Die Stimme der Kassandra

Zeitzeugin: Die Stimme der Kassandra

Traude Lessing warnte im Drahtfunk vor den Angriffen

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Eine schöne, dunkle Stimme. Immer noch.Traude Lessing, 79 Jahre, atmet tief durch, verschließt die Augen vor dem Blätterwald in ihrem Villengarten am Wiener Schafberg und sagt: „Achtung, Achtung. Hier Luftschutzsender Wien. Wir bringen in Abständen Luftnachrichten.“

So ungefähr müsste es gewesen sein, meint sie, spürbar irritiert über die ausgelösten Erinnerungen. „Nachträglich, ja“, da habe sie alles gewusst und vieles bedauert. Sie hätte dagegen sein können, aber das war sie nicht. In ihrem Tagebuch aus dieser Zeit hat sie notiert, wenn ihr ein junger Mann einen langen Blick zugeworfen hat. Solche Dinge eben.

Traude Lessing war Studentin und 20 Jahre alt, als sie im September 1944 zur Arbeit im Kommandobunker des Wiener Gauleiters und Hitlerjugendführers Baldur von Schirach dienstverpflichtet wurde. Der Eingang zum mehrere Stockwerke tiefen Bunkersystem befand sich im 16. Wiener Gemeindebezirk am Gallitzin- berg nahe der Jubiläumswarte.

Warum Traude Lessing diesen privilegierten Posten erhalten hat, weiß sie bis heute nicht. Vielleicht war es der bürgerliche, großdeutsche Hintergrund des Elternhauses, in dem man zwar naserümpfend auf den Proleten Hitler herabsah, aber mit dessen Zielen an und für sich schon einverstanden war. In den ersten Wochen beaufsichtigte Lessing die Funkhelferinnen, dann wurde sie aufgrund ihrer ruhigen und klaren Stimme ausgewählt, die Wiener vor den feindlichen Bombenangriffen zu warnen. Jeden Morgen wurde sie von ihrer Wohnbaracke in den Führerbunker hinaufgebracht. Tief unten, im Befehlsraum des Bunkers, saß sie hinter einer Milchglasscheibe, auf der die Fernmelderinnen die Anflugsrouten der amerikanischen Bombergeschwader eintrugen.

Wenn der Kuckucksruf ertönte, wurde das Radioprogramm unterbrochen, und Lessing sagte durch, woher die Gefahr kam und wo Einschläge zu erwarten waren. Sie war die einzige Sprecherin. Einen Ersatz gab es nicht. Die Zerstörungen in der Stadt hat sie erst gesehen, als die Rote Armee schon im Anmarsch war und sie mit dem Rest der Bunkerbesatzung über die Thaliastraße in die Hofburg flüchtete.

Bedauern. Lessing hat lang an den Sieg der Deutschen geglaubt. Der Tod war fern und irreal, über Politik wurde im Bunker kaum gesprochen. Die Mädels machten sich höchstens lustig über einen NS-Funktionär, der als designierter Gauleiter der russischen Halbinsel Krim im Wiener Bunker hoffnungsvoll auf die Übernahme seiner Amtsgeschäfte wartete.

In den letzten Wochen des Krieges, bei einem Abendessen im Hause Schirach, stellte Lessing die Frage, warum Schirachs Frau und hohe Nazi-Funktionäre nicht mehr da seien, wo es doch geheißen habe, alle müssten in Wien bleiben? „Die haben alle nur gelacht“, erinnert sich Lessing. Da habe sie „g’wusst, was g’spielt wird“.

In den Schlaf geweint hat sich Traude Lessing später, nachdem sie 1947 ihren Mann kennen lernte, den Fotografen Erich Lessing, dessen Mutter in Auschwitz und dessen Großmutter in Theresienstadt ermordet worden waren. „Dieser herrliche Bursche“, sagt Lessing, „hätt ins KZ kommen können, und ich hätt nichts dagegen getan. Ja, ein blödes Mädel, wie ich war, hätt ich nichts davon gewusst … aber trotzdem.“