Kino

Dichtung und Wahrheit: Die turbulenten ersten Spieltage in Cannes

Der Auftakt zu den 77. Filmfestspielen in Cannes geriet lebhaft: Zwischen Kunstanstrengung, Action-Spektakel, Polit-Aktivismus und #MeToo-Grabenkämpfen wurden Abgründe sichtbar.

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Mit heftigen Turbulenzen wurde bereits Tage vor Festivalbeginn gerechnet. In einem Zustand erhöhter Nervosität hat man in Cannes, wo alljährlich im Frühling die strahlkräftigsten Filmfestspiele der Welt stattfinden, den diesjährigen Betrieb des elftägigen Kino-Uraufführungsmarathons aufgenommen. Nun gehören Proteste gegen gesellschaftliche Missstände und öffentlich geäußerte Fundamentalkritik etwa an dem chronischen Frauenmangel in der Wettbewerbsauswahl (auch in der Liste der 22 heuer für die Goldene Palme nominierten Filme finden sich lediglich vier Regisseurinnen) in Cannes zwar zu den üblichen Begleiterscheinungen. Aber in diesem Jahr ist vieles anders. 
Die Streikdrohungen des Festivalpersonals, das für bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen kämpft, waren da noch die harmloseste Intervention. Allfällige Demonstrationen zum Reizthema Nahostkrieg waren mit dem Argument, politische „Polemiken“ hätten in Cannes nichts verloren, an der Croisette und rund um den Festspielpalast untersagt worden. Man meinte, nicht recht gehört zu haben: Ein Festival „ohne Kontroversen“ sollte es diesmal werden, sprach Festivalchef Thierry Frémaux, man möge nicht die Politik, sondern „das Kino wieder ins Rampenlicht“ stellen. Ein frommer Wunsch in diesen Zeiten. 
Er galt nicht immer. Dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj war noch vor zwei Jahren zur Eröffnung des Festivals die Gelegenheit gegeben worden, live zugeschaltet eine Brandrede zu halten, um sich globale Unterstützung in jenem Krieg zu sichern, den Russland gegen die Ukraine angezettelt hatte. Die Politik lässt sich auch 2024 nicht so einfach von der Kunst fernhalten, Der französische Schauspieler Omar Sy etwa, Mitglied der von „Barbie“-Regisseurin Greta Gerwig geleiteten Jury, hat noch am Tag vor der Eröffnung auf seinem Instagram-Kanal gefordert, Israels „Angriff auf Rafah“ müsse augenblicklich enden, schon der 600.000 Kinder wegen, die sich gegenwärtig dort aufhielten. „Nichts rechtfertigt den Mord an Kindern in Gaza. Oder wo auch immer“, schrieb Sy.

Bringt sie heim!

Und dann stand eine der Überlebenden des von der Hamas verübten Massakers, Laura Blajman-Kadar, Mitorganisatorin des Musikfestivals, über das am 7. Oktober der Terror hereingebrochen war, am Mittwoch plötzlich vor den Objektiven tausender Kameras auf dem roten Teppich vor dem Kinopalast in Cannes  – in einem signalgelben Kleid, auf dem einige der israelischen Geiseln abgebildet waren, mit einer Schärpe, auf der „Bring Them Home“ zu lesen stand. 
In den vergangenen Monaten ist die Politik eben unübersichtlich geworden, nicht mehr säuberlich in Gut und Böse, links und rechts, israelkritisch oder antisemitisch zu trennen. In Cannes jedenfalls ist man die neue Linie des Unpolitischen, die diesen Wirrnissen geschuldet ist, bereit zu verteidigen. Schwer bewaffnetes Militär und Polizei in kugelsicheren Westen, entschlossen dreinblickende Ordnungshüter im Camouflage- und Military-Dress sind im Umfeld des Festivalpalais allgegenwärtig; sie flanieren betont selbstsicher entlang der Schlangen, die sich vor den Kinoeingängen des Palais traditionell bilden, sorgen eher für alarmierte Stimmung als für das Gefühl umfassender Sicherheit. 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.