Zentraleuropa

Zentraleuropa: Gute Nachbarn

Gute Nachbarn

Drucken

Schriftgröße

Auf der March fuhr ein Patrouillenboot, Ungarn und das Burgenland teilte ein Stacheldrahtzaun, bewachte Grenzen trennten Südböhmen vom benachbarten Niederösterreich – eine Art der Grenzlandstimmung, die heute beinahe schon vergessen ist: Slowaken und Österreicher frequentieren einträchtig die ständig expandierenden Shopping-Zentren bei Bratislava. Bei der Dimensionierung der eben fertig gestellten Neubauten des Wiener Messegeländes wurden nennenswerte Besucherströme aus Zentraleuropa bereits fix einkalkuliert. Und im September des Vorjahres präsentierten die Landeshauptleute Michael Häupl, Erwin Pröll und Hans Niessl eine Art „Staatsvertrag“, welcher die Etablierung einer „Europaregion“ vorsieht und auf enge Kooperation mit Regionen und Städten in Tschechien, Ungarn und der Slowakei abzielt.

Eine „Vienna Region“ postulierte im Vorjahr auch der Wiener Wirtschaftsförderungsfonds – und meinte damit den Großraum Wien als Herzstück eines neu strukturierten, prosperierenden Wirtschaftsraumes mit ökonomischen wie gesellschaftlichen Anbindungen an Österreichs Nachbarregionen vor allem im Norden und Osten. Österreichs östliche Bundesländer sowie die grenznahen Regionen Tschechiens, Ungarns und der Slowakei stellen einen Markt mit rund sieben Millionen Menschen dar.

Zentrum Europas. All die Entwicklungen, welche mit dem Fall des Eisernen Vorhanges eingeleitet wurden, finden mit der EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 ihren vorläufigen Höhepunkt. Von der ehemaligen Randlage rücken Österreich und seine Nachbarn nun gleichsam ins Zentrum Europas. „Standen unsere Betriebe früher quasi mit dem Rücken zur Wand, so hat das Land ganz eindeutig von der Ostöffnung profitiert“, meint Sonja Zwazl, Präsidentin der Wirtschaftskammer Niederösterreich. „Das wird schon durch die hohe Exportquote in die mittel- und osteuropäischen Länder belegt.“

Franz Kröpfl, Wirtschaftskammerpräsident des Burgenlandes, pflichtet seiner Kollegin bei. „Jeder Bezirk unseres Landes grenzt unmittelbar an die Beitrittskandidaten“, so Kröpfl. „Es ist daher weder sentimental noch ein verklärter Blick in die Vergangenheit, wenn wir von einem gemeinsamen pannonischen Raum sprechen.“ Längst hätten, glaubt Kröpfl, die „Menschen hier und jenseits der Grenze viele Bedürfnisse, das nötige Kapital und vor allem auch den Willen, ihr Geld hier auszugeben“.

Im Jahr 2001 war das Burgenland mit 4,4 Prozent nomineller BIP-Steigerungsrate erstmals dasjenige österreichische Bundesland mit dem stärksten Zuwachs an regionaler Wirtschaftsleistung. Eine Erhebung des Vereins KMU Forschung Austria, der bis vergangenes Jahr unter dem Namen Österreichisches Institut für Gewerbe- und Handelsforschung firmierte, ergab zudem, dass Konsumenten aus den ungarischen Komitaten Györ-Moson-Sopron und Vas im Jahr 2002 rund 40 Millionen Euro in die Kassen des burgenländischen Einzelhandels fließen ließen – während die Burgenländer in den ungarischen Regionen nur etwa halb so viel ausgaben. Auch aktuelle Kaufkraftzuflussanalysen der Wirtschaftskammer zeigen, dass die Nachbarn eindeutig mehr in Österreich einkaufen als umgekehrt.

Auch das Einkommen in Österreichs Grenzregionen hat sich zumindest nach dem Fall des Eisernen Vorhanges überdurchschnittlich positiv entwickelt. So verweist etwa das Bundeskanzleramt darauf, dass in den Jahren zwischen 1989 und 2000 die Bruttoeinkommen im Waldviertel und im Mühlviertel um 9,5 beziehungsweise 5,5 Prozent stärker gewachsen sind als der österreichische Durchschnitt.

Sonja Zwazl von der Wirtschaftskammer hält derartige Ziffern für einen plausiblen Beleg dafür, dass Österreichs Ostregion in den vergangenen knapp eineinhalb Jahrzehnten von den intensivierten Geschäftsbeziehungen mit den Nachbarregionen profitiert hat. „Die Geschichte der Europäischen Union zeigt“, so Zwazl, „dass sich die Nähe von entwicklungsfähigen Regionen zu hoch entwickelten Wirtschaftsräumen immer als besonders vorteilhaft für beide Seiten herausgestellt hat.“ Ähnlich sieht dies Arnold Suppan, Experte für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. „Schon in der Monarchie florierten diese Gebiete“, so Suppan. „Auf lange Sicht wirkt sich die Verquickung von Kultur und Wirtschaft positiv aus.“

Mitverantwortlich für Wachstumsraten, kulturelle Annäherung und vielfältige Initiativen sind nicht zuletzt Fördermittel aus den EU-Programmen Phare und Interreg III A – Letzteres zielt dezidiert auf die „verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Regionen der Europäischen Union“ ab. Im Rahmen dieser Programme stellte Brüssel den Grenzregionen in Österreich, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien rund 1,8 Milliarden Euro an Fördergeldern zur Beseitigung bestehender Nachteile zur Verfügung. Mithilfe der Finanzmittel sollten die Lebensstandards angeglichen, Rechtssicherheit geschaffen und die Marktwirtschaft forciert werden. Aber auch zahlreiche private Initiativen und Aktivitäten beleben die Region.

Für eine ganze Reihe österreichischer Handelsunternehmen liefern die EU-Beitrittsländer längst wesentliche Teile der Gesamtumsätze. So erzielt die Baumarktkette bauMax fast die Hälfte des Konzernumsatzes von 880 Millionen Euro in Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien. Der Möbelhändler kika/Leiner eröffnete 2003 den dritten kika-Markt in Budapest, und der Lebensmittelhändler Spar betreibt 180 Märkte in der Slowakei, Ungarn und Tschechien.

Politische Altlasten. Freilich bestehen zwischen den einzelnen Regionen teils signifikante Unterschiede in Bezug auf Wirtschaftsstruktur und ökonomische Entwicklung. Die Grenzregion zwischen Österreich und Tschechien etwa wird in erheblichem Maß von den Städten Wien und

Brno (Brünn) geprägt – wichtige Impulsgeber und Arbeitsplatzzentren für die gesamte Region. In den ländlicheren Teilen herrscht eine recht vielfältige Wirtschaftsstruktur mit einem hohen Anteil an Klein- und Mittelbetrieben aus den Branchen Leder-, Glas-, Stein- und Holzverarbeitung oder Maschinenbau – allerdings mit geringerer Innovationstätigkeit und Produktivität. Ein Problem, welches im „Interreg-III-A-Programmpapier für grenzüberschreitende Zusammenarbeit“ der EU unter anderem auf Nachwirkungen planwirtschaftlicher Strukturen in den Regionen jenseits der österreichischen Grenzen zurückgeführt wird.

Mit dem Umwandlungsprozess von der Plan- zur Marktwirtschaft und der Privatisierung des Staatseigentums hat in Tschechien ein Strukturwandel auf allen Ebenen stattgefunden. Unrentable und veraltete Fabriken mussten sperren, was massive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt zur Folge hatte. In Südmähren mit dem Wirtschaftszentrum Brno ist der Anteil jener Personen unter der arbeitenden Bevölkerung, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind, zwischen 1989 und 1998 von 17 auf sieben Prozent gesunken. Im Bereich der Industrieproduktion ist dieser Prozentsatz von 47 auf 40 Prozent geschrumpft, während er im Dienstleistungssektor um fast 20 Prozent angewachsen ist.

Freilich seien die nachhaltigen Strukturänderungen in den Beitrittsländern unabdingbar gewesen, heißt es im Interreg-Papier: „Somit konnten die grundsätzlichen Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Umstrukturierung und für eine allgemeine wirtschaftliche Entwicklung des Gebietes geschaffen werden.“

Schmerzhafte Wende. Die Veränderungen waren teilweise durchaus schmerzhaft: Zwischen 1990 und 1992, kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhanges, sank das reale Bruttoinlandsprodukt in den Ländern Zentraleuropas um ein Fünftel. In der Slowakei kam hinzu, dass aufgrund der Wirtschaftspolitik vor der Wende vor allem große, kapitalintensive Unternehmen gefördert wurden, deren Absatz stark auf die Länder des ehemaligen Ostblocks ausgerichtet war.

Doch durch forcierte Privatisierung und das Engagement ausländischer Investoren hat sich beispielsweise im Raum Bratislava inzwischen eine produktive Automobilindustrie herausgebildet (siehe auch Geschichte ab Seite 76). Eine „zunehmende Integration der lokalen Wirtschaften beider Länder“ konstatiert etwa Zsolt Lukac, Staatssekretär des slowakischen Ministeriums für Bauten und regionale Entwicklung: „Es entsteht eine Region, die auch administrative Grenzen sprengt.“

Trendwende. Auch in Westungarn hat sich dank ausländischer Direktinvestitionen, einem relativ großen Angebot an qualifizierten Arbeitskräften und vorhandener ökonomischer Kapazitäten relativ rasch eine Trendwende eingestellt. 1993 beschloss etwa der Autohersteller Audi, seine Motorenproduktion nach Györ zu verlegen. General Motors, die deutsche VAW Aluminiumtechnik oder der Elektronikkonzern Philips folgten. Und Slowenien gilt heute als das Vorzeigeland unter den Beitrittskandidaten und genießt bei den internationalen Ratingagenturen aufgrund des Wirtschaftswachstums, der internationalen Konkurrenzfähigkeit, solider Infrastrukturen sowie der Personal- und Management-Ressourcen die beste Wertung unter allen Reformstaaten.

Die volkswirtschaftliche Abteilung der Bank Austria Creditanstalt bezeichnet die neuen EU-Mitglieder jedenfalls schon heute als insgesamt funktionierende Marktwirtschaften und betont, dass diese Länder in punkto Zuwachsraten bei Pro-Kopf-Einkommen und Investitionsvolumina in den vergangenen Jahren sogar die erfolgreichsten der Welt gewesen seien. Der 2-Millionen-Einwohner-Staat Slowenien erreicht beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 70 Prozent des EU-Durchschnitts – und hat damit bereits Staaten wie Griechenland oder Portugal eingeholt.

Imre Szakács, ungarischer Komitatspräsident des an Österreich grenzenden Bezirkes Györ-Moson-Sopron, zählt auf die EU-Fördergelder, von denen er sich Verbesserungen vor allem beim Ausbau des Straßen- und Wegenetzes erwartet. Mit der Ostöffnung ging auch in Ungarn eine massive Verbesserung des Lebensstandardes einher. Das Nettoeinkommen ist in Westungarn um 25 Prozent höher als im Osten des Landes, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf beträgt 65 Prozent des EU-Niveaus, und die Industrieproduktion wächst jedes Jahr um 20 bis 30 Prozent. „Schon in den letzten zehn Jahren hat es in der Grenzregion große und positive Veränderungen gegeben“, konstatiert Szakács. „Die Bewohner können viel einfacher über die Grenze. Das bedeutet eine Zunahme an unternehmerischen Aktivitäten und die Vergrößerung des Arbeitsmarktes.“

Die neuen Nachbarn stehen aber – ungeachtet bereits erfolgter Strukturveränderungen – weiterhin vor erheblichen Herausforderungen: EU-Recht und -Regeln müssen umgesetzt werden; es gilt, die Wettbewerbsfähigkeit weiter zu steigern, kontinuierlich Innovationen zu fördern und das erwirtschaftete Kapital im Land zu halten.

Walter Nettig, Präsident der Wirtschaftskammer Wien, ist zwar, wie er sagt, „seit langem der Überzeugung, dass die Erweiterung eine einmalige Chance ist“, betont aber zugleich, „dass man natürlich Tag und Nacht um den Wirtschaftsstandort kämpfen muss“. Erstmals sei man in der Situation, formulierte jüngst auch René Siegl, Geschäftsführer der Austrian Business Agency, „dass vier Länder beim Wettbewerb um die Investitionsentwicklung kooperieren, obwohl sie natürlich Wettbewerber bleiben“. Die Vorteile, welche Österreich als Wirtschaftsstandort vorerst noch auszeichnen, meint Nettig, seien „die Produktivität, das hohe Ausbildungsniveau, das Know-how im Osten und die ideale strategische Lage mit wirtschaftsfreundlicher Einstellung“.

Tourismus-Initiativen. An der künftigen Ausrichtung ganzer Regionen wird denn auch längst getüftelt – vielfach in Zusammenarbeit mit den neuen Nachbarn. Die Regionen östlich von Wien etwa, vielfach von intakten Naturlandschaften geprägt, könnten verstärkt auf den Tourismus ausgerichtet werden, sind sich viele Experten einig. 300.000 zusätzliche Nächtigungen von Gästen aus den neuen Nachbarländern, so lautet bereits das Ziel der Österreich Werbung für die kommenden Jahre.

Mit großem Aufwand werden deshalb zum Beispiel Schlösser im Marchfeld revitalisiert. „Schloss Hof und Schloss Niederweiden gehören zu den größten und prächtigsten Schlossanlagen Österreichs. Damit haben wir die Chance, als kultureller Frontbotschafter zu reüssieren“, glaubt Helmut Pechlaner, neben seinem Hauptberuf als Direktor des Tiergartens Schönbrunn auch Geschäftsführer dieses Revitalisierungsprojekts.

Ursprüngliche Motivation für die Republik Österreich und das Land Niederösterreich, diese nach eigenen Angaben größte Kulturbaustelle Österreichs in Angriff zu nehmen, war naturgemäß die Grenzöffnung. Inzwischen bestehen bereits österreichisch-tschechische Kooperationen, das ehemals gemeinsame Kulturgut wiederzubeleben. Zudem plant das slowakische Heimatwerk Uluv, ein altes Handwerkszentrum zu eröffnen, und auch das slowakische Denkmalamt ist in die Renovierung involviert.

Auch im Nationalpark Donauauen ist man um Kooperationen bemüht. „Ziel ist es, auch eine Sehenswürdigkeit von Bratislava zu werden“, sagt Carl Manzano, Direktor des Nationalparks. Schon in der jüngeren Vergangenheit habe man Ausstellungen und Führungen in Bratislava und den grenznahen Gebieten organisiert. Und bereits seit Mitte der neunziger Jahre, so Manzano, würden österreichische, tschechische und slowakische Naturschützer gemeinsame Umweltschutzprojekte durchführen, etwa zu Schwerpunkten wie der Bewirtschaftung der Donau und des Nationalparks. „Realität ist“, sagt Manzano, „dass schon heute durch die EU die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gefördert wird.“