Bilderbuch

Deutschland feiert österreichische Gitarrenrock-Bands

Deutschland feiert österreichische Gitarrenrock-Bands

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Wer am Tag nach der Grammy-Verleihung mit Maurice Ernst spricht, muss natürlich zunächst einmal über Kanye West sprechen, über Pop im ganz Großen und Ganzen und über die Frage, was man vom amtierenden Großvisionär der zeitgenössischen Unterhaltungsmusik lernen kann, als Mittzwanziger mit Wohnsitz Wien: über den Zusammenhang von Kunst, Sound und Attitüde zum Beispiel, über den vernachlässigbaren Wert von Konventionen. Bilderbuch, die Band, deren Sänger, Sprachrohr und Sexsymbol Maurice Ernst ist, haben Wests Lektionen definitiv verinnerlicht. „Kanye war für uns vor zweieinhalb Jahren der Auslöser, uns von den eigenen Zwängen zu befreien, uns als Künstler wieder mehr aufzuführen und nicht mehr in irgendein Konzept zu fügen“, sagt Ernst. Nachsatz: „Man muss sich als Künstler emanzipieren, auch von dem, was man sich selbst einmal versprochen hat. Man hat niemandem was versprochen, und schon gar nicht sich selbst.“

Neue Hoffnung der deutschsprachigen Musikszene

Vor drei Jahren waren Bilderbuch tatsächlich nur ein Versprechen. Die Band machte überdurchschnittlich aufregenden Indie-Rock und absolvierte die dazu passenden Konzertkellertouren. Dann ging das Projekt buchstäblich durch die Decke, wurde zu etwas Größerem, Gewagterem, Zeitgemäßem, das man hier und heute, im Februar 2015, in seiner schillernden Gewitztheit einfach hören muss und das auch weit über die Grenzen heimischer Konzertkeller hinaus gehört wird. Gerade erst haben Bilderbuch eine zweimonatige Tour durch deutsche Hallen beendet, die Konzerte der demnächst startenden Tour zum neuen Album „Schick Schock“ sind weitgehend ausverkauft; das Arte-Musikmagazin „Tracks“ nannte die Wahlwiener jüngst in einem hingerissenen Porträt die „neue Hoffnung der deutschsprachigen Musikszene“; selbst auf der neuen, 88. Ausgabe der „Bravo Hits“ ist ihr Hit „OM“ zu hören.

Bilderbuch

Eine Bilderbuchkarriere scheint für die vor zehn Jahren am Klostergymnasium Kremsmünster gegründete Band durchaus in Reichweite; eine ähnliche Laufbahn also, wie sie die Wiener Gruppe Wanda gerade erlebt – und wie auf andere, untergründigere Art die Gruppen Kreisky und Ja, Panik. Diese Bands stehen für eine bemerkenswerte neue Entwicklung, die man Pop-Renaissance oder Exportwunder nennen oder pragmatisch so beschreiben könnte: Österreichische Gitarrenrockbands dominieren derzeit den deutschsprachigen Popbetrieb. Wenn deutsche Feuilletons und Musikzeitschriften über neue deutschsprachige Bands jubeln, dann betrifft das seit einigen Monaten fast ausnahmslos österreichische Gruppen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ widmete Kreisky schon Monate vor Veröffentlichung ihres Albums „Blick auf die Alpen“ eine ganzseitige Studio-Reportage, denn „Kreisky aus Wien sind seit einiger Zeit vielleicht die interessanteste Rockband, die deutsche Texte singt“. Die „Süddeutsche Zeitung“ formulierte ähnlich vorsichtig, die Begeisterung wurde dennoch fühlbar: „Ist auch das neue Album von Ja, Panik wieder das Wichtigste, was die Berliner Indie-Popkultur so hergibt?“ „Focus online“ wiederum nannte Wandas Debütalbum „Bologna“ gleich „Geniestreich des Jahres“. Und der Berliner „Musikexpress“ würdigte Wien jüngst als „vielleicht die wichtigste Popstadt 2014“ – und fühlte sich „an jene goldene Ära der 1970er- und 1980er-Jahre“ erinnert. Das Blatt befiehlt: „Pop-Nerds, schaut auf diese Stadt.“

Die Dinge, die sich zwischen den Stühlen platzieren, finden Gehör

„Das Schöne an Wien ist gerade, dass Dinge außerhalb von Szenen oder etablierten Genres funktionieren. Man muss nicht einen bestimmten Sound haben, um Aufmerksamkeit zu finden, im Gegenteil: Die Dinge, die sich zwischen den Stühlen platzieren, finden Gehör.“ So erklärt sich Klaus Mitter, Schlagzeuger von Kreisky, den Zusammenhang zwischen Postadresse und künstlerischer Innovation. Einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert Marco Michael Wanda, Sänger der gleichnamigen Band: „Wir hatten bis dato wenig Bezug zur inselartigen Musikszene Wiens, wir wussten auch nicht Bescheid um die Codes der Szene. Vielleicht wirkt unsere Musik auch deswegen so unbedarft.“

Wanda

Zum Thema Deutschland fällt Wanda, deren vorwöchiges Konzert im Hamburger Molotow-Club so restlos ausverkauft war wie fast alle der laufenden Tour, worauf die Karten für ein Vierfaches des Einkaufspreises auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurden, Folgendes ein: „Wenn die Deutschen uns wollen, wollen wir die Deutschen auch. Wenn wir dort fehlen, wenn es für den gesellschaftlichen Konsens relevant wäre, dass wir dort eine Lücke füllen, dann haben wir keine Angst davor, auch diese Verantwortung zu übernehmen.“ Zu dieser Großmäuligkeit passt ein Satz aus der „Süddeutschen Zeitung“, die sich die Anziehungskraft von Wanda so erklärt: „Eine popkulturelle Abgefeimtheit ist das, die hierzulande irgendwie noch ziemlich selten ist.“

Ja, Panik

Insofern wäre der grenzüberschreitende Erfolg von Bilderbuch, Wanda, Kreisky oder Ja, Panik (übrigens das einzige wirklich verbindende Element dieser vier doch recht unterschiedlichen Gruppen) weniger ein Standortfaktor als ein ästhetisches Phänomen: Diese Wiener Indie-Bands haben sich allesamt von den Zwängen des Üblichen, des So-wird’s-Gemacht gelöst. Bilderbuch, Wanda, Kreisky und Ja, Panik bilden keine „Wiener Schule“ des Indie-Rock, sind auch keine lokalen Kopien internationaler Vorbilder, verzichten auf jegliches TV-Contest-Strebertum und erfinden stattdessen ihre jeweils ganz eigenen, maßgeschneiderten und deshalb so aufregenden Konzepte.

Bilderbuch tanzen zwischen den Schubladen und tragen dabei Glitzerkostüme, vermischen Kunst, Quatsch und Sex

Aktuellstes und bestes Beispiel: Bilderbuch, deren Album „Schick Schock“ Ende der Woche erscheint und, samt allen Über-Singles des Vorjahres („Maschin“, „Feinste Seide“, „OM“), erneut die ganze Pracht dieser Band ausstellt. Schon das erste Stück, „Willkommen im Dschungel“, zeugt von famosem Selbstbewusstsein, schließt Guns’n’Roses mit Falco, Prince und den Red Hot Chili Peppers kurz und bringt, irgendwie, auch noch die Talking Heads mit ins Spiel. Bilderbuch tanzen zwischen den Schubladen und tragen dabei Glitzerkostüme, vermischen Kunst, Quatsch und Sex auf durchaus zwingende Art – und kommen so auch mit einem zuckerbunten Klamauk wie „Softdrink“, und einem Refrain wie diesem durch: „Coca Cola Fanta Sprite / Seven Up Pepsi Alright / Alright Alright OK“. Die aus deutscher Perspektive unvermeidlichen Falco-Assoziationen werden dabei geradezu penetrant provoziert. Ist das unter Umständen Kalkül, Herr Ernst? „Ich würde es einen aktiven Umgang nennen. Man weiß ja um den traditionsbewussten Österreicher, der darauf abfährt, auf Cordoba und Falco reduziert zu werden und das selbstironisch zu beklagen. Künstlerische Reife heißt für mich auch, dass wir uns da drüber stellen und mit den Cojones, die wir über die Jahre regelrecht ausgebildet haben, das selbstbewusst zitieren. Man zerfleischt und verschneidet das, was da ist. Man zitiert Peter Cornelius und Falco innerhalb von ein paar Textzeilen, wie wir es in ‚OM‘ machen. Damit zeigt man aber auch: Es ist eine neue Zeit da, es sind neue Leute da.“

Kreisky

Tatsächlich ist das, was früher „Austro-Pop“ hieß, für die neue Welle österreichischer Indie-Bands gewissermaßen satisfaktionsfähig geworden, oder zumindest diskutabel. Es wird heute nicht mehr krampfhaft auf die Vergangenheit gedroschen; stattdessen düngt man Neues, Eigenes damit. Ein bezeichnendes Projekt ist das Ende des Monats erscheinende gemeinsame Album des Ja, Panik-Schlagzeugers Sebastian Janata mit seinem Vater Herbert, Gründungsmitglied der legendären Wiener Dialektrockband „Worried Men Skiffle Group“. Konsequenter Titel: „Worried Man & Worried Boy“. Aktueller Superhit des Duos (in dem Fall verstärkt um den famosen Nino aus Wien): „Der schönste Mann von Wien“.

Schön auch, wie Bilderbuch-Sänger Maurice Ernst, der in Songs und Videos offensiv mit der eigenen Sexiness kokettiert, die Lockerheit der eigenen Kunst in einen Slogan gießt: „Unsere Stärke liegt in der Kurve, nicht in der Gerade.“

Kanye West könnte es nicht schöner formulieren.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.