geld zur Verfügung“, erzählt Gibson.

Liberia ist eines von 31 Ländern weltweit, die laut aktuellem Bericht der „Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen“ (FAO) dringend ausländische Hilfe benötigen, um einer Hungerkatastrophe zu entgehen. 20 dieser ex­trem gefährdeten Staaten liegen in Afrika, neun in Asien, zwei – Haiti und Honduras – in Lateinamerika beziehungsweise der Karibik. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) schlagen bereits Alarm. Wenn nicht massiv gegengesteuert werde, müsse sich die Welt auf „eine humanitäre Katastrophe in Entwicklungsländern“ einstellen, prognostizieren die Finanzinstitutionen in ihrem „Global Monitoring Report 2009“.

Bis vor zwei Jahren lasen sich diese Monitoring-Berichte noch ganz anders. Die Mehrheit der Entwicklungsländer konnte seit den späten neunziger Jahren ein Wirtschaftswachstum von durchschnittlich rund fünf Prozent verzeichnen, sie wurden in die internationale Finanzwelt miteingebunden, zogen zusehends Auslandskapital an, bauten tragfähige Wirtschaftsstrukturen auf. Es war eine echte Erfolgsstory: 300 Millionen Menschen entkamen seit Ende der neunziger Jahre der Armut.

Doch die Krise, die vergangenen Herbst von den USA ausgehend Europa und alle Industrieländer erfasste, erreichte schließlich auch die unterentwickelten Länder, vor allem das südliche Afrika. Finanzinvestoren sind dort seither verschwunden, Unternehmen ziehen Kapital und Produktionslogistik rasch wieder ab. Das Institute for Fiscal Studies (IFS) schätzt, dass die Direktinvestitionen im Jahr 2008 auf 460 Milliarden Dollar gesunken sind, das entspricht etwa der Hälfte des Jahres davor. 2009 dürften sie auf 180 Milliarden abstürzen, das ist etwa der Wert von vor zehn Jahren. „Eine Milliarde Menschen könnten in den Entwicklungsländern in die Armut schlittern“, warnt Martin Khor vom Entwicklungshilfeinstitut Third World Network.

Zusätzlich verschärft wird die Krise durch den Rückstrom von Migranten. Die Auslandsüberweisungen an die Familien zu Hause sind für Entwicklungsländer die mit Abstand wichtigste Einnahmequelle. Nun verlieren Massen von Gastarbeitern im Westen ihre Arbeit, vielen bleibt nur der Weg nach Hause. „Das Problem sind nicht nur die rückgängigen Überweisungen. Dramatisch ist, dass derzeit hunderttausende in ihre Heimatländer zurückkehren und dort versorgt werden müssen“, sagt der österreichische Entwicklungsexperte Kurt Bayer von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE).

Mittlerweile ist klar: Die Ärmsten trifft der globale Abschwung am härtesten. Und als ob das nicht genug wäre, kämpfen Entwicklungsländer zusätzlich mit dramatisch steigenden Lebensmittelkosten. „Die Preise liegen zum Teil immer noch bei 70 Prozent über ihrem Normalwert“, sagt Liliana Balbi von der FAO: „Das ist für die Bevölkerung ein absolutes Desaster.“
Die Gründe dafür sind vielfältig: Umwelteinflüsse wie Dürre oder Überschwemmungen; politisches Chaos und damit verbundene Import- und Exportausfälle; die Produktion von Bioethanol für Industrieländer, die viele Mais- und Getreideernten auffressen.

Die hohen Lebensmittelpreise drohen nun Entwicklungsprojekte, die in jahrzehntelanger Arbeit aufgebaut wurden, mit einem Schlag zu zerstören. „Kinder werden in Massen aus den Schulen genommen und zum Arbeiten geschickt, weil sich ihre Eltern keine Schulbücher und kein Essen mehr leisten können. Diese Entwicklung wird sich wohl auch dann fortsetzen, wenn die Lebensmittelpreise wieder fallen“, heißt es in einem vergangene Woche erschienenen Bericht des Institute of Development Studies (IDS).

Leben und Tod. Bis 2010 ist laut Internationalem Währungsfonds keine Besserung der Weltwirtschaftslage in Sicht. Bis dahin wird das Wirtschaftswachstum der Entwicklungsländer von über sechs auf durchschnittlich 3,5 Prozent schrumpfen. Mit ähnlichen Rückgängen sind auch europäische Volkswirtschaften konfrontiert, doch in Entwicklungsländern mit hohen Geburtenraten entscheiden Wachstumsschwankungen von drei Prozent über Leben und Tod.

Nach Schätzungen der Asiatischen Entwicklungsbank führt ein Prozent geringeres Wachstum in Asien dazu, dass um 20 Millionen Menschen mehr von extremer Armut betroffen sein werden. Umgerechnet auf die Entwicklungsländer könnte dies bedeuten, dass die Zahl der in extremer Armut lebenden Menschen um mindestens 150 Millionen Menschen steigt. Dabei handelt es sich keinesfalls um ein Binnenproblem. Hungerkatastrophen in Entwicklungsländern bergen auch Risiken für den reichen Westen. Die Wucht, mit der die Krise einige Entwicklungsländer trifft, wird zu „politischer Instabilität und sozialen Unruhen führen“, warnt Noeleen Heyzer, Vorsitzende eines UN-Auschusses für Asien und den Pazifik. Noch krasser drückte es Kandeh Yumkella, Chef der Unido (Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung), im profil-Interview im März dieses Jahres aus: „Das Migrationsproblem könnte vor allem für Europa so gravierend werden, dass dessen Wirtschaft zusammen- und das politische Chaos ausbrechen könnte.“

Dennis Blair, Direktor der nationalen US-Nachrichtendienste, hielt in einem Bericht vor dem US-Kongress am 15. Februar fest, dass die größte Gefahr für Amerika und die gesamte Welt nicht mehr von radikalen Islamisten ausgehe, sondern von gewalttätigen Unruhen und Hungeraufständen in armen Ländern. Vergangenes Jahr kam es laut dem Internationalen Ernährungspolitikinstitut (IFPRI) nach den massiven Preiserhöhungen zu 66 Hungerprotesten oder Revolten in Afrika, Asien und Lateinamerika. Es sei abzusehen, dass politisches Chaos wie in Somalia oder dem Kongo auf andere Länder überschwappen könne, sagt Blair in seinem Report. „The Axis of Upheaval“ (Die Achse des Aufstands) paraphrasierte das US-Magazin „Foreign ­Policy“ die von George W. Bush erfundene „Axis of Evil“ (Achse des Bösen) auf seiner Titelseite. Massenrevolten in Entwicklungsländern und Millionen von Menschen, die aus den Elendsregionen in die wohlhabenden Länder fliehen, seien die eigentliche Bedrohung für den Westen.

Versprechen. Die Weltbank gab vergangene Woche bekannt, den ärmsten Staaten 55 Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen. Auf dem G20-Gipfel in London am 2. April beschlossen die Staats- und Regierungschefs, dem IWF ein Finanzpaket von knapp 500 Milliarden Dollar als Kreditvolumen für Entwicklungsländer bereitzustellen. Die EU und Japan haben bereits jeweils 100 Milliarden zur Verfügung gestellt, der Löwenanteil von China und den USA lässt aber noch auf sich warten. „Man muss die Zusagen, die auf solchen Gipfeln gemacht werden, mit großer Skepsis betrachten, weil viele Versprechungen nicht eingehalten werden“, sagt Kurt Bayer von der EBWE. Auch die weithin gefeierten Absichtserklärungen der Geberländer des G8-Gipfels 2005 in Gleneagles wurden noch nicht erfüllt. Damals sagten die Staats- und Regierungschefs der acht wichtigsten Industrienationen zu, die Hilfe bis 2010 um rund 50 Milliarden Dollar zu erhöhen, bislang sind sie damit um 39 Milliarden im Rückstand. 2010 galt als Stichjahr für die Neuordnung der Entwicklungshilfe. Ein Jahr davor ist von den international besiegelten Versprechen wenig übrig geblieben. Ausgerechnet die Weltwirtschaftskrise dient als Rechtfertigung dafür, die Entwicklungshilfe nicht aufzustocken.

Auch Österreich handelt in diesem Sinne. Das Bundesbudget für die Entwicklungshilfe ist beschlossen, die Erhöhung abgesagt (siehe Kasten Seite 60): Österreich wird die internationale Verpflichtung, 0,51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben, wieder nicht erfüllen. „Es ist katastrophal“, sagt Christoph Petrik-Schweifer, Auslandshilfe-Chef der Caritas. „Österreich ist mit diesem Budget Mitglied im Club der Entwicklungshilfe-Gegner geworden.“ Außenminister Michael Spindel­egger hingegen erweist sich – wenn auch mit Bedauern – als Realpolitiker. „Wir müssen uns jetzt auf unsere Aufgaben zur Sicherung des Wirtschafts- und Arbeitsstandortes Österreich konzentrieren“, so der für Entwicklungshilfe zuständige Minister. Die Zielsetzung einer Erhöhung des Hilfsbudgets will Spindelegger aber „nicht aus den Augen verlieren“. Das wird die Hungernden in Bong County wenig trösten.