Zeitgeschichte: Die Bürokratie der Opfer

Zeitgeschichte: Die Bürokratie der Opfer - Österreichs Juden: Ihr Leben und ihr Sterben

Österreichs Juden: Ihr Leben und ihr Sterben

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Wie muss ihnen zumute gewesen sein? Wie erlebten sie die herbeigesehnte Möglichkeit zur Flucht, die sie mit den noblen Schiffskarten der „Royal Mail Lines“ nun in Händen hielten?

Wie erging es Hugo S. und seiner Familie, die Wien im Februar des Jahres 1939 verließen, um mit der britischen Linie ins ferne Bolivien überzusetzen? Oder Emil S., der in Buenos Aires an Land gehen durfte? Oder Dr. Max R., der sich mit Frau und zwei Kindern nach Montevideo einschiffen konnte?

Jedes einzelne ihrer Buchungsblätter bei den „Royal Mail Lines“ wurde penibel abgeheftet und liegt bis heute im alten Ordner. Nur die in den vielen Jahren rostig gewordene Büroklammer ist inzwischen zur Schonung des Papiers ausgetauscht worden. Jenes, auf dem die „Cunard White Star“ ihre Passagen nach New York bestätigte, bricht, wenn man es berührt.

Die Papiere tragen zahlreiche Stempel und Signaturen. Auf manchem unterschrieben vier Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), dass ein Teil der Reisekosten von der Auswandererhilfe der Kultusgemeinde bezahlt würde.

Die Transatlantikpassage nach Kuba etwa kostete im Frühjahr 1939 für einen Passagier knapp 1000 Reichsmark, in heutiger Währung wären das rund 4000 Euro. Jeder einzelne Zuschuss musste abgewogen werden, denn der Auswanderungsdruck und die benötigten Summen waren gewaltig: In der jüdischen Gemeinde in Wien hatten sich zu Beginn des Jahres 1939 exakt 117.979 Menschen zur Auswanderung vormerken lassen.

Die meisten von ihnen hatten in den Monaten seit der NS-Machtübernahme im März 1938 ihre Arbeit verloren, viele verkauften zum Überleben ihr Hab und Gut stückweise. Salomon K. etwa nannte als Fluchtziel Nordamerika: Sein Fahrradgeschäft war ihm schon am Tag nach dem Einmarsch der Nazis in Wien einfach abgenommen und er verhaftet worden. Seine Familie, gab er an, habe aus Wien nichts mehr mitzunehmen als drei Handkoffer und einen Ballen an Bettzeug.

Und was erwartete die 20 Kinder, die am 22. Februar 1939 in Wien in den Zug nach Antwerpen, Belgien, stiegen? Auch von ihrer Reise zeugt eine vergilbte Abrechnung im Buchungsordner. Darauf sind 8,4 Reichsmark für das Frühstück der Kinder vermerkt, belgische Schwestern wurden für zwei Reichsmark auf einen Kaffee eingeladen, und fünf Reichsmark mussten für ein winziges Malheur auf der Strecke Köln–Achen ausgelegt werden – in Klammer steht „Fensterscheibe“.

„Mitgut“. Die Verfolgungs-Bürokratie schrieb im Detail vor, dass den Kindern „Mitgut“ nur „in ganz kleinem Ausmaße beigegeben werden“ durfte. Ihre Eltern hatten eidesstattlich zu erklären, „dass die Kinder keinerlei Vermögen besitzen und dass auch die Eltern ihnen kein Vermögen geschenkt oder übertragen haben“. Die Genehmigung für jeden einzelnen der so genannten Kindertransporte war ein Hürdenlauf, nach der Abfahrt verlangte die Gestapo erneut genauen Bericht, bis Kriegsbeginn am 1. September 1939 schafften mit Unterstützung der Kultusgemeinde beinahe 3000 Kinder die Ausreise.

Zigtausende von Bittbriefen, Auswanderungsakten, Telegrammen, Protokollen über Verhandlungen mit den NS-Machthabern wurden im Jahr 2000 in einem Haus der IKG in Wien-Fünfhaus gefunden: Was als Räumungsarbeit begann, führte zur Entdeckung von geschätzten 500.000 Seiten Dokumente über den Kampf ums Überleben von Österreichs Juden.

Gefunden wurde auch ein alter hölzerner Karteikasten – mittlerweile eine Art Sinnbild dafür, dass die Erinnerung nicht ausgelöscht ist. Sein unscheinbares Äußeres birgt wie eine schützende Hülle die Lebensdaten unzähliger Menschen. Es sind viele kleine Zettel, je einer für Alter, Beruf, Auswanderungsziel und finanzielle Möglichkeiten der Verfolgten.

Die Fundstücke sind historisch einzigartig, denn in ganz Europa wurde ein Großteil jüdischer Überlieferung von den Nazis systematisch zerstört.

Ab dieser Woche werden Teile davon erstmals öffentlich gezeigt: Das Jüdische Museum Wien zeigt sie in seiner Ausstellung unter dem doppeldeutigen Titel „Ordnung muss sein – Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien“.

Felicitas Heimann-Jelinek, Chefkuratorin des Jüdischen Museums Wien, zeichnet den singulären historischen Wert der Überlieferung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien an zwei Aspekten:

• Das Archiv umfasst einen Zeitraum von 300 Jahren – vom Beginn einer jüdischen Gemeinde in der Neuzeit bis zur Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert. Nach derzeitigem Wissensstand existiert in dieser Vollständigkeit und Geschlossenheit nichts Vergleichbares.

• Und es ist das einzige Archiv, in dem Vertreibung und Deportation der Menschen auftrags- und „ordnungsgemäߓ akribisch dokumentiert sind. Als einzige Gemeinde im deutschsprachigen Raum bestand die IKG – wenn auch unter verschiedenen Titeln – bis 1945 und hielt während dieser Zeit jeden einzelnen durch das NS-Regime bedingten beziehungsweise von ihm eingeforderten Vorgang fest.

Knapp vor Kriegsende wäre der wertvolle Bestand durch eine Bombe auf das Zentrum der Kultusgemeinde in der Wiener Innenstadt beinahe zerstört worden. Abraham Singer, Bibliothekar der IKG, grub die verschütteten Papiere dann mit seinen von der Gicht verkrüppelten Händen aus dem Bombenkrater. Ab den fünfziger Jahren wurde der überwiegende Teil – darunter rund drei Millionen Blatt aus der NS-Zeit – als Dauerleihgabe nach Jerusalem gebracht. „Die Wiener Israelitische Kultusgemeinde hat das alte Archiv, das die Geschichte der Wiener Judenschaft erzählt, nach Israel gesandt, damit es für ewige Zeiten gesichert sei“, so der damalige IKG-Präsident Ernst Feldsberg.

Neben den unzähligen Dokumenten über 17,5 Millionen Opfer des NS-Regimes, die vom Internationalen Suchdienst in Bad Arolsen in den vergangenen Jahren frei gegeben wurden, stößt das Archiv der IKG inzwischen auf weltweites Interesse. Paul Shapiro vom US Holocaust Memorial Museum in Washington: „Bisher wurde die Geschichte der jüdischen Verfolgung ja fast ausschließlich auf der Grundlage von Dokumenten geschrieben, die die nationalsozialistischen Verfolger hinterließen.“ Nun werde lebendig, was eine jüdische Gemeinde durchgemacht hat. Die „New York Times“ schrieb in einem Vorbericht zur Ausstellung in Wien, hier werde „die verlorene Holocaust-Geschichte einer Nation“ sichtbar gemacht.

Doch die Vorstellung, das Verlorene könne auf einmal entfaltet werden, ist Illusion. Kuratorin Heimann-Jelinek: „Es wird keine Geschichte erzählt, denn die Geschichte ist fragmentiert, wir können sie nicht mehr zusammensetzen, wir können sie durch keine Eingriffe ‚heilen‘.“

Gedächtnis. Ein Raum wurde mit hunderten Archivschachteln gefüllt, die nicht zu öffnen sind. Heimann-Jelinek: „Der Besucher hat keinen Zugriff auf den Inhalt dessen, was das jüdische Wien einmal war. Er kann es nur von außen sehen.“ Auch wenn das Archiv der IKG Wien nicht nur jüdisches, sondern auch österreichisches Gedächtnis sei, wolle man den Besuchern eines mitgeben: dass im Umgang mit diesem Gedächtnis Sensibilität gefordert ist.

Viele tausende Seiten sind zu Testamenten geworden: Salomon K., der nach Nordamerika emigrieren und dort „jede Arbeit, die sich mir bietet“, machen wollte, wurde im Mai 1942 nach Minsk deportiert und am Tag nach der Ankunft ermordet. Im letzten Brief an die IKG hatte er noch auf die „Einreise nach Shanghai lt. Zusage des Lloyd Triestino“ gehofft.

Sein Name steht auf den Listen der 48 Deportationstransporte, die ebenfalls in dem „vergessenen“ und wiedergefundenen Bestand in Wien entdeckt worden sind. Die Ordner nehmen nicht einmal einen halben Meter Regalraum ein – sie enthalten die Namen von mehr als 48.000 Menschen. Die Ausstellung wird die Außenseite der Schnellhefter zeigen, auf denen handschriftlich knapp Datum und Bestimmungsort der Deportationen vermerkt wurden, für den sechsten Transport etwa mit der Angabe „15. X. 1941 Litzmannstadt Lodz“. Binnen drei Wochen wurden 5000 Menschen ins Ghetto Lodz deportiert; wer dort nicht umkam, wurde in Gaswägen in Kulmhof ermordet.

„Judengeburten“. Eine riesige Übersichtskarte wird vom Leiter des IKG-Archivs, Lothar Hölbling, sarkastisch „Darstellung von Eichmanns Traum“ genannt: Sie ist mit „Die jüdische Wanderung aus der Ostmark“ überschrieben. „180.000 Juden in der Ostmark“ Anfang Mai 1938 steht die Zahl „39.984 Juden in der Ostmark“ Ende März 1941 gegenüber (Anm.: In Österreich lebten 1938 rund 206.000 Menschen, die laut den Nürnberger Rassegesetzen als Juden galten).

Eine Verlaufsstatistik heißt „Judensterblichkeit in Wien“, in ihr verbergen sich auch die vielen Selbstmorde wie der von Schriftsteller Egon Friedell, der sich am 16. März 1938 in den Tod stürzte. Eine andere heißt „Judengeburten in Wien“: Sie zeigt steil nach unten – Anfang 1941 kam in Wien jeden Monat nur noch ein jüdisches Kind zur Welt.

Als zigfach verästeltes Netz sind die für die Auswanderung notwendigen Amtswege abgebildet. Der „Weg des Juden“ führt an einer blaue Linie über „Vom Juden anzulaufende Stellen“ und „Vom Juden nur bedingt anzulaufende Stellen“.

Nach der Ausstellung in Wien wird die Karte drei Jahre lang in Washington im United States Holocaust Memorial Museum zu sehen sein.

In wessen Auftrag diese makabre Ansicht der Vertreibung erstellt wurde, ist unklar. Sicher ist, dass die Israelitische Kultusgemeinde selbst sie produziert hat, denn in ihrem Archiv befinden sich auch Vorlagen für die einzelnen Darstellungen. Der Historiker Jonny Moser überlebte nach seiner Flucht aus Österreich in Ungarn als Helfer des schwedischen Diplomaten Raul Wallenberg*) und gilt als einer der besten Kenner der Geschichte der IKG. Er vermutet Adolf Eichmann, Cheforganisator der NS-Judenvernichtung, als Auftraggeber. Moser: „Die Verwendung von schematischen Figuren in Statistiken, wie sie auf dieser Karte zu sehen ist, war als jüdische Erfindung bei den Nazis verpönt. Eichmann aber hat sie gefallen.“

In welchem Ausmaß Wien ab dem März 1938 den NS-Machthabern als Modell für die Vertreibung der Juden diente, ist vielfach beschrieben worden. Die wilden Plünderungen jüdischer Geschäfte und Wohnungen, die gewalttätigen Übergriffe und öffentlichen Demütigungen galten als ein Auslöser für das im Vergleich zum „Altreich“ Deutschland überaus harte Vorgehen der NS-Machthaber.

Die Historiker Hans Safrian und Hans Witek kamen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Judenhass in Wien zum Schluss: „Durch den stärkeren Druck von unten, durch die Exzesse der einheimischen Pogrom-Antisemiten war es in Wien für die Nazibürokraten zur Eindämmung der Ausschreitungen notwendig geworden, früher als im ,Altreich‘ pseudolegale Methoden und Organisationsformen für den ,ordnungsgemäßen‘ Terror zu finden.“*)

Kooperation. Ein Korrespondent der „New York Times“ berichtete bereits am 23. März 1938 aus Österreich: „Eines wird nun klar: Während in Deutschland die ersten Opfer der Nazis die Linksparteien waren – Sozialisten und Kommunisten –, sind es in Wien die Juden. In 14 Tagen ist es gelungen, die Juden einem unendlich härteren Regime zu unterwerfen, als es in Deutschland in einem Jahr erreicht wurde.“

Die Wiener Kultusgemeinde setzte ihre Hoffnung auf Kooperation mit den neuen Machthabern. Der Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici schrieb in seiner hervorragenden Auseinandersetzung mit der so heiklen wie schmerzhaften Geschichte der jüdischen Funktionäre: „Im Vergleich zum judenfeindlichen Mob, den antisemitischen Ausschreitungen im März 1938, schienen den jüdischen Funktionären die NS-Behörden zunächst eher gemäßigt und verhandlungsfähig.“*)

Drei Tage nach der nationalsozialistischen Machtergreifung verschaffte sich ein Trupp erstmals Zutritt zur Israelitischen Kultusgemeinde in der Wiener Seitenstettengasse. Am 18. März wurde das Amtsgebäude in einer großen Razzia durchsucht und besetzt. Gefunden wurde unter anderem ein Spendenbeleg für die von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg geplante Volksabstimmung – für die Nazis ein willkommener Vorwand, die jüdischen Gemeindevorsteher zu verhaften und 500.000 Reichsmark Strafgeld zu fordern. Kultusvorsteher Stieglitz beging Selbstmord.

Falle. Josef Löwenherz, Amtsdirektor der IKG, wurde von Adolf Eichmann bereits beim ersten Zusammentreffen geohrfeigt. Die Kultusgemeinde wurde gesperrt und am 2. Mai 1938 unter völlig veränderten Zwangsstrukturen wieder eröffnet. Rabinovici: „In der Zwischenzeit aber war die gesamte jüdische Interessenvertretung gelähmt und enthauptet worden.“

Eichmann beorderte jüdische Funktionäre in das verwaiste Palästinaamt – und ließ sie dort stehend berichten. Er verweigerte den jüdischen Repräsentanten „aus weltanschaulichen Gründen“ den Handschlag, verhöhnte und bedrohte sie. Rabinovici: „Die Gemeinde saß in der Falle. Die elenden Bedingungen, die von den Nazis geschaffen worden waren, zwangen die Verfolgten, sich zu unterwerfen.“

Am 8. Mai 1938 berichtete Eichmann nach Berlin: „Jedenfalls habe ich die Herrschaften auf den Trab gebracht, was du mir glauben kannst. … Morgen kontrolliere ich wieder den Laden der Kultusgemeinde und der Zionisten. Dies mache ich jede Woche mindestens einmal. Ich habe sie hier vollständig in der Hand, sie trauen sich keinen Schritt ohne vorherige Rücksprache bei mir zu machen.“

Das von Eichmann geleitete Sonderkommando der „Judenabteilung“ des Sicherheitsdienstes der SS (SD) begann mit der Umsetzung seines perfiden Konzepts: Die jüdische Gemeinde sollte dabei zu seinem Werkzeug werden. Der große Apparat der IKG wurde vollkommen unter seine Kontrolle gestellt, Josef Löwenherz als Amtsdirektor bestimmt. Die IKG sollte für reibungsloses Ablaufen der Zwangsmaßnahmen sorgen und damit die eigentlichen Täter gegenüber den jüdischen Opfern abschirmen. Löwenherz wurde in die von Eichmann im besetzten Rothschild-Palais eingerichtete „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ zum Empfang ihrer Weisungen beordert – er hatte diese der jüdischen Bevölkerung weiterzugeben. Wöchentlich musste er Eichmann und später dem SS-Mann Anton Brunner Bericht erstatten.

Erpressung. Die österreichische Historikerkommission zeigte auf, wie die Kultusgemeinde unter Druck gesetzt wurde, von ausländischen jüdischen Hilfsorganisationen gewaltige Devisenbeträge für die erzwungene Auswanderung einzufordern. Eichmann im Juni 1939: „Den jüdischen Funktionären wurde Anweisung erteilt, bei jüdischen Finanzinstitutionen die monatliche Übersendung von 100.000 Dollar in Bardevisen für die Abwanderung der Juden aus der Ostmark zu verlangen.“ Die Historiker Gabriele Anderl und Dirk Rupnow dokumentierten, dass für die Auswanderung insgesamt 4,2 Millionen Dollar an Devisen aufgebracht wurden. Die Kultusgemeinde hatte die Devisen an die Auswanderer weiterzuverkaufen – mit dem Erlös griff sie bedürftigen Auswanderern und jenen zigtausenden unter die Arme, die sie in ihren Suppenküchen ausspeiste.

Auch Raul Hilberg, der aus Wien stammende Doyen der Holocaust-Forschung, hat unter den vergilbten Papieren Schriftstücke seiner Familie gefunden. Sein Vater schrieb, er habe zur Auswanderung „jedenfalls sehr geringe Mittel“. Die Familie flüchtete im März 1939 über Kuba nach New York. In seinem jüngsten Buch „Die Quellen des Holocaust“ schrieb Hilberg: „Die Wirklichkeit der Ereignisse ist nicht rekonstruierbar. Die unermüdliche Suche nach Erkenntnis geht weiter, und mag sie noch so aufwändig sein, damit nicht alles verloren und vergessen wird.“

Von Marianne Enigl

In der nächsten Ausgabe:
Jüdische Funktionäre, Fürsorger und Jugendführer unter der NS-Herrschaft