Zeitgeschichte: Alles klar! Andrea Doria

Zeitgeschichte: Alles klar!

Vor 50 Jahren versank der Luxusliner im Atlantik

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Das kleine Paket trug den Poststempel von Gibraltar und war am 20. Juli 1956 abgeschickt worden. Gretl Bühler fand darin eine Karte mit lieben Grüßen von ihrem Sohn, einen Film aus der alten Rolleiflex-Kamera und ein paar Souvenirs vom Leben an Bord. Um seiner Mutter zu beweisen, dass es ihm in der Touristenklasse an nichts fehlte, hatte Hanns Hermann Bühler die Speisekarte des Abendessens vom 17. Juli beigelegt. Serviert wurden unter anderem Mortadella aus Bologna, Minestrone, Fischfilet alla Livornese, Rindsroulade mit Rosmarin und als Dessert Eiscreme. Das „programma della giornata“ vom 19. Juli bot diverse Deckspiele, Tontaubenschießen, eine Musical-Parade des Bordorchesters und den Kinofilm „The Catered Affair“ mit Bette Davis und Ernest Borgnine.

Gretl Bühler ließ die Fotos entwickeln und freute sich mit ihrem Sohn. Die Bilder zeigten einen gut gelaunten jungen Mann vor der Kulisse von Neapel, in einem Liegestuhl an Deck, beim Landgang auf Gibraltar, mit seinen fünf Studienkollegen bei der Abfahrt aus Genua. Familie Bühler war nicht wohlhabend, und elf Jahre nach Kriegsende galt eine solche Reise als Inbegriff des Luxus. Grund zur Sorge bestand auch nicht. Die Andrea Doria, mit der ihr Sohn nach Amerika reiste, wurde als unsinkbares Schiff gepriesen.

„Mit heiler Haut“. Wenige Tage später erschien das Gruppenbild der sechs jungen Österreicher in der Tageszeitung „Die Presse“. Frau Bühler, Angestellte in der Abo-Abteilung, hatte es der Redaktion zur Verfügung gestellt. Die Andrea Doria war gesunken, das Foto ein Zeitdokument geworden. „Unser Bild zeigt einen fröhlichen Schnappschuss knapp vor dem Auslaufen in Genua“, schrieb „Die Presse“. „Alle Studenten entkamen mit heiler Haut der Katastrophe.“

Mitte der siebziger Jahre landete Udo Lindenberg mit dem Song „Alles klar auf der Andrea Doria“ einen seiner größten Hits. Ob es diesen Funkspruch wirklich gab, lässt sich nicht mehr feststellen. Am letzten Abend seiner Berufslaufbahn hatte Kapitän Piero Calamai jedenfalls keinen Anlass zu fröhlichen Durchsagen.

Am 25. Juli 1956 kollidierte der Luxusliner Andrea Doria, ganzer Stolz der italienischen Passagierschifffahrt, etwa 200 Meilen vor New York mit dem schwedischen Schiff Stockholm. Wie es zu dem Unglück kam, konnte nie geklärt werden (siehe Kasten). Während die Stockholm den Aufprall mit einem kaputten Bug überstand und manövrierfähig blieb, bekam die Andrea Doria sofort Schlagseite. Am nächsten Morgen sank der 29.000 Tonnen schwere, erst dreieinhalb Jahre alte Ozeandampfer auf den Meeresgrund vor der Insel Nantucket.

Auf ihrer 51. Fahrt war die Andrea Doria fast voll, 1134 Passagiere hatten die neuntägige Fahrt auf der Sunshine-Route von Genua über Neapel und Gibraltar nach New York gebucht. Die meisten Gäste waren Italiener, darunter viele Auswanderer aus dem Süden. In der ersten Klasse reisten vorwiegend amerikanische Touristen. An Bord waren auch sieben Österreicher: die 59-jährige Wienerin Rosina Diener sowie sechs junge Leute, die ein Fulbright-Stipendium für ein Studienjahr in Amerika bekommen hatten – Hanns Hermann Bühler, Wilhelm Holzbauer, Eva Odehnal, Sylvia Raher, Gustav Schmid und Heinrich Schneider.

Die deutlich kleinere Stockholm war von New York in Richtung Schweden unterwegs und hatte 500 Passagiere an Bord. Beide Crews mitgezählt, waren über 2300 Menschen in das Unglück involviert – etwas mehr als bei der Tragödie der Titanic. Doch der Untergang der Andrea Doria ging für die Passagiere vergleichsweise glimpflich aus. Nur 52 Menschen kamen ums Leben – 47 auf der Andrea Doria, fünf auf der Stockholm. Die meisten waren bei der Kollision in ihren Kabinen erdrückt worden.

Fünf Jahrzehnte später ist der Schrecken verblasst, doch die Erinnerungen sind geblieben. Und es sind nicht nur dramatische Szenen, die im Gedächtnis überdauerten. Hanns Hermann Bühler etwa wird nie vergessen, wie er an Bord des Frachters Cape Ann, der ihn nach New York brachte, zum ersten Mal in seinem Leben fernsehen konnte. Das TV-Gerät an Bord zeigte Bilder vom Untergang der Andrea Doria. Sylvia Raher erinnert sich an den Abschied von einer Freundin auf dem Wiener Südbahnhof. „Pass auf, dass du nicht untergehst“, scherzte deren Freund. Wilhelm Holzbauer weiß noch, dass er in Genua beim Verladen von zwei nagelneuen Ferraris zugeschaut hatte. Inmitten des Tumults nach der Kollision stellte er sich voller Bedauern vor, wie nun auch die schönen Autos untergehen würden.

Komfort an Bord. Wilhelm Holzbauer, später einer der erfolgreichsten Architekten Österreichs, ist 26 Jahre alt, als er zu einem Studienjahr am Massachusetts Institute of Technology aufbricht. Dass er ausgerechnet auf der Andrea Doria landet, ist Zufall. Fulbright hat die Fahrt organisiert – und eine Schiffspassage kostet Mitte der fünfziger Jahre deutlich weniger als ein Flug. Holzbauer genießt die angenehme Reise mit fast durchgehend schönem Wetter. Auch in der Touristenklasse ist das Leben an Bord äußerst komfortabel. Tagsüber sonnt man sich an Deck, schwimmt im Pool oder spielt Tischtennis. Abends geht man tanzen in den Ballsaal oder zu einem Drink an der Bar. Außerdem ist das Schiff mit seinem schwarzen Rumpf, den weißen Aufbauten und dem schlanken Schornstein eine wahre Pracht. „Die Andrea Doria wurde als lebendes Zeugnis für die Wichtigkeit der Schönheit im Alltagsleben geformt“, hatte die Reederei anlässlich der Jungfernfahrt 1952 geworben.

Am letzten Abend der Reise geht Holzbauer früher als sonst in seine Kabine. Er hat sich gerade ins Bett gelegt, als ein gewaltiger Rumpler das Schiff erschüttert. „Ein Eisberg“, denkt Holzbauer als Erstes und stürzt mit seinem Kabinenkollegen Heinrich Schneider aus der Tür, um nachzusehen, was passiert ist. Aber der Grund für die Erschütterung lässt sich nicht feststellen. Erst später werden sie sehen, dass sich der Bug der Stockholm nur etwa zehn Meter von ihren Betten entfernt in die Andrea Doria gebohrt hat.

Die billige Kabine in der Touristenklasse liegt unterhalb des Wasserspiegels. Instinktiv versuchen die zwei Männer, so schnell wie möglich nach oben zu kommen. An der nächstgelegenen Stiege hängt ein Schild: „First class, no admittance“. Doch die beiden ignorieren dieses eine Mal das Klassensystem an Bord und klettern hinauf. Die meisten anderen Passagiere auf den billigen Plätzen halten sich an das Verbot und drängen durch den langen, überfüllten Gang in Richtung Heck. Wilhelm Holzbauer bekommt von den dramatischen Szenen dort nichts mit. Er steht an Deck unter lauter First-Class-Passagieren, die in Abendkleid oder Smoking aus dem Ballsaal geflüchtet sind.

Es dauert vier Stunden, bis Holzbauer endlich auf einem Rettungsboot sitzt, vier Stunden, in denen sich die Andrea Doria immer bedrohlicher nach rechts neigt und die Passagiere kein Crewmitglied zu Gesicht bekommen. Ob und wann sie gerettet werden, weiß niemand. Doch Holzbauer ist zu jung, um mit dem Tod zu rechnen. „Ich habe die Gefahr gar nicht richtig realisiert“, erinnert er sich heute. „Ich dachte, naiverweise, wenn wir jetzt kentern, dann klettere ich einfach über den Rumpf hinunter und schwimme weg.“ Der Schock kommt erst nach der Rettung. Zwei, drei Tage lang macht sein Magen die Schotten dicht. „Wir sind in New York gut versorgt worden, aber ich konnte einfach nichts essen.“

Sylvia Raher hat schon einige Jahre als HAK-Lehrerin für Englisch und Deutsch gearbeitet, als sie sich um ein Stipendium für die USA bewirbt. Vor Kurzem ist ihr Mann im Alter von 28 Jahren gestorben; sie will weg aus Österreich, um darüber hinwegzukommen. Das Leben an Bord gefällt ihr erst, langweilt sie aber bald. „Wir waren zu jung für diese Art zu reisen“, meint sie heute. Ein wenig Abwechslung bieten die Notfallübungen, bei denen der Kapitän in mehreren Sprachen durch den Lautsprecher tönt und verspricht, dass bei einem wirklichen Notfall gar nichts passieren könne, weil er alle notwendigen Maßnahmen genau erklären werde. Sylvia Raher hat jedoch Bedenken und scherzt in einem Brief an die Eltern: „Das ist ein schönes Schiff, aber ich glaube nicht, dass es viel aushält.“

Im Rückwärtsgang. Am letzten Abend an Bord packt sie ihre Koffer und gibt sie vorschriftsmäßig ab. Das Gepäck soll bis zur Ankunft in New York auf dem Promenadendeck gelagert werden. In der Kabine hat sie nur noch einen Pyjama, das Kostüm für den nächsten Tag und ihre Handtasche. Seit Stunden liegt dichter Nebel über dem Meer, alle paar Minuten tönt das Nebelhorn. Sylvia Raher geht früh zu Bett. Wie ihre Zimmergenossin Eva Odehnal schläft sie schon, als das Unglück passiert. Von dem heftigen Ruck geweckt, schaut sie aus der Kabinentür. Da rumpelt es zum zweiten Mal – so stark, dass Raher wieder zurück in die Kabine geworfen wird. Später wird sie erfahren, dass die Stockholm in diesem Moment den Rückwärtsgang einlegte, um sich von der Andrea Doria zu lösen.

Die beiden Frauen laufen durch den Gang. Sie wollen nach oben. Ringsherum bricht Panik aus. Menschen schreien, drängen und rutschen auf den vom Nebel feuchten Planken. Mit Mühe schaffen es die zwei Frauen an Deck. Es ist windstill in dieser Nacht, das Meer ist tiefschwarz und ruhig. Unter freiem Himmel geht die Panik der Menschen in Apathie über. Man wartet. Auf Hilfe, auf eine Information, auf irgendeine Nachricht. Gegen zwei Uhr morgens löst sich der Nebel plötzlich auf, und die Passagiere sehen, dass sie längst nicht mehr allein sind. Eine der größten Rettungsaktionen der zivilen Seefahrt ist im Gang.

Ohne die Hilfe von anderen Schiffen wäre das Gros der Passagiere auf der Andrea Doria verloren gewesen. Von den zwölf eigenen Rettungsbooten lässt sich nur die Hälfte in Betrieb nehmen. Die an Backbord montierten Boote können wegen der starken Neigung nicht mehr zu Wasser gelassen werden. Doch so dicht vor New York herrscht reger Verkehr. Zahlreiche Schiffe eilen der Andrea Doria und ihrer mit der Situation völlig überforderten Crew zu Hilfe. Am meisten Platz bietet die Ile de France, ein eleganter Luxusliner unter französischer Flagge, der 750 Menschen in Sicherheit bringen wird.

Als die hell erleuchtete Ile de France aus der Dunkelheit auftaucht, hält Hanns Hermann Bühler sie zuerst für ein Flugzeug. Nach Stunden des Ausharrens in Schräglage weiß er nicht mehr, wo er die Horizontale ansiedeln soll. Die Rettung kommt nicht zu früh. Manche Passagiere singen bereits „Nearer my God to Thee“ – jenes Lied, das den Unglücklichen auf der Titanic den Abschied versüßte. Jetzt hat Bühler Glück. Weil er es auf das Promenadendeck und damit in eine höhere Klasse geschafft hat, kann er über eine Strickleiter in das Rettungsboot klettern. Für Passagiere der Touristenklasse stehen nur grobe Taue als Abseilhilfe zur Verfügung.

Bühler trägt noch immer seinen Pyjama und darüber eine Schwimmweste. Pass, Geld und Brille sind in der Kabine geblieben. Auf dem Obstfrachter Cape Ann, der ihn aufnimmt, bekommt er nun wenigstens eine Jacke und ein Gläschen Cognac der Marke Dujardin. Mit einem Rest von Galgenhumor denkt Bühler an den aktuellen Werbeslogan dieses Branntweins: „Darauf einen Dujardin!“

Am nächsten Morgen versinkt mit der Andrea Doria auch das Manuskript seiner Englisch-Dissertation zum Thema „Die Bühnenwerke von Peter Ustinov“. Bühler muss in Amerika noch einmal von vorne anfangen.

In New York werden die Schiffbrüchigen am nächsten Tag vom Roten Kreuz empfangen und mit dem Notwendigsten versorgt. Um die Österreicher kümmert sich außerdem Willi Schlag, damals Leiter des Kulturinstituts. Die Bank of America spendiert pro Kopf 200 Dollar, und Schlag organisiert ein Herrenmodegeschäft als Sachsponsor. Je ein Sakko und eine Hose gibt es gratis. Dafür müssen die Herren – in wesentlich feinerem Zwirn – für eine Werbeaufnahme posieren.

„It must have been quite an experience“ ist der Satz, den Wilhelm Holzbauer in den folgenden Wochen am öftesten hören wird. Immer wieder muss er die Geschichte seines Schiffbruchs erzählen, die Amerikaner können von den Schilderungen des Dramas nicht genug bekommen. Und mit dem Abstand von 50 Jahren kann sich Holzbauer dieser Begeisterung jetzt anschließen: „Ich bin richtig froh, dass ich das erlebt habe. Das war schon ein Abenteuer.“

Hanns Hermann Bühler, mittlerweile pensionierter Englischprofessor am Dolmetschinstitut, träumte noch eine Zeit lang von schief hängenden Treppen, die kein Ende nehmen. Die christliche Seefahrt meidet er seit damals. Es sei, meint er, doch recht langweilig auf so einem Schiff.

Von Rosemarie Schwaiger