Cannes 2018: Nostalgische Feier für das alte Kino

Cannes-Tagebuch 2018, Teil 1.

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Ein halbes Jahrhundert liegt zwischen dem Skandal-Festival des Jahres 1968, als die Praktiker und Sympathisanten der Nouvelle Vague den Abbruch der Festspiele an der Croisette erzwangen. Jean-Luc Godard war einer der Regisseure, die in Cannes am 18. Mai 1968 aktivistisch eingriffen und die Vorführung von Carlos Sauras "Peppermint Frappé" verhinderten, indem sie – solidarisch unterstützt übrigens von Saura selbst – den Kinovorhang blockierten. Godard, inzwischen 87 Jahre alt, gilt fast sechs Jahrzehnte nach seinem modernistischen Kinodebüt "Außer Atem" als Avantgarde-Veteran; er hat in Cannes heuer einen neuen Film vorzuweisen, der unter dem Titel "Le livre d’image" (Das Bilderbuch) pflichtschuldig im Wettbewerb läuft, obwohl es als experimenteller Schwanengesang ans Kino Lichtjahre von all den braven Erzählungen, mit denen es hier zu konkurrieren hat, entfernt ist. (Auch das Poster der diesjährigen Festspiele übrigens verweist nostalgisch auf die Ära, in der Frankreichs Neue Welle die Welt beherrschte: Es spiegelt einen intim-spielerischen Moment, eine improvisierte Kussszene zwischen Jean-Paul Belmondo und Anna Karina, aus dem 1965 produzierten Godard-Opus "Pierrot le Fou" ins Überlebensgroße.)

Die aktuellen tektonischen Verschiebungen im Filmgeschäft sind unübersehbar

Aber sentimentale Feierlichkeiten für das gute alte Kino bringen die Filmkunst 2018 nicht voran. Die aktuellen tektonischen Verschiebungen im Filmgeschäft sind unübersehbar: Mit dem parallel zu den massiven Verlusten im Handel um DVD- und TV-Rechte stattfindenden Aufstieg potenter (und ihren Content mehrheitlich selbst produzierender) Streaming-Plattformen wie Netflix oder Amazon wird der Graben zwischen traditioneller Kinoauswertung und den viel schnelleren Online-Angeboten immer tiefer. In Cannes wird er vorläufig noch ignoriert. Die ersten drei Spieltage bilanzieren gemischt; das sympathische Sowjetrock-Musical "Leto" des in seiner Heimat seit Monaten unter Hausarrest gestellten russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow erscheint bildmächtig, aber wenig substanziell, während Pawel Pawlikowskis straff inszeniertes polnisches Nachkriegs-Romanze "Cold War" mit seinen Kinozitaten und Noir-Elementen allzu präzise und selbstgewiss abgezirkelt wirkte. Das Obsessive, das beide Filme im Umgang mit Liebe und Musik für sich in Anspruch nehmen, bleibt Behauptung.

Einerseits bemüht Festivalchef Thierry Frémaux, der (auch aus juristischen Gründen) Netflix-Produktionen als Gefahr für den traditionellen Kinobetrieb aus dem Wettbewerbsprogramm vergraulte, also weiterhin einen durchaus altmodischen Autorenfilmbegriff – im Guten wie im Schlechten: Dem streng Kommerziellen neigt dieses Festival wie eh und je nur in seinem unüberschaubaren Markttreiben, nicht aber in seiner offiziellen Auswahl zu; ein Eröffnungsfilm wie Asghar Farhadis Familien- und Kidnapping-Drama "Everybody Knows" demonstriert jedoch auch, wie nah die Kunst, die in Cannes gern beschworen wird, am Kunstgewerbe sein kann. Der iranische Doppel-Oscar-Gewinner Farhadi hat einen spanischen Psychokrimi in Starbesetzung (Javier Bardem, Penelope Cruz) gedreht und dabei nur ein teuer globalisiertes, wenig mitreißendes Konsensprodukt hergestellt.

Diversität und Geschlechtergerechtigkeit stehen 2018 immerhin auf der Agenda der Festivalleitung. Nicht nur präsentierte man mit Wanuri Kahius "Rafiki" stolz ein queeres, von zwei kraftvollen Hauptdarstellerinnen getragenes, in Kenia prompt verbotenes Drama aus den Straßen Nairobis, auch die Jury-Zusammensetzung ist feministisch korrekt: Als Präsidentin setzte man die Schauspielerin Cate Blanchett ein, die mit ihren Kolleginnen Kristen Stewart und Léa Seydoux sowie der Regisseurin Ava DuVernay und der belgisch-burundischen Sängerin Khadja Nin heuer eine weibliche Übermacht bildet. Maßnahmen sind tatsächlich bitter nötig: In 71 Festivaljahren hat lediglich eine einzige Frau den Hauptpreis, die Goldene Palme gewonnen – Jane Campion für "The Piano", vor 25 Jahren. Und auch 2018 stammen nur drei von 21 Wettbewerbsbeiträgen aus den Händen weiblicher Regiekräfte – und das ist hier schon viel; es ist sieben Jahre her, dass mehr (nämlich vier) Frauen um die Palme konkurrierten. Direktor Frémaux hat zudem im Vorfeld allen Ernstes behauptet, dass es zwar viele exzellente Filmemacherinnen gebe, aber vor allem die jungen vor der "Härte der Spott- und Buhrufe", für die Cannes bekannt sei, bewahrt werden müssten; eine Wettbewerbsplatzierung hätte ihnen "keinen Gefallen getan". Der Paternalismus ist, wie man sieht, in Cannes gesund und munter.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.