Ben Whishaw in „Little Joe“

Filmfestspiele Cannes 2019: Aus den Gräbern

Tagebuch aus Cannes 2019 (II): Jessica Hausners neuer Film verblüffte.

Drucken

Schriftgröße

Die Haupt- und Nebenlinien der Filmgeschichte laufen im Gegenwartskino kreuz und quer – in Franchises, Wiederaufnahmen und Remakes, in Motivwiederholungen, Hommagen und Zitaten. An die filmischen Choreografien der US-Avantgardistin Maya Deren (1917–1961) habe sie gedacht, sagt etwa die Wiener Regisseurin Jessica Hausner, aber auch an filmisch-literarische Entmenschlichungs-Mythen wie „Frankenstein“ und „Die Frauen von Stepford“. Am Freitagnachmittag hatte ihr konzeptueller Biotechnologie-Thriller „Little Joe“ im Wettbewerb des Festivals in Cannes Premiere.

Und der Film verblüffte, weil er einen ganz anderen Ton anschlug als die bisherigen Beiträge: Die Idee, von einer jungen Wissenschafterin zu erzählen, die eine antidepressiv wirkende, aber möglicherweise toxische Pflanze entwickelt, übersetzte Hausner mit ihrem Kameramann Martin Gschlacht in eine hochstilisierte, in Grün, Pink und Purpur gehaltene Orgie der kollidierenden Farben und abgezirkelten Bildkompositionen – als hätte man auch den Film selbst im Labor gezüchtet und als Virus in die Welt gesetzt. Die exzellenten britischen Darsteller (Emily Beecham, Ben Whishaw, Kerry Fox ) imprägnieren „Little Joe“ mit kühler Ironie. Der Plot kreist um die Frage, wie man Identität und schleichende Persönlichkeitstransformationen interpretiert: als gefährliche Mutationen, als Folgen psychischer Labilität oder als ganz alltägliche Veränderungsprozesse?

Von Jessica Hausner schien, umringt von ihrem Ensemble und ihrem Team, während des Schlussapplauses eine Menge Druck abzufallen, bis zuletzt hatte sie auf diesen Moment hingearbeitet. Und es lohnte sich: „Little Joe“ ist ein Unikum im Gegenwartskino, liegt quer zu allen aktuellen Stilen, Trends und Moden, verlässt sich ganz auf die maximal künstliche Umsetzung einer exzentrischen, zwischen Science-Fiction und Horrorsatire in Schwebe gehaltenen Erzählung, über der die vieldeutige Musik des (einst mit Maya Deren arbeitenden) Japaners Teiji Ito liegt.

Fürs Protokoll: Der amtierende Kulturminister, der sich mit seiner inkompetenten Filmbeiratsneubesetzung (profil berichtete) gerade in neuen Konflikten mit der Filmbranche verzettelt, blieb auch dieser mehr als bloß ehrenvollen Weltpremiere eines österreichischen Films in international strahlkräftigstem Rahmen fern.

Regisseurin, Autorin, Produzentin Hausner

Die Toten sterben nicht; für das Kino gilt dies definitiv. Es hält in Evidenz, was es eingefangen hat, es konserviert Blicke, Gesten, Kooperations- und Konflikthandlungen, macht Einmaliges, Unwiederholbares verfüg- und reproduzierbar, für immer. Am Tag vor der Eröffnung des diesjährigen Festivals in Cannes starb Doris Day 97-jährig, aber als Filmstar – und sie hat immerhin mit Alfred Hitchcock, Frank Tashlin und Michael Curtiz gearbeitet – ist sie natürlich alles andere als tot. Darin liegt auch etwas Unheimliches: Die Körper der Menschen, deren Bewegungen man einst filmisch festgehalten und gesichert hat, können sich bis ans Ende der Zeit in Szene setzen, immer wieder, immer gleich. So sind all jene, die im Kino auftreten, stets auch Untote, Wiedergänger, Zombies.

„The Dead Don’t Die“, so hieß schon der Eröffnungsfilm, eine von Jim Jarmusch allzu routiniert umgesetzte Zombie-Groteske. Gespenstischere Bilder gelangen zwei anderen Bewerbern um die Goldene Palme: In dem ruralen Splatter-Western „Bacurau“ (Regie: Kleber Mendonça Filho, Juliano Dornelles) wird ein brasilianisches Wüstendorf zum Ziel amerikanischer Killertouristen, in Mati Diops „Atlantique“ eine tragische senegalesische Romanze zur Geistergeschichte umgebaut. Voodoo-Rituale und untote Schattengestalten, die direkt aus Jacques Tourneurs „I Walked with a Zombie“ (1943) oder aus Maya Derens Kinovisionen stammen könnten, dynamisieren auch Bertrand Bonellos „Zombi Child“ (in der Nebenreihe Quinzaine des réalisateurs zu sehen), eine kühl erzählte Schauergeschichte, die zwischen Haiti und Frankreich, zwischen 1962 und 2019 spielt. Die Kino-Zeit ist brüchig.

Lesen Sie weiters:

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.