Sommerfrischhaltepackung

Wolfgangsee: Wiege des modernen Sommertourismus in Österreich

Tourismus. Eine Umrundung des Wolfgangsees

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Mit einem Knall holt sich der See zurück, was ihm gehört hat. St. Wolfgang empfängt mit einem Unwetter von echter Salzkammergüte, es regnet quer und stürmt geradeaus, nach zwei ­Minuten stehen die Straßen bei der Schafbergbahnstation unter Wasser: abendlicher Weltuntergang am Wolfgangsee. Knallbunte Regenjacken huschen in Hoteleingänge, Tagestouristen verstecken sich unter Souvenirladenmarkisen, Feuerwehrsirenen heulen, beim italienischen Straßenmarkt im Ortszentrum werden Prosciutto- und Parmesanbuden zusammengepackt. Die italophile Stimmungsmusikband übersiedelt vom Hauptplatz ins Hotel Schwarzes Rössl und macht, nun ja, Stimmung. Wesentlich beschaulicher gibt sich das weltberühmte Weisse Rössl nebenan: Auf der vollverglasten Seeterrasse bleiben etliche Tische unbesetzt, das Personal ist jugendlich, zuvorkommend und ein wenig schüchtern, also eher weniger operettentauglich. Menschen in praktischen Goretexjacken essen Salzburger Nockerln und starren romantisch in den Regen, das Hintergrundgedudel wird seltsamerweise nicht von Peter Alexander, sondern von den Scorpions bestritten. „Wind of Change“ am Wolfgangsee.

Vor knapp 80 Jahren änderten sich hier, an der Grenze zwischen Salzburg und Oberösterreich, die Zeiten dramatisch. Damals wurde in St. Wolfgang der moderne Sommertourismus in seiner österreichischen Ausprägung erfunden, also das, wovon heute halb Kärnten und die ganze Wörtherseeregion leben: Stars! Events! Skandale! Genau genommen wurde der Tourismus hier ja schon gut 500 Jahre vorher erfunden, St. Wolfgang zählte im Spätmittelalter mit bis zu 100.000 Pilgern pro Jahr zu den wichtigsten Wallfahrtsorten Europas, mit dem Andenkenverkauf kennt man sich in der Gegend also schon länger aus.

„Rössl“-Effekt.
Eine neue Dimension erreichte der lokale Fremdenverkehr aber erst mit dem Lustspielboom des frühen 20. Jahrhunderts. Nach der Premiere von Ralph Benatzkys Singspiel „Im weißen Rössl“ im Berliner Großen Schauspielhaus am 8. November 1930 (mit Max Hansen, Camilla Spira, Paul Hörbiger und Otto Wallburg) wollte plötzlich ganz Deutschland nachschauen, ob es im Salzkammergut tatsächlich gut lustig sein ist. Die Effekte hatten „Sound of Music“-Dimensionen: Fast zwei Millionen Menschen sahen die Berliner Produktion in eineinhalb Jahren, was die damalige Rössl-Wirtin Anna Drassl zum Anlass für eine europaweite – und äußerst erfolgreiche – Marketingkampagne nahm und die Restbevölkerung St. Wolfgangs dazu verleitete, „in einen Taumel irregeleiteter architektonischer Putzsucht zugunsten des Fremdenverkehrs“ zu verfallen, wie es die Schriftstellerin und langjährige Wolfgangsee-Zweitwohnsitzbesitzerin Hilde Spiel in den späten siebziger Jahren formulierte – zu einer Zeit, als St. Wolfgang seine besten Jahren schon hinter, dafür aber noch ein paar schlechtere vor sich hatte. Spiel: „Blau blitzt der See an Sonnentagen, pfeilschnell ziehen Wasserskiläufer ihre Bahn, und aus den Gaststätten steigen die Düfte von Backhendln, Schnitzeln, Rostbraten und zuckersüßen Salzburger Nockerln. Am Ufer bräunt sich das Volk, und die Campingplätze wimmeln von Zelten wie die Vorstädte Wiens bei der Türkenbelagerung.“

Heute wimmelt es hier nur noch, wenn gerade eine Reisebusgruppe durch den Ort getrieben wird, und am Campingplatz beim östlichen Ortsausgang trotzen bloß ein paar Wohnmobile dem Regen, Belagerungen stellt man sich anders vor. Vielleicht liegt es an der nicht hundertprozentig idyllischen Lage an der Sankt-Wolfgang-Straße, vielleicht auch nur am Wetter. Ute und Bernd Meier finden es trotzdem sehr nett hier, eigentlich sogar ausgesprochen romantisch. Die beiden feiern heute ihren silbernen Hochzeitstag, dafür sind sie mit dem Wohnmobil knapp 600 Kilometer aus Limbach-Oberfrohna („in der Nähe von Chemnitz“) ins Salzkammergut gefahren, da hat es romantisch zu sein. Außerdem sei die Gegend zwar ein wenig regenanfällig, ansonsten aber wirklich zauberhaft, finden sie. Und die Leute: so nett, richtig entspannt. Touristisches Gewimmel brauchen Meiers keines: „Es ist schon ziemlich ruhig hier. Aber wir haben es gern, wenn es ein bisschen gemütlicher ist.“

Vor knapp 80 Jahren, im Sommer 1931, machte der Berliner Journalist Erich Urban auf einer Spurensuche im Salzkammergut noch etwas andere Erfahrungen: „St. Wolfgang im Juni: Aus allen Grammophonen, aus den geöffneten Fenstern der Hotels dudelt es von morgens bis abends: ‚Im Salzkammergut, da kann man gut lustig sein!‘ oder: ‚Im weißen Rössl am Wolfgangsee‘, und man glaubt, wieder im Großen Schauspielhaus zu sein, wo die Berge noch höher waren und die Einheimischen weitaus stilechter aussahen als hier, in natura.“ Urbans Einschätzung hat insofern Bestand, als St. Wolfgang nach wie vor eine Bühne ist, die nicht nur Wahrhaftiges bereithält, sondern auch sehr viel Kitsch und die eine oder andere Enttäuschung. In Wahrheit sehen hier sogar die Touristen stilechter aus als die Einheimischen, zumindest wenn sie Tracht tragen. Die urigsten Almhirten grüßen in St. Wolfgang im norddeutschen Dialekt.

Aber Authentizität ist ohnehin eine Definitionsfrage. Peter Gastberger zum Beispiel spricht sehr gern (und sehr schnell) davon, wie man das Potenzial des Wolfgangsees wieder abrufen könne, dass man dazu Visionen brauche, neue Strategien und Ideen, und vor allem eben Authentizität. Gastberger meint damit allerdings keine Trachtenromantik, sondern authentische Events und Produktpräsentationen, er führt das Eventhotel Scalaria, einen üppigen Bau gleich hinter der Ortskirche: 12.000 Quadratmeter, 400 Betten, zwei verglaste Veranstaltungssäle für bis zu 2000 Menschen, Freiluftbühne und Hubschrauberlandeplatz im See.

Luftspiele.
Fast 30 Millionen Euro hat Gastberger, Spross einer St. Wolfganger Hoteliersfamilie, in den vergangenen 15 Jahren investiert, und es gibt schon neue Ausbaupläne. Das Geschäft geht gut, 200 Veranstaltungen finden hier jährlich statt, aktuell gerade die Jahresbuchhalterhauptversammlung eines lokalen Energiegetränkekonzerns, was sich schon im Eingangsbereich sehr deutlich manifestiert: Die Logo- und Extremsportvideodichte ist überdurchschnittlich hoch. Stolz führt Peter Gastberger durch Seminarräume, in denen junge Männer mit frech gegelten Frisuren Laptops und Blackberrys bearbeiten, zeigt Videos von Großevents am See, Cirque-du-Soleil-haften Veranstaltungen mit Feuerwerk, Großraumsymphonie und poetisch klingenden Namen („Aquaria“, „Warriors of Light“). Auch die „Air Challenge“-Flugschau hat Gastberger an den See geholt und mit ihr rund 40.000 Schaulustige. Vom Lustspiel zum Luftspiel, damit der Wolfgang- wieder ein bisschen mehr Wörthersee wird. „Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass es mit dem gewöhnlichen Tourismus momentan nicht so fantastisch läuft“, meint Gastberger: „Wenn es allen zu gut geht, verändert sich nichts.“

Miguel Herz-Kestranek wiederum geht es gar nicht gut, wenn Eventhoteliers von Veränderung reden. Der Autor und Schauspieler sitzt in der Gartenlaube seiner Villa, keine sieben Kilometer westlich von Gastbergers Scalaria, in der Brunnwinklbucht am Ortseingang von St. Gilgen, am selben See, der für ihn doch ein ganz anderer ist. Ein See, der eine andere Geschichte hat. Herz-Kestraneks Groß­onkel Wilhelm Kestranek, Generaldirektor der Prager Eisenindustriegesellschaft, hatte sich schon 1908 eine Villa in St. Gilgen errichten lassen, einen (nicht erhaltenen) Prachtbau mit eigener Eisenbahnhaltestelle, Tennisplatz und einem Theater im oberen Stockwerk, das auch von Arthur Schnitzler gern frequentiert wurde – eine äußerst stattliche, aber nicht untypische Sommerfrischlervilla jener Zeit.

Die Geschichte vom Wolfgangsee als sommerlichem Sehnsuchtsraum beginnt tatsächlich schon lange vor dem Operettenfieber des 20. Jahrhunderts. Ihre Anfänge liegen im 19. Jahrhundert und einige Kilometer östlich, in Bad Ischl, wo Kaiser Franz Joseph ab 1853 auf Sommerfrische weilte. Der Aristokratie folgte das Wiener Großbürgertum, und in den Häusern am See traf sich tout Vienne, Adel, Industrie, Hochkultur, Operette und Politik, trug Krachlederne, engagierte sich in Soireen, Tennismatches und Gemeindeförderung: St. Wolfgang wurde sommertouristisch erschlossen, schon im Juni 1898 elektrifiziert und unterhielt im Jahr 1925 sogar eine (kurzlebige) Flugverbindung nach Wien.

Enteignung.
Dann wurde es finster. Der Sommerfrischlergesellschaft, die sich zu großen Teilen aus dem jüdischen Wiener Bürgertum rekrutiert hatte, wurde von den Nazis nicht nur ihr Besitz geraubt, er wurde ihr besonders schnell und gründlich genommen. In St. Wolfgang und St. Gilgen wurden nach 1938 jeweils mehr als 30 Villen enteignet, der Bürgermeister der dritten Wolfgangsee-Gemeinde, Strobl, verlautbarte schon im Juli 1938: „Jüdische Sommergäste und Besucher sind in Strobl unerwünscht. Den Juden ist die Benützung aller öffentlicher Anlagen, der Bäder und ­aller ähnlichen Einrichtungen im Gemeindegebiete von Strobl ausnahmslos verboten.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der Wolfgangsee noch einmal eine gesellschaftliche Blüte, nicht annähernd so nobel wie in den zwanziger Jahren, aber mondän allemal: Der Wolfgangsee avancierte in den fünfziger Jahren zu ­einer Art österreichischen Côte d’Azur, an der die Hautevolee ­residierte und Gunther Sachs, Aga Kahn oder Ira Fürstenberg Wasserski fuhren. Aber diese Blüte dauerte nur kurz, mit den Wolfgangsee-Filmen der sechziger Jahre kam der Massentourismus und brachte der Region noch mehr Geld, aber eben auch ein anderes Publikum, das seinerseits schon bald wieder weiterzog, nach Mallorca oder, noch ein bisschen später, in die Dominikanische Republik.

Der Tourismus am See blieb in den späten siebziger Jahren stecken, was kein Problem wäre, wenn es kein Folgeproblem mit sich bringen würde: verzweifelte Profitgier. Miguel Herz-Kestranek kann sich über dieses Thema sehr ausführlich echauffieren: „Es scheint ein Gesetz zu sein, dass die Vertreter der schönsten Gemeinden immer auch die geldgierigsten und korruptesten sind. Hier agieren sie obendrein noch an der Debilitätsgrenze, und das ist eine gemeingefährliche Mischung. Wenn man den Verantwortlichen 200 Euro pro Monat dafür verspricht, dass sie den See zubetonieren, fahren am nächsten Tag die Mischmaschinen auf.“

Herz-Kestranek hat daraus seine Konsequenzen gezogen: „Nach oben hin, zur Straße, verlasse ich das Haus den ganzen Sommer nur unter Todesdrohungen. Ich fahre mit dem Boot zu meinen Freunden und Nachbarn, von Steg zu Steg.“ Hin und wieder auch zu Marie-Theres Arnbom, deren Familie ebenfalls seit Generationen hier lebt und die gerade ein Buch herausgegeben hat über den Wolfgangsee und seine Geschichten. Darunter eine ganz besonders illust­re, die von Frieda und Julius Koritschoner handelt, dem „Skandalpaar des Wolfgangsees“, das in der Villa Artaria in Gschwendt (einem Ortsteil von Strobl) in den zwanziger Jahren einen sommerlichen Salon unterhielt, in dem Alexander Lernet-Holenia, die Operettendiva Fritzi Massary oder Alfred Polgar verkehrten. Julius’ Bruder Hans erinnerte sich in seinen Memoiren: „Der Hintergrund des Kreises und das Band, das ihn zusammenhielt, war Morphium. Frau Frank (Friedas Name aus erster Ehe, Anm.) war eine notorische Morphinistin, und sie war es, die Julius süchtig gemacht hatte. Frieda war sehr exzentrisch. Sie konnte kein Tageslicht ertragen, daher war die Wohnung, in der Julius und seine Frau lebten, prächtig durch künstliches Licht beleuchtet.“ Im Juni 1927 starb Frieda Koritschoner an den Folgen einer Blutvergiftung: Sie hatte es nie für nötig befunden, ihre Nadel zu desinfizieren oder sich zum Spritzen die Ärmel ihres Kleides hochzukrempeln. Ihr Mann Julius erschoss sich eineinhalb Jahre später. Heute urlaubt in Gschwendt übrigens ein gewisser Wolfgang Schüssel, von einem illustren Salon ist nichts bekannt.

Manchmal weht der Wind of Change am Wolfgangsee ein bisschen flau. Von Gschwendt führt eine Schiffsverbindung nach St. Wolfgang zurück. Souverän steuert Kapitän Horst Gamsjäger die „MS Salzburg“ über den See, ein bisschen stolz ist der ehemalige ÖBBler schon auf seinen Job.

Immerhin sind die Wolfgangsee-Kapitäne auch für die Schafbergbahn zuständig, das heißt: „Wir sind die einzigen Lokführer, die Diesel- und Dampfloks fahren dürfen und auch noch ein Kapitänspatent haben.“ Ganz klar: Wer im Tourismus arbeitet – und die Wolfgangsee-Schiffe fahren ausschließlich für Touristen –, muss sich auch anpassen. Und aufpassen, denn Elektrobootfahrer neigen manchmal zu erratischen Manövern. Kapitän Gamsjäger sieht das allerdings relativ gelassen: „Wenn es eng wird, hupe ich. Das geht schon. Man darf nur net nervös werden.“ Aber zum Nervöswerden ist heute ohnehin ein bisschen zu wenig los.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.