Zeitgeschichte Wien: Schandmale der Stadt

Zeitgeschichte: Schandmale

Der jüdische Friedhof in Wien-Währing verfällt

Drucken

Schriftgröße

„Nun, am Abend ihres Lebens, galt sie nur noch für ‚scandaleusement juive‘. Sie wollte es auch im Tode sein und hatte längst dafür Sorge getroffen. Ihr Neffe Leopold von Herz, Metternichs Freund, sollte ihr Begräbnis nach dem Brauch des Alten Testamentes anordnen. Und das tat er denn auch, bevor er selbst zum Christentum übertrat.“
Hilde Spiel: „Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation“

"Das ist Fannys Grab?", im Gesicht von Manuela Hoelterhoff macht sich ungläubiges Erstaunen breit. Die Journalistin aus New York – für ihre Kulturkritik im „Wallstreet Journal“ wurde sie mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet – steht vor einem schweren Steinsarkophag, an dessen Schmalseiten Löcher klaffen.

Hoelterhoff bereitet für die US-Nachrichtenagentur Bloomberg News einen Dokumentarfilm über den Währinger jüdischen Friedhof in Wien vor – und unter den vielen Persönlichkeiten, von denen dieser Ort zeugt, ist Fanny Freifrau von Arnstein eine der herausragenden. Als „die interessanteste Frau in Europa, eine Wundererscheinung in unserer dummen, egoistischen Zeit“ gerühmt, versammelte sie während des Wiener Kongresses 1814/15 in ihrem Salon Diplomatie und Politik, die nach Napoleons Sturz die Neuordnung Europas diskutierten. Klug, weltgewandt, gut aussehend und liberal verkörperte sie selbstbewusst die Gleichstellung von Juden und Nichtjuden, das wichtigste Werk der Schriftstellerin Hilde Spiel „Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation“ handelt davon.

Heute ist ihr Grabmal seiner ganzen Bedeutung beraubt: Die Gebeine der Fanny Arnstein sind entfernt, die steinerne Tafel mit der Namensinschrift liegt zerbrochen da. Zerbrochen wurden auch die Namenstafeln am Grab ihres Gatten Nathan und ihres Schwagers Bernhard Eskeles-Arnstein (im Palais Eskeles befindet sich heute das Jüdische Museum der Stadt Wien). Der vandalistische Akt wurde erst vor wenigen Jahren verübt, als der Friedhof noch allgemein zugänglich war.

Friedhöfe sind in jeder Kultur Träger von Erinnerung und Erbe. Im Judentum, in dem Gräber nicht aufgelassen und wiederbelegt werden dürfen, sind sie Zeichen der starken Verwurzelung an einem Ort – und als solche „durch Vertreibung und Shoah mit besonderer Bedeutung aufgeladen“, so Hanno Loewy, der seit Langem zu den Themen Kultur der Moderne und Nationalsozialismus forscht. Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, Vorarlberg, bezeichnet den jüdischen Friedhof dort „als wichtigsten Ort für die von Kalifornien bis Australien lebende Hohenemser Diaspora“.

Ansehen. Der Währinger jüdische Friedhof dagegen ist ein beschämender Nachweis der Missachtung der Würde dieses Ortes und eines so faszinierenden wie reichen Museums unter freiem Himmel. Von 1784 bis 1874 belegt, ist er mit ursprünglich zwei Hektar Fläche einer der größten Biedermeierfriedhöfe Mitteleuropas und zeugt von einer zentralen Phase in der Entwicklung der Stadt und ihrer jüdischen Gemeinde: Sie wuchs in diesen knapp einhundert Jahren von 300 Mitgliedern auf rund 40.000 an. Wertvolle Grabmäler wie jenes der Familie Wertheimer – Josef Ritter von Wertheimer eröffnete 1830 mit der „Kinderbewahranstalt“ den ersten Kindergarten Österreichs – oder die Zitierung der erhaltenen Auszeichnungen wie jene auf der Gruft des Heinrich Ritter von Sichrowsky, Ritter des Ordens der eisernen Krone III. Klasse, zeugen von gesellschaftlicher Anerkennung. Auch die Familie Gustav Ritter von Epsteins wurde hier bestattet: Der Bankier war Mitbegründer der für Wiens Versorgung mit Kohle wichtigen Kaiser-Ferdinand-Nordbahn, das Palais Epstein am Wiener Ring ist heute eine noble Dependance des Parlaments.

In einem Rückblick auf diese Epoche schrieb Moritz Königswarter im Jahr 1876: „Vor fünfzig Jahren waren unsere Väter rechtlose Knechte; heute sind wir freie Bürger eines freien Staates.“

Zum Vergleich: Auf dem beeindruckenden alten jüdischen Friedhof in der Mitte von Prag wurde aus Platzmangel in Schichten übereinander bestattet, daher stehen hier die Grabsteine verschiedener Epochen nebeneinander. Er ist heute eine der touristischen Attraktionen der Stadt.

Auf dem Währinger jüdischen Friedhof tragen zwar auffallend viele der Steine in Hebräisch und Deutsch den Wunsch „Unvergesslich“, doch allein ihn wieder betretbar zu machen wird beträchtlicher Anstrengung bedürfen. Die Fensterscheiben des ehemaligen Taharah-Hauses, des Zeremonien-Baus, sind eingeschlagen. Die Mehrzahl der Grabstätten ist wild umwuchert, umgestürzte Grabsteine liegen über- und durcheinander, ein vom Orkan Kyrill im Jänner gefällter Baum zerstörte eine Gruppe der ältesten Steine. Die Efeuranken auf den verwitterten Steinen muten romantisch an, doch sie zerstören die Grabdenkmäler, von denen jedes ein individuelles Zeichen ist. Geknickte Blumen und Zweige auf dem Stein symbolisieren den Tod eines Kindes, Hände zeichnen die Gräber der Priester aus. Der Verfall auf den besonders reich geschmückten Sandsteinen ist unübersehbar.

„Judenfriedhof“. Besondere Ironie: In den vergangenen Jahren hat der so genannte Götterbaum, eine aus Asien importierte Art, die sich auf Schutt explosionsartig vermehrt, etwa ein Drittel des Areals erobert. Werden die jährlich bis zu zwei Meter hohen Triebe geschnitten, treiben aus den Wurzeln hunderte Pflanzen neu aus.

In einer offenen Gruft sind desolate Freizeitmöbel deponiert worden.

Derzeit bestehen in Österreich rund 65 jüdische Friedhöfe mit rund 280.000 Gräbern. Sehr viele liegen in Landgemeinden, in Niederösterreich sind es 30, im Burgenland 16. An Orten wie in Schönbühel bei Melk erinnert einzig der mit „Judenfriedhof“ eingetragene Parzellenname daran, in Stadtschlaining, Burgenland, wurde der ehemalige jüdische Friedhof zum Obstgarten, mit den Grabsteinen als dekorativer Einfassung.

In der Bundesrepublik Deutschland beschlossen Bundesregierung und Länder bereits 1956, „anstelle der vernichteten jüdischen Gemeinden für die Sicherung und Betreuung der verwaisten jüdischen Friedhöfe zu sorgen“. Derzeit wenden Bund und Länder für die jüdischen Friedhöfe jedes Jahr an die fünfzehn Millionen Euro auf.

In Österreich war die jüdische Gemeinde nach dem Ende des Nationalsozialismus auf wenige tausend Menschen dezimiert. Über viele Jahre galt es, die tausenden Opfer, die 1945 auf den berüchtigten Todesmärschen in Richtung des KZ Mauthausen erschossen, erschlagen und verscharrt worden waren, zu bergen und auf jüdischen Friedhöfen zu bestatten.

„Anfall von Güte“. Per Gesetz steht jeder jüdische Friedhof als Einrichtung einer gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft unter Denkmalschutz. Bisher waren es aber vor allem Privatinitiativen wie „Schalom“, die sich des Erbes mit Unterstützung vieler Freiwilliger angenommen haben. In manchen Orten wie Mödling und Korneuburg pflegen die Gemeinden ihre verwaisten jüdischen Friedhöfe vorbildlich, in Krems hat der Historiker Robert Streibel Pionierarbeit geleistet: Die Gräber können inzwischen auch virtuell besucht werden, samt der symbolischen Möglichkeit, auf ihnen nach jüdischer Tradition kleine Steine abzulegen (www.juden inkrems.at/friedhof).

Offiziell erklärte sich Österreich 2001 im Abkommen von Washington bereit, „Unterstützung für die Restaurierung und Erhaltung jüdischer Friedhöfe zu leisten“. Konkrete Schritte sind diesem Bekenntnis bisher nicht gefolgt. Barbara Prammer, Präsidentin des Nationalrats, ist fest entschlossen, innerhalb des heurigen Jahres zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eine Lösung zu erreichen. Prammer: „Ich stehe an einem Anfang, es hat keine Vorarbeiten gegeben.“ Und: „Es wird nicht einfach werden, ich mache mir da keine Illusionen.“ Zuallererst gelte es, Einvernehmen über die notwendigen Gelder zu schaffen. In der 2001/2002 erstellten Bestandsaufnahme der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) wurden rund 42 Millionen Euro für dringende Sanierungsarbeiten errechnet. Ariel Muzicant, Präsident der IKG, hat vor Kurzem eingestanden, dass die Erhaltung der jüdischen Friedhöfe lange selbst für die Kultusgemeinde kein Thema war, da anderes Vorrang hatte. Nun will er „keine Schuldzuweisungen über Versäumnisse in der Vergangenheit“ und sieht erstmals breiteres Verständnis gegeben.

Dem Vernehmen nach soll für die Sanierungsaufgabe eine eigene Stiftung gegründet, für die Pflege sollen die Gemeinden gewonnen werden. Die Stadt Wien stellt derzeit dafür jährlich rund 300.000 Euro zur Verfügung. Das reicht gerade für die mehr als 100.000 Gräber, die auf dem jüdischen Teil des Zentralfriedhofs angelegt wurden, nachdem die Kapazität des Währinger Friedhofs erschöpft war.

Im Vorjahr ventilierte Wiens damaliger Finanzstadtrat Sepp Rieder bereits die Idee einer gemeinsamen großen Initiative von Bund und Ländern. Bürgermeister Michael Häupl tat das im Gemeinderat als „einen Anfall außerordentlicher Güte und Milde eines Finanzstadtrates“ ab, „was mit Sicherheit darauf zurückzuführen ist, dass er Präsident der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft ist“. Marco Schreuder, Gemeinderat der Grünen, hat die Gemeinde- und Stadträte Wiens zu einer Führung auf dem jüdischen Friedhof in Währing eingeladen, bisher hat keiner zugesagt. Immerhin: Ende der Vorwoche wurde der Einsatz städtischer Gärtner für die dringendsten Arbeiten fixiert.

Fanny von Arnstein starb am 8. Juni 1818. Ihr Sarkophag wurde nach dem alten Ritus unter Trauergesängen, Harmonikaspiel, Psalmen und Gebeten auf dem damals neuen Währinger jüdischen Friedhof beigesetzt. Zum Leben im Haus der berühmten Salonière zitiert Hilde Spiel in ihrem Roman Beobachtungen der Geheimpolizei: „Bei Arnstein war vorgestern nach Berliner Sitte ein sehr zahlreiches Weihbaum- und Christbaumfest. Es waren dort Staatskanzler Hardenberg, die Staats-Räthe Jordan und Hoffmann, … Fürst Hardenberg amüsierte sich unendlich.“ Fanny von Arnstein wird zugeschrieben, in Österreich den Weihnachtsbaum eingeführt zu haben.

Von Marianne Enigl