WM-Reportage: Sie wollen nur spielen

Die Deutschen machen heuer Ferien vom Frust

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Es gibt eine Menge Gründe, sich über die Fußball-WM zu freuen. Auch solche, die gar nichts mit Fußball zu tun haben. Fred Herrmann, 68-jähriger Pensionist aus Oberhaching in Bayern, ist zum Beispiel überhaupt kein Fan der Kickerei. Wenn die WM am 9. Juli ins Finale geht, wird er wahrscheinlich nur vier, fünf Spiele gesehen haben. Solche, die zufällig im Fernsehen liefen, wenn er zufällig daheim war. Trotzdem sind die Fußballer schuld, dass es ihm derzeit so gut geht.

Während Herrmann erzählt, wie kalt ihn die WM lässt, bringt er seinen Sitz im ICE von München nach Hamburg in Schrägstellung und justiert die Fußablage. Dann klappt er das Tischchen vor sich herunter und legt eine kleine blaue Tasche darauf. Seine Verrichtungen sind routiniert, jeder Handgriff sitzt. Im Zugfahren ist er Profi, da macht ihm keiner was vor.

Genauso wenig möchte man nachmachen, was er sich für die vier WM-Wochen vorgenommen hat. Die Deutsche Bahn bietet, als Service zum Großereignis, einen WM-Pass an, mit dem man zum Fixpreis unbegrenzt durch Deutschland fahren kann. Also fährt Fred Herrmann. Unbegrenzt. Als Nächstes geplant ist ein Ausflug von München nach Rügen. Bereits absolviert hat er eine Schwarzwald-Bodensee-Runde sowie die Strecke Würzburg–Erfurt–Leipzig und retour. Insgesamt, so hat er ausgerechnet, sollten sich die Ausflüge auf 36.000 Kilometer summieren. „Das ist mein Hobby, ich mach nix so gern wie Zugfahren“, erklärt Herrmann, dem durchaus klar ist, dass man ihn für verrückt halten könnte. „Meine Frau sagt immer, ich schau so erholt aus, wenn ich wieder heimkomme.“

Übernachtungen an den Zielorten sind nicht vorgesehen. Pensionist Herrmann fährt ohne Gepäck. Aber meistens gibt es nicht sofort einen Zug in die Gegenrichtung. Dann wird der Reisende den Bahnhof verlassen, frische Luft schnappen, eine Runde spazieren gehen. Und es wird ihm vielleicht auffallen, dass Deutschland nicht mehr ist, wie es mal war.

Wer immer das Turnier gewinnen wird – die größte Überraschung dieser Weltmeisterschaft ist der Gastgeber. Mit dem Anpfiff des ersten Spiels wurde aus der verstaatlichten Jammer und Trübsal GmbH ein fröhliches, freundliches Land, das sich endlich mal wieder einen Spaß gönnen kann.

Die Deutschen machen, wohlverdient, Ferien vom Frust. Und der Erholungswert dieses Urlaubs ist offenbar enorm: Die Ticketverkäuferin am Schalter der Münchner Verkehrsbetriebe wünscht jedem Kunden strahlend „einen schönen Tag noch“. Aus dem Lautsprecher in einem Zug voll brasilianischer Fans ertönt kurz vor dem Zielbahnhof ein feuriges „Arriba, arriba, Berlin!“. Und ein Berliner Taxifahrer, der scharf bremsen muss, weil zwei mexikanische Fans mitten auf der Kreuzung ein Tänzchen hinlegen, drückt nicht etwa entnervt auf die Hupe, sondern winkt den Delinquenten fröhlich zu. Mitunter reicht es sogar zu Scherzen über die eigenen Marotten. Das Deutsche Rote Kreuz wirbt derzeit auf Plakaten mit dem Spruch: „Wir helfen jedem.“ Zu sehen ist ein freundlicher Samariter, der gerade einem holländischen Fußballfan das aufgeschürfte Knie verbindet.

„Die Welt zu Gast bei Freunden“, das bis zum Überdruss strapazierte Motto der WM, war im Vorfeld mehr eine Beschwörungsformel als ein Versprechen. Jetzt, da den Slogan keiner mehr hören kann, entspricht er endlich der Wahrheit. TV-Spötter Harald Schmidt macht sich bereits lustig über den Gefühlsdusel seiner Landsleute. „Es gibt bei Ödön von Horváth den Satz: ,Meiner Liebe entgehst du nicht.‘ Wenn wir Deutsche was machen, dann machen wir es gründlich.“

Es sind wohl nicht nur die zwei Siege der Nationalmannschaft, die Deutschland so beseelen. Es sind auch die vielen kleinen Triumphe über den eigenen Pessimismus. Murphy’s Law ist außer Kraft: Offenbar muss nicht immer alles schief gehen, was schief gehen kann.

München, die Premiere
Gemessen am deutschen Befürchtungskanon gilt bereits der Sonnenaufgang am 9. Juni über München als unerwarteter Erfolg. Schönes Wetter an einem Tag mit Freiluftveranstaltung ist ja wirklich keine Selbstverständlichkeit in dem Land, das den meteorologischen Terminus „Graupelschauer“ erfunden hat.

Schon am frühen Nachmittag sind die ersten deutschen Fangruppen unterwegs. Noch klingen die Schlachtgesänge ein wenig schüchtern, das Lärmen in der U-Bahn will erst wieder eingeübt werden. Doch der Modetrend dieser WM zeichnet sich bereits ab: Man trägt jetzt Schwarz-Rot-Gold, die Nationalfarben. In der Minimalvariante taucht die Farbkombination auf Schals, T-Shirts und Schweißbändern auf. Etwas Mutigere greifen zusätzlich zu Flaggen und Wangenbemalung. In der Volladjustierung tritt der Fan mit schwarz-rot-goldener Irokesenperücke und Ganzkörperdress auf.

Deutschlands bekannt sauertöpfisches Feuilleton wird ein paar Tage später darüber brüten, ob so viel Patriotismus den Deutschen überhaupt zusteht. Aber da wird es längst zu spät sein für Belehrungen.

In der Allianz-Arena beginnt der Countdown, und so etwas wie Seligkeit legt sich über das Stadion. Die WM, vor der sich alle so gefürchtet haben, beginnt nun tatsächlich. Nein, das Stadion ist nicht halb leer. Nein, die Sicherheitskontrollen haben nicht zu Chaos geführt. Nein, es ist auch keine Masernepidemie ausgebrochen, wie ein paar Ärzte kurz zuvor noch prophezeit hatten. Stattdessen ist Deutschland, die angebliche Dienstleistungswüste, unverhofft zu einem Serviceparadies geworden. „Kann ich Ihnen helfen?“, ist die Frage, die man als Tourist an diesem Tag am häufigsten hört.

„Bild“ hat für das Eröffnungsmatch klare Direktiven ausgegeben: „Spielt sie kurz und klein!“, lautet die sympathische Headline zum Start. Das klappt nicht ganz, aber wenn man so will, ist das 4:2 gegen Costa Rica ein durch und durch gastfreundliches Ergebnis. Auch der Gegner soll schließlich seinen Spaß haben.

Berlin, die Invasion
Fußball ist anstrengend, auch für die Seelen der Fans. Im Berliner Dom findet deshalb täglich um Punkt zwölf Uhr eine WM-Andacht statt. Orgelmusik, Gesang und eine kurze Predigt sollen die Schlachtenbummler aus aller Welt wieder fit machen für ihr Tagwerk. Leider wird die Veranstaltung kaum beworben, weshalb sich am Montag nur etwa 30 Gläubige in der riesigen Kirche einfinden. Doch der Pfarrer und seine Englisch-Dolmetscherin lassen sich nicht entmutigen: „Herzlich willkommen zu unserer Halbzeitandacht, die sich heute mit dem Thema Abseits beschäftigt.“

Für seine Predigt hat der Geistliche Kapitel 19 aus dem Lukas-Evangelium ausgesucht. Darin geht es um den reichen Zöllner Zachäus, der unter seiner Isolation leidet. Keiner will mit ihm zu tun haben, keiner mag ihn. Er steht, das ist schließlich das Thema des Tages, im Abseits. Bis zu dem Tag, als Jesus bei Zachäus auf einen Besuch vorbeischaut. Wie vom Blitz getroffen, wird der Zöllner ein guter Mensch, teilt sein Vermögen und macht wieder gut, was er vorher angerichtet hat. „Hier verändert der Gast den Gastgeber, allein dadurch, dass er kommt“, sagt der Pfarrer mit sanfter Stimme.

Wie er das meint, lässt sich auf den Straßen Berlins gut besichtigen. Einen Tag vor dem Spiel Brasilien gegen Kroatien trägt die Stadt Grün-Gelb, und es lässt sich nicht herausfinden, wie viele echte Südamerikaner unter den Trikots der brasilianischen Nationalmannschaft schwitzen. Familie Arteiro aus Brasilia hat gehört, dass über 50.000 Landsleute da sein sollen. „Ich hätte nicht gedacht, dass hier so viel los ist. Es ist unglaublich“, sagt Jorge Arteiro, der eine Europareise mit Frau und Tochter für den WM-Abstecher nützt. Den Besuchern gefällt an Deutschland genau das, was die Deutschen an sich selbst spießig finden. Solange Arteiro, die Ehefrau, schwärmt von der Sauberkeit der Berliner Straßen, von den erstklassigen U-Bahnen und der perfekten Organisation. „Es funktioniert alles, und die Menschen sind so schrecklich nett.“

Die Straße des 17. Juni ist normalerweise eine vierspurige Durchzugsstraße. Für die Dauer der WM wurde die breite Allee zum Volksfestgelände umfunktioniert. Zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule zelebrieren täglich hunderttausende Fans aus der ganzen Welt ein endloses Hochamt für den Fußball. Es ist heiß, das Bier fließt in Strömen, die Konversation beschränkt sich zumeist auf Schlachtgesänge und den Jubel, wenn wieder mal ein Tor gefallen ist. Trotzdem gibt es kaum Arbeit für die zahlreichen Polizisten, die milde lächelnd auf das beschwipste Volk blicken. Die Rowdys der Fußballszene scheinen das Areal zu meiden, es ist einfach zu gemütlich hier. ARD und ZDF werden nicht müde, die Bilder aus dem Zentrum Berlins immer und immer wieder zu übertragen. Dass so etwas möglich ist in Deutschland. Wer hätte das gedacht?

Roberto steht an einem Tischchen vor der Großleinwand und wundert sich ebenfalls. Der 44-Jährige ist Kubaner, lebt seit 20 Jahren in Berlin und hat Großveranstaltungen dieser Art bisher stets gemieden. Diesmal überzeugte ihn seine Frau, es doch einmal zu versuchen. „Ich habe die Deutschen noch nie so fröhlich erlebt“, sagt Roberto, „es ist richtig unheimlich.“ Ganz trauen kann er der neuen Heiterkeit nicht. Obwohl er den deutschen Fußball nicht schön findet und zu Brasilien hält, wünscht er Klinsmanns Truppe noch ein paar Siege. „Sonst ist es mit der guten Laune vielleicht gleich wieder vorbei.“

Dortmund, der Höhepunkt
Der Deutschland-Reiseführer, der zur WM erschienen ist, drückt sich höflich aus: „Einst eine der reichsten und wichtigsten Städte im mächtigen Hansebund, ist Dortmund heute Dreh- und Angelpunkt einer Region, die sich in einem dynamischen Strukturwandel befindet.“ Heißt übersetzt: Sonderlich prächtig ist die Stadt leider nicht mehr.

Während sich Berlin in den vergangenen Jahren bis an den Rand des Konkurses aufputzte, sind die letzten Großinvestitionen in Dortmund schon eine Weile her. Dafür bietet die Stadt die wahrscheinlich beste Fußballarena Deutschlands. Im Westfalenstadion mit seinen besonders hohen Tribünen ist der Geräuschpegel höher und die Atmosphäre dichter als irgendwo sonst im Land. Etwas mehr als 60.000 Menschen finden bei der WM darin Platz, über 100.000 Fans sind an diesem Mittwoch zusätzlich in der Stadt unterwegs. Deutschland gegen Polen: Das könnte schon die Entscheidung in der Vorgruppe sein.

Ab Mittag herrscht in Dortmund der Ausnahmezustand. Polnische und vor allem deutsche Fans füllen die Innenstadt, rund um den Bahnhof ist schon Stunden vor dem Match kaum mehr ein Durchkommen. Im Fanprogramm gibt es diesmal keine brasilianische Unterstützung. Die Deutschen müssen also selber das Spiel machen. Anders als wenige Tage zuvor in München klappt das Schreien und Johlen hier schon sehr gut. Einmal auf Touren gekommen, feiern deutsche Fans, wie die deutsche Nationalmannschaft bis vor ein paar Jahren gespielt hat: nicht sonderlich elegant, aber sehr effizient. „Steht aaaaauf, wenn ihr Deutsche seid!“, gellt es durch Dortmund. Oder noch einfacher: „Deutschland! Deutschland!“

Der Besitzer eines Kebab-Standes auf dem Weg zum Stadion hisst noch schnell eine deutsche Flagge am Vordach. Man will ja nicht unpatriotisch wirken an so einem Tag. Die angebliche Parallelgesellschaft ist derzeit ganz auf Linie. Landesweit engagieren sich die Türken als lautstarke Fans des deutschen Teams. „Intorgration“ nennt das „Bild“ und ist ausnahmsweise recht begeistert über die Zuwanderer.

Als die meisten Ticketbesitzer schon im Stadion sitzen, kommt es zur ersten Massenkeilerei dieser WM. Deutsche und polnische Randalierer liefern sich eine Schlägerei mit der Polizei, etwa 400 werden vorübergehend festgenommen. Die Weltmeisterschaft bekommt ihren ersten Makel.

In normalen Zeiten wären solche Ausschreitungen mit Sicherheit zum Thema erregter Debatten und besorgter Appelle geworden. Doch in WM-Deutschland regiert der Pragmatismus: Die Polizei hat gehandelt, außer den Rowdys selbst ist niemand schuld, auch die besten Sicherheitsvorkehrungen können nicht jeden Raufhandel verhindern. Punkt und Schluss der Diskussion. Der Fußball deckt im Augenblick alles zu, worüber sich Deutschland ansonsten so gerne den Kopf zerbricht. Das ist in dieser extremen Ausprägung wahrscheinlich kein Konzept für die Zukunft. Aber die Erfahrung, dass ein bisschen mehr Wurstigkeit das Leben erleichtert, hilft den Deutschen vielleicht über die nächste Hartz-IV-Debatte.

Franz Beckenbauer, Chef des WM-Organisationskomitees und dieser Tage hurtig unterwegs in Richtung Heiligsprechung, macht vor, wie es geht: „Es werden auch wieder andere Zeiten kommen. Aber jetzt freuen wir uns einmal.“

Im Stadion gewinnt das deutsche Team 1:0 gegen Polen. Der Jubel ist ohrenbetäubend. Und es soll auf den Tribünen sogar Österreicher geben, die das schwer in Ordnung finden.