Kino

Anatomie der Ausbeutung: Sudabeh Mortezais albanisches Kapitalismusdrama „Europa“

Das sozialpolitisch dringliche Kino der Wiener Regisseurin Sudabeh Mortezai liegt nah an den Schlagadern der Wirklichkeit. In „Europa“, ihrem dritten Spielfilm, prangert sie die Profitgier westlicher Konzerne in Albanien an.

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Die junge Gesandte eines multinationalen Konzerns reist nach Albanien, um Überredungsarbeit zu leisten. Scheitern ist keine Option. Ihre Chefs fordern Vollzugsmeldungen, gerne gestern. Die Managerin Beate Winter, dargestellt von der Berliner Schauspielerin Lilith Stangenberg, braucht Unterschriften: Die Bauern, die sie aufsucht, sollen ihr Land, ihr Zuhause verkaufen und so schnell wie möglich verlassen. Die Investitionspläne des Unternehmens gehen vor.

Doch Winter dringt nicht durch. Ihre Argumente werden von denen, die sie über den Tisch zu ziehen versucht, zurückgewiesen. Das Land sei nichts wert, das Haus baufällig? Die Kinder sollen es anderswo besser haben? Wer wäre sie, dies zu beurteilen? „Europa“ heißt der Film, der vom Kampf zweier albanischer Bauern gegen Ausbeutung und Vertreibung berichtet. Die Erzählung ist eine Fiktion, aber sie wurzelt in der Realität – und ihre Wirklichkeitsnähe ist nicht bloß eine Behauptung. Fast alle Menschen, die in diesem Film zu sehen sind, wissen genau, wovon sie sprechen, denn sie spielen sich im Wesentlichen selbst.

Die Filmemacherin und Autorin Sudabeh Mortezai ist eine Kosmopolitin. 1968 als Tochter iranischer Eltern in Deutschland geboren, in Wien und Teheran aufgewachsen, hat sie unter anderem in Los Angeles studiert. Als Regisseurin ist sie seit Mitte der 2000er-Jahre aktiv und seit je auf globale, sozialpolitische Themen abonniert. Mit Dokumentarfilmen über Religionsrituale im Iran („Children of the Prophet“, 2006) und islamische Sexualpolitik („Im Bazar der Geschlechter“, 2010) erzielte sie erste Achtungserfolge. 2014 debütierte sie als Spielfilmregisseurin: „Macondo“ kreiste mit erstaunlicher Stilsicherheit um einen aus Tschetschenien nach Wien geflüchteten Buben; die dokumentarisch anmutende Improvisationsarbeit des Laien-Ensembles ging auf. Mit „Joy“, einer Erzählung vom Überlebenskampf nigerianischer Sexarbeiterinnen in Wien, wurde die Regisseurin 2018 gleich nach Venedig eingeladen. „Europa“, ihr dritter Spielfilm, blickt nun erneut unverwandt auf Mechanismen der Ausbeutung, Entrechtung und Ungleichheit, diesmal in Osteuropa, in den weiten, von Kameramann Klemens Hufnagl souverän fixierten Landschaften Albaniens.

Terra incognita

Sie habe über Albanien, ehe sie diesen Film zu schreiben begonnen habe, „null gewusst“, sagt Sudabeh Mortezai im profil-Gespräch. Das sei „Terra incognita, ein für viele in Westeuropa komplett unverstandenes Land“. Als sie dann dort war, verliebte sie sich schnell in Albanien – „weil es nicht nur atemberaubend schön ist, sondern auch voller herzlicher und gar nicht nur traditioneller Menschen. Die jungen Leute in Tirana, vor allem die Frauen, sind superwestlich, gebildet, kosmopolitisch, sprechen mehrere Sprachen.“

Es gebe allerdings ein Gefälle zwischen Stadt und Land: In den Dörfern leben „die wirklich traditionellen, urwüchsigen, religiösen Leute“. In Albanien sei jedoch sogar die religiöse Praxis sehr liberal, was auch mit dem einstigen kommunistischen Herrscher Enver Hoxha zu tun habe. „Es ist ein multireligiöses Land, gut gemischt zwischen Christentum, Islam, Katholizismus, orthodoxem, sunnitischem und schiitischem Glauben – aber sie sind alle keine Dogmatiker.“ Unter den Älteren finde man viele Atheisten. Albanien sei ein „kulturell vielschichtiges Land, das zudem über eine „martialisch-autoritäre Architektur, über all diese visuell so spannenden Bunker“ verfüge.

Zwischen 2019 und 2022 verbrachte Mortezai viel Zeit in Albanien, um Leute kennenzulernen, eine Geschichte zu entwickeln. Die meisten ihrer Figuren fand sie quasi dokumentarisch, auf Reisen durchs Land. Sie sprach Schafhirten und Zimmervermieterinnen an, bat Dorfbewohner und Studentinnen um Mitarbeit. Eine gewisse Romantik liegt der Erzählung „Europa“ zugrunde: eine zuweilen nah am Klischee organisierte Feier des Widerstands traditions- und naturverbundener Bauernfamilien gegen den Zugriff des bösen westlichen Konzernkapitalismus. „Ich mag das Romantisieren eigentlich wirklich nicht“, sagt Mortezai, „die Versuchung ist allerdings groß bei diesen Leuten.“ Daher habe sie sich bemüht, „sie nicht nur als Helden zu zeigen, sondern auch als Träger eines patriarchalen Systems, das etwa Ehefrauen, Töchter systematisch unterdrückt.“ Diesen sehr realen Machismo habe sie keineswegs romantisiert.

Zwang zu EU-Patriotismus

Das kleine Albanien mit seinen 2,8 Millionen Menschen gehört zu Europas ärmsten Ländern. Die EU-Beitrittsverhandlungen laufen. Die meisten Albanerinnen und Albaner wollen unbedingt in die Union. Die Nachteile aber werden, wenn das passiert, überwiegen, befürchtet die Regisseurin. „Die grassierende Arbeitslosigkeit, die Abwanderung, die hohe Korruption in Politik und Justiz: Das alles könnte sich bessern. Aber würde der Lebensstandard wirklich steigen? Viele in Albanien, auch im urbanen Raum, sind Selbstversorger. Es gibt dort keine industrielle Landwirtschaft, fast alle haben ein Stück Land und ein paar Tiere. Das würde wohl alles verschwinden. Und es wäre ein Verlust an Lebensqualität.“

Als Mortezai anfing, „Europa“ zu konzipieren, war die Pandemie noch fern. Seither habe sich die Welt auf so vielen Ebenen verändert: Jede Kritik an Europa werde heute „als viel harscher wahrgenommen, viel eher als Nestbeschmutzung gelesen. Wir scheinen nach allem, was in den letzten Jahren geschehen ist, noch viel strammer zu Europa halten zu müssen, man zwingt uns einen neuen EU-Patriotismus auf.“ 2019 habe man „viel nonchalanter Selbstkritik“ geübt. Inzwischen habe Europa-Skepsis viel mehr Gewicht.

Engel der Habgier

Lilith Stangenberg ist das Druckzentrum dieses Films. Sie spielt die Unternehmensbeauftragte mit fingierter Harmlosigkeit, seelenruhig, kühl und verschlagen: ein Engel der Habgier. Sie greift ins Persönliche ein, manipuliert Töchter und Ehefrauen, um sich in den Verhandlungen Vorteile zu verschaffen. Sie hält scheinheilige Vorträge zur Förderung von Diversität und Geschlechtergerechtigkeit, aber in Wahrheit geht es nur um eines: den Profit ihres Arbeitgebers. „Diese Rolle musste eine Schauspielerin übernehmen, das konnte keine echte Managerin sein“, erklärt die Regisseurin. „Sie musste mehr wissen als die Laien, musste das Drehbuch, die Story kennen. Das reflektiert auch ihre Macht; sie kontrolliert, da wie dort, das Narrativ.“ Die Regisseurin und ihre Hauptdarstellerin sahen TED-Talks mit Businessfrauen und Politikerinnen, analysierten das NLP-Sprechen. Stangenberg kommt vom Theater, kennt sich mit Textarbeit aus, aber diesmal war anderes gefragt, denn in der Interaktion mit den Laien galt es zu improvisieren.

Insofern ist Stangenbergs Position unter diesen eine Spiegelung der Story. Denn auch Beate Winter geht vorbereitet und strategisch ins Rennen, kann aber nicht vorhersehen, wie die Leute reagieren. Alle Begegnungen mit den Bauern waren nicht festgeschrieben. So musste sie auf die jeweilige Situation reagieren. Winter erscheint wenig charmant, kaum empathiebegabt. „Sie muss sich schützen vor Empathie“, erklärt Mortezai. „Sonst könnte sie den Leuten nicht antun, wofür sie bezahlt wird. Sie muss sich völlig distanzieren von den Konsequenzen ihres Tuns, darf die Menschen nicht an sich herankommen lassen.“

Wie soll man das Treiben jener Konzerne nennen, die mit erpresserischen Methoden Dörfer aufkaufen, ganze Täler evakuieren? Ist das ökonomischer Neokolonialismus, ein neuer Imperialismus? Oder sind das zu starke Begriffe? „Es sind die richtigen Worte“, sagt Sudabeh Mortezai, ohne den Hauch eines Zweifels. „Der Kolonialismus hat nie aufgehört. Er hat nur seine Form verändert.“

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.