Ausstellung in Paris: Mekka des Wissens

Wissenschaftsgeschichte: Mekka der Wissenschaft

Das goldene Zeitalter der arabischen Wissenschaft

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Die bärtigen Henker von Kabul, die Entführten mit ihren vermummten Peinigern im Irak und die beinah täglich zu sehenden Bombenanschläge wie zuletzt in Bagdad oder Amman stumpfen das Publikum allmählich ab. Eines haben jedoch all diese Bilder im Bewusstsein vieler westlicher Fernsehzuschauer wachgerufen – die Gleichsetzung des Islam mit Despotismus und mittelalterlicher Finsternis. Sogar die steinewerfenden und Autos abfackelnden Jugendlichen in den Pariser Vororten schienen wegen ihrer großteils arabischen Abstammung in dieses Bild zu passen.

Doch nur wenige Kilometer von den ausgebrannten Autos entfernt, in der Pariser Innenstadt, zeigt sich ein ganz anderes, völlig konträres Bild des Islam: Eine noch bis März kommenden Jahres geöffnete Ausstellung im Pariser Institut du Monde Arabe ist dem tatsächlichen Mittelalter der islamischen Welt gewidmet, das im Gegensatz zum europäischen Mittelalter keineswegs ein Zeitalter der Finsternis, sondern ein goldenes Zeitalter der arabischen Wissenschaft war – so konträr zum gegenwärtigen Islambild im Westen, dass kürzlich sogar das amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ darüber berichtete.

Anhand von 200 Artefakten, Leihgaben von 33 großteils westlichen Museen, darunter Bücher, Karten, Globen, Musikinstrumente und Waffen, zeigt sich ein Islam der Gelehrsamkeit, der Weltoffenheit und Toleranz, reich an wissenschaftlichen Errungenschaften und neuen Erkenntnissen in Astronomie, Alchemie, Technik, Mathematik und Medizin. Genau zu jener Zeit, als Europa in blutigen Kämpfen darum rang, seinem dunklen Zeitalter zu entkommen, erlebte die islamische Welt eine Hochblüte der Philosophie und der Naturwissenschaften.

Die Ausstellung erinnert daran, dass Europa durch seine zunächst selbstgenügsame christliche Religion die Kultur der Griechen erst aus dem arabischen Schrifttum übernahm, bevor es sich in der Renaissance um direktere Zugänge bemühte. Dabei konzentriert sich die Schau auf jene Periode zwischen dem 9. und dem 16. Jahrhundert, als sich das islamische Weltreich von der iberischen Halbinsel im Westen bis zu den Grenzen Chinas im Osten erstreckte und weltoffene Kalifen wie Al-Ma’mun in Bagdad Zentren des Wissens errichteten, die eine magische Anziehungskraft auf die besten Köpfe des Zeitalters ausübten.

So etwa verfasste der in Bagdad tätige Mathematiker Al-Kwarizmi um das Jahr 825 eine Abhandlung, in der er zum ersten Mal das Wort Al-Jabr – Algebra – verwendete, um den Prozess zur Lösung von Gleichungen zu beschreiben. Unter der Patronanz des arabischen Fürsten von Córdoba konnte Ibn Rushd, ein auch unter seinem lateinischen Namen Averroes bekannter Denker des 12. Jahrhunderts, islamische Religion und aristotelische Philosophie auf eine Weise vereinen, welche das europäische Denken bis in die Renaissance beeinflussen sollte.

Schutzherren. Das riesige islamische Reich war zwar wohlhabend und geeint durch die gemeinsame Sprache, aber so stabil waren die lokalen politischen Verhältnisse auch wieder nicht, dass die Denker überall und zu allen Zeiten mit der dauerhaften Förderung durch ihre liberalen Beschützer rechnen konnten. So fiel beispielsweise der Mathematiker Ibn Sina (980–1037) in Ungnade und musste sogar einige Zeit im Gefängnis zubringen, nachdem sein Schutzherr die Macht in Persien verloren hatte. Das hinderte allerdings den auch unter seinem lateinischen Namen Avicenna bekannten Gelehrten nicht daran, den „Kanon der Medizin“ zu verfassen, der als eines der einflussreichsten Kompendien in der Geschichte der Medizin gilt.

Doch wie passen all diese Leistungen zu einer noch jungen Religion, die von allem Anfang an für sich in Anspruch nahm, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein? Es war offenbar eine Frage der Interpretation. Gleich an der Wand des ersten Ausstellungsraums ist eine Inschrift aus dem Koran zu lesen: „Gott wird jene von euch besonders erhöhen, die glauben, und jene, denen Wissen gegeben ist.“ Die arabische Astronomie beispielsweise entwickelte sich auch aus religiöser Inspiration zu einer hohen Kunst. Denn Moslems bedürfen genauer Zeitangaben für ihre fünf täglichen Gebete, der exakten Lokalisierung Mekkas und einer Festlegung, wann der heilige Fastenmonat Ramadan beginnt und wann er endet. Das war, neben grundlegender Wissbegierde, die alle Wissenschaft auszeichnet, ein zusätzliches Motiv bei der Erforschung der Himmelsbahnen, welche in der Ausstellung durch einige der ältesten diesbezüglichen Schriften und Exponate repräsentiert ist.

Fixsterne. In seinem „Buch der Fixsterne“ präsentierte Abd al-Rahman al-Sufi, ein im 10. Jahrhundert tätig gewesener Gelehrter, die exakten Koordinaten von 1018 Sternen und 48 Konstellationen. Ein Himmelsglobus aus dem moslemischen Spanien des 11. Jahrhunderts bezeichnet den genauen Standort der damals bekannten Sterne mit kunstvollen, feinlinigen Gravuren von Menschen und Tieren zur Illustration der Tierkreiszeichen.

Während der Okkupation Spaniens entwickelten die Araber das universelle Astrolabium, eine Apparatur, die es in allen Höhenlagen ermöglichte, die Zeit des Sonnenauf- und -untergangs genauso präzise zu bestimmen wie die genaue Minute des Tages. Das älteste in der Ausstellung gezeigte Exemplar stammt aus der Werkstatt Ahmad Ibn al-Sarajs, eines syrischen Instrumentenbauers, und wurde im Jahr 1329 angefertigt. Schon im Jahr 700 hatten Gelehrte, die in Diensten der Kalifen der Omaijaden-Dynastie standen, in Damaskus das erste astronomische Observatorium eingerichtet, im Jahr 820 gründete Al-Ma’um ein ebensolches in Bagdad, und viele weitere folgten während des goldenen Zeitalters, aber nicht viele davon blieben erhalten. Doch auf zahlreichen Videoschirmen werden in der Ausstellung Bilder von zwei derartigen imposanten Gebäuden aus den indischen Städten Delhi und Jaipur gezeigt.

Ebenso wie andere Gelehrte unterschieden die arabischen Astronomen des Mittelalters nicht zwischen Astronomie und Astrologie, sie hielten beides für Wissenschaft. Sie waren überzeugt, dass die Bewegungen der Planeten und Sterne das Leben eines Individuums von Geburt an beeinflussen. Wiewohl viele der damaligen intellektuellen und religiösen Führer die Lehren der Astronomen nicht völlig akzeptierten, gestatteten sie doch weit gehend den Ausdruck freier Gedanken. Die regierenden Kalifen unterstützten die wissenschaftlichen Abenteuer auch durch reichlich Geld, ohne dabei die Herkunft des jeweiligen Gelehrten zu einem Kriterium für die finanzielle Unterstützung zu machen. Viel wichtiger waren ihnen das Renommee und die neuen Erkenntnisse der Forscher – wohl mit dem Hintergedanken, dass diese Art von Wissenschaftsförderung wohl irgendwann auch Macht und Ansehen des Kalifen mehren könne.

Übersetzungen. Doch bevor die arabischen Gelehrten eigene wissenschaftliche Beiträge liefern konnten, musste zunächst das vorhandene Wissen der Griechen ins Arabische übersetzt werden, ein Vorgang, der besonders intensiv zu Beginn des 9. Jahrhunderts unter Harun al-Raschid einsetzte. Zu diesem Zweck hatten einzelne Kalifen Verträge mit dem Kaiser in Byzanz geschlossen, welche der griechischen Handschriften zur Übersetzung nach Bagdad oder in andere Zentren gebracht werden durften. Die Übersetzer waren großteils aramäischsprachige Christen, da diese im Gegensatz zu den Arabern das Griechische beherrschten. Übersetzt wurden aber auch persische, indische und chinesische Schriften.

Den entscheidenden Schritt dazu unternahm der Kalif Al-Ma’mun (813–833), indem er in Bagdad eine Art Akademie gründete, das Bait al-Hikma oder „Haus der Weisheit“, welches speziell dazu dienen sollte, das reiche Erbe griechischer Wissenschaft in arabischer Sprache zugänglich zu machen. Nach diesem Vorbild entstanden dann in vielen Zentren des islamischen Reiches ähnliche Einrichtungen.

Die moslemischen Mathematiker übernahmen die Prinzipien griechischer Gelehrter – etwa Euklids Theorien der Zahlen und der Geometrie oder das indische Konzept der Zahl Null als Basis für die Entwicklung neuer Disziplinen wie Differenzialgleichung und Trigonometrie. Unter den ausgestellten Handschriften ist auch eine „Abhandlung über Geometrie“ des Königs von Saragossa aus dem Jahr 1080. Auf ähnliche Weise wie in der Mathematik übernahmen die Araber auch die Medizin der Perser und der Griechen. Aus Persien beispielsweise stammte die Idee, Kranke an einem speziellen Ort zu behandeln.

Als Al-Mansur, Kalif in Bagdad, an einem Magenleiden erkrankt war, ließ er Ärzte der medizinisch-philosophischen Akademie aus dem persischen Gondeschapur zu sich rufen. Im Umfeld der Akademie war in Gondeschapur schon im Jahr 555 ein Krankenhaus eingerichtet worden. Nachdem die persischen Ärzte Al-Mansur von seinem Leiden befreit hatten, berief der Kalif die Mediziner zu seinen Leibärzten. Zugleich wurde auch in Bagdad ein Krankenhaus eingerichtet.

Ein Blatt der 1411 in Persien abgefassten „Abhandlung über Anatomie“ zeigt Details der Verdauungsorgane, der Venen und Arterien, die in der Zeichnung eines menschlichen Körpers hervorgehoben sind. Und eine im Jahr 1632 angefertigte Kopie von Avicennas „Kanon der Medizin“ umreißt die Grundlagen des menschlichen Skeletts. Aber nicht nur in der Philosophie, Astronomie, Mathematik und Medizin brachten die arabischen Gelehrten neue Errungenschaften hervor, sondern auch in der Alchemie, der Physik und der Technik.

Bewässerung. So entwickelten die Wüstenbewohner auch neue Techniken in der Hydraulik oder im Pumpenwesen für agrarische Bewässerungssysteme. Manche ihrer Werke hatten auch spielerischen Charakter, wohl zum Amüsement der fürstlichen Gesellschaft, wie etwa ein Trinkbecher, an dessen Deckel ein Vogel rotiert und pfeift, sobald die Flüssigkeit ins Gefäß rinnt.

Aber was waren die Gründe dafür, dass dieses goldene Zeitalter der arabischen Wissenschaft nach etwa 500 Jahren wieder zu Ende ging? „Ab dem 12. Jahrhundert gewinnt die Theologie die Oberhand über die Philosophie“, erklärt Stephan Prochazka, Arabist am Institut für Orientalistik der Universität Wien. Schon ab dem 13. Jahrhundert zeige sich auch in der arabischen Literatur „nichts Originelles mehr“, so Prochazka. „Es wird nur noch abgeschrieben. Und das ist bis heute so. Die Moslems sitzen auf Werken aus dem 8. und 9. Jahrhundert, so als ob seither nichts passiert wäre.“ Die genauen Gründe für diese Entwicklung sucht man in der Pariser Ausstellung vergeblich.

Von Robert Buchacher