Wojtylas Testament

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Als Papst Johannes Paul II. am vergangenen Donnerstag neuerlich ins Gemelli-Krankenhaus eingeliefert wurde, füllten sich weltweit wieder die Kirchen, und Millionen Katholiken beteten für den Heiligen Vater. Überall in den Redaktionen herrschte hektisches Treiben: Die Computer wurden angeworfen, um die bereits vorbereiteten Nachrufe herauszuholen, in denen diese große historische Figur unserer Zeit in all ihrer Widersprüchlichkeit gewürdigt wird. Und Legion sind die Vatikanologen, die nun wie wild in die Tasten klopfen, um ihre Spekulationen darüber, wer demnächst Karol Wojtyla auf Petri Stuhl nachfolgen werde, dem Leser zukommen zu lassen.

Aber es wäre nicht der polnische Papst, der seit über einem Vierteljahrhundert die Sancta Ecclesia publikumswirksam regiert, hätte er sich damit begnügt, nur noch mit seinem Ableben Furore zu machen. Er zündete eine Bombe: „Erinnerung und Identität“ heißt eine 224 Seiten starke philosophisch-theologische Schrift, die vergangenen Mittwoch erschien. Die Bombe explodierte aber schon vorher, Anfang der Woche. Kolportiert wurde vielfach, dass er darin den Holocaust, die nationalsozialistische Judenvernichtung, mit der Abtreibungs-Gesetzgebung der heutigen Zeit vergleiche und auf dieselbe Ebene stelle. Die Aufregung war groß.
Stimmt gar nicht, so hätte der Papst, der ja schon im Jubeljahr 2000 in seinem großen Mea Culpa um Vergebung für die christliche Judenverfolgung gebeten habe, das nicht gemeint, verteidigte prompt Kurienkardinal Josef Ratzinger, der Vorsitzende der vatikanischen Glaubenskongregation, seinen moribunden Chef.

Eine erste Lektüre des Buches freilich straft Ratzinger Lügen. Genau so hat’s der Papst gemeint. Er schreibt über die Ausrottung der Juden und auch über den sowjetischen Gulag. Und dann folgt dieser Satz: „Nach dem Sturz der Regime, die auf den Ideologien des Bösen aufgebaut waren, haben in ihren Ländern die eben erwähnten Formen der Vernichtung de facto aufgehört. Was jedoch fortdauert, ist die legale Vernichtung gezeugter, aber noch ungeborener Wesen.“ Offenbar stammen beide Vernichtungspolitiken aus der gleichen „Ideologie des Bösen“. Die in der Vorstellung des Papstes auch bei der Bestrebung am Werk ist, die Schwulen-Ehe in Europa zu legalisieren, in diesem Fall aber „vielleicht heimtückischer und verhohlener“ vorgeht. Das Böse nütze bei seinen schändlichen Umtrieben „sogar die Menschenrechte aus“. Und der Papst fragt: „Warum geschieht all das?“

Für ihn ist klar, warum und wann das Unheil über die Welt kam: Nach dem „Cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) von Descartes, dem französischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, war es um den Menschen geschehen. Die Überlegung des Papstes geht folgendermaßen: Da hat sich der Mensch von Gott abgewandt. Das ist der Sündenfall. Indem Gott im besten Fall bloß ein Element des menschlichen Bewusstseins und Denkens geworden ist oder sogar seine reale Existenz gänzlich geleugnet wird, ist der Weg ins Grauen eröffnet: „Wenn der Mensch allein, ohne Gott entscheiden kann, was gut und böse ist, dann kann er auch verfügen, dass eine Gruppe von Menschen zu vernichten ist.“ Und Wojtyla reitet schließlich eine Attacke gegen die Ungläubigen: „So zu leben, als ob Gott nicht existierte, bedeutet, außerhalb der Koordinaten von Gut und Böse zu leben.“

Bei allem Respekt vor diesem Mann und seiner historischen Bedeutung, vor seinen Verdiensten und seinem Amt muss doch gesagt werden dürfen: Das, was er da schreibt, ist gefährlicher Unsinn.

Im Glauben der Menschen stand Gott noch in vollem Saft, als die heilige Inquisition verfügte, dass Gruppen von Menschen wie „Hexen“, Juden, Ketzer und andere Ungläubige auf den Scheiterhaufen zu brennen haben. Das begann gewiss vor dem cartesianischen Sündenfall. Die Nationalsozialisten handelten, bitte schön, doch nicht in der Tradition der Aufklärung, als sie die Juden ausrotteten. Im Gegenteil: Hitler und seine Bande waren Ausdruck der rasenden Gegenaufklärung. Und der mörderische Judenhass der Nazis hat seine Wurzeln – trotz erschreckend moderner Organisierung des Holocaust – sicherlich weniger im neuzeitlichen Rationalismus als im alten christlichen Antisemitismus.

Noch ein Wort zu den angeblich amoralischen Gottlosen. Da mag es ja stimmen, dass die Frage, was gut und was böse ist, in langen Perioden der Menschheitsgeschichte im Gewande des Religiösen dahergekommen ist. Aber geht mit der Säkularisierung der Welt die Moral deswegen zugrunde? Dafür müsste es Hinweise geben. Dann müssten etwa die am meisten entchristianisierten Länder auch die verkommensten sein. Sind sie aber nicht. Im Gegenteil. In Skandinavien, dort wo die Leute – nach allen Umfragen – am wenigsten glauben, sind Solidarität und Nächstenliebe groß geschrieben. In diesen Gesellschaften scheint Moral geradezu im Übermaß vorhanden. Mehr jedenfalls als in vielen Staaten, in denen die Menschen noch fleißig in die Kirchen gehen und ihre Gebete sprechen.

Was der Papst in seinem Buch „Erinnerung und Identität“ schreibt, ist nicht neu. So oder so ähnlich hat er es schon früher ausgedrückt. Aber nun wird sein letztes Werk, dieses Dokument der Intoleranz, Antiliberalität und des christlichen Fundamentalismus, in Rom als Vermächtnis des Heiligen Vaters gepriesen. Und da muss man wünschen, dass der organisierte Katholizismus sich weigern möge, demnächst dieses päpstliche Testament zu vollstrecken, dieses ideologische Erbe anzutreten.