The House That Jack Built": Lars von Trier ist zurück in Cannes

Cannes: Heiligenlegende & Leichenhaus

Cannes-Tagebuch 2018, Teil drei.

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Wenn der Regisseur Lars von Trier kleinen Kindern ein Lächeln ins Gesicht zaubert, ist mit einem gewissen Unbehagen zu rechnen. Die Leiche eines der beiden Buben, die er kurz davor mit seinem Jagdgewehr abgeknallt hat, richtet der Amateur-Präparator, den Matt Dillon vorwiegend ausdruckslos spielt, mit Metallspangen und Holzeinlagen so her, dass sie obszön grinsend, einen Arm erhoben, wie zum Abschied winkend, eine Ecke des Kühlhauses schmückt, in der er seine toten Opfer sammelt. Mit „The House That Jack Built“, dem jüngsten Psycho-Streich des dänischen Filmemachers, der sich vor sieben Jahren bei einer Pressekonferenz in Cannes durch eine heiter gemeinte Hitler-Sympathiebekundung zur Persona non grata gemacht hat, kehrt Lars von Trier also in bewährtem Stil an die Croisette zurück.

Alle Kunst sei per se zynisch, sagt Dillon zu Bruno Ganz, der die Seele des Mörders zu erforschen sucht, irgendwann in diesem Film, der die These nach Kräften zu illustrieren versucht. Aber die in fünf Kapitel („Incidents“) und einen „höllischen“ Epilog strukturierte Killer-Comedy kann die krause Theorie nicht belegen, nur Selbstanalyse und freie Assoziationsarbeit betreiben. Auf fast schon infantile Weise klappert Lars von Trier, 62, in „The House That Jack Built“ alle verfügbaren Tabus ab, verstümmelt (und diffamiert) Frauen, Kinder und Tiere, bastelt an immer originelleren Todesarten, zollt nebenbei dem NS-Architekten Albert Speer Tribut und erweist dem Faschismus als Hersteller visueller „Ikonen“ (Leichenberge, Hinrichtungen) Respekt – selbstverständlich stets nur aus Sicht seines Serienkiller-Antihelden, den Dillon mit randloser Brille und peniblem Seitenscheitel als zwangsneurotischen Nobody, als Sadisten ohne Eigenschaften darstellt. Die Ideenvielfalt und Selbstreflexivität des mit viel Archivmaterial angereicherten Films imponiert, auch wenn die schauspielerischen Leistungen in manchen Momenten zu wünschen übrig lassen, bisweilen doch. Der gelernte Zyniker geht eben für einen guten Witz – hier buchstäblich – über Leichen.

Bei der ersten Pressevorführung des Epos am Dienstagvormittag lief die Provokation der gut zweieinhalbstündigen Mord-Orgie ein wenig ins Leere (ein paar müde Buhrufe ergeben noch keinen Eklat), wohl auch, weil von dem Grenzgänger aus Kopenhagen, der die Früchte seiner angeschlagenen Psyche immer schon gern in abwegiges Kino verwandelt hat, niemand anderes erwartet hatte als sarkastisch gesetzte Blutbäder und allerhand menschenfeindliches Geplapper. Bei der Weltpremiere des Films am Abend zuvor war es allerdings unter den geladenen Gästen doch zu größeren Unmutsäußerungen gekommen: Mehr als 100 Menschen hätten angesichts der lustvollen Darstellung der Untaten des Mörders empört den Saal verlassen, berichtet das Branchenblatt „Variety“. Auch so kann man einem höhnischen Kunststörenfried auf den Leim gehen.

Eine seriösere Favoritin im Rennen um die Goldene Palme der Filmfestspiele in Cannes 2018 erlebte bereits am Sonntagnachmittag die Uraufführung ihres Films – und es wurde ein Triumph: Die junge Italienerin Alice Rohrwacher wurde an der Seite ihrer Schwester, der Schauspielerin Alba Rohrwacher, für ihr meisterliches, in die Heiligenlegende überhöhtes Sozialdrama Film „Lazzaro felice“ mit viertelstündigen Standing Ovations gewürdigt. Das Team reagierte auf die Welle der Sympathie mit Freudentränen. Die Wunder standen bereits in Rohrwachers vorigem Film, in „Le meraviglie“ im Titel; in „Lazzaro felice“ verfolgt sie dieses Motiv nun weiter, mit noch größerer Konsequenz und einem in jeder Hinsicht überraschenden Drehbuch. Eine Geschichte der Klassenverhältnisse und der Arbeitssklaverei im ländlichen Italien mutiert hier zu einer Auferstehungs-Posse, in der soziale Wirklichkeit und filmische Stilisierung ebenso wie Komödiantisches und Tragisches virtuos ineinander geblendet werden. Hauptdarsteller Adriano Tardiolo, der in seiner Arglosigkeit an Pasolinis juvenil-lebensfrohen Star Ninetto Davoli erinnert, trägt die Inszenierung mühelos, ohne jede darstellerische Anmaßung, mit der Verve, der Konzentration und der Ausstrahlung eines die Welt Liebenden. Lazzaros Lächeln ist echt.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.