Gustav Deutsch

Gustav Deutsch: Jäger der verlorenen Schätze

Amateure, Archive, Attraktionen: Zum Tod des Wiener Kunst- und Filmforschers Gustav Deutsch.

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Er sagte lieber zwei Sätze zu wenig als einen zu viel, aber sein hintergründiges Lächeln signalisierte stets Wertschätzung, die Herzlichkeit, mit der er seinem Umfeld begegnete. Man mag die gelassene, eher wortkarge Erscheinung des Künstlers Gustav Deutsch auch als Merkmal seiner Arbeit nehmen: Die Wirkungsmacht seiner Operationen am bewegten Bild ergab sich nicht nur aus dem sicheren Wissen, seine Forschungsfelder in aller Ruhe und Genauigkeit ausgelotet zu haben, sondern auch aus dem Wunsch, sich selbst und die Welt, die sich in seinen Werken eröffnete, nicht ernster zu nehmen als unbedingt nötig.

Gustav Deutsch, geboren 1952 und initiiert im politisierten Umfeld der Wiener Medienwerkstatt um 1980, gehörte seit den 1990er-Jahren zu den Größen der internationalen Found-Footage-Szene. Indem er Filmfundstücke auf unerwartete Weise gegeneinander setzte, sie neu komponierte und rekontextualisierte, konnte er demonstrieren, wie weit die Strahl- und Schlagkraft eines Mediums reichte, das sich im Geschichtenerzählen und bloßen Dokumentieren nicht erschöpfte: Er konfrontierte Szenen aus wissenschaftlichen Filmen mit handverlesenen Splittern aus Amateur- und Spielfilmen, förderte aus den Archiven nie gesehene Bilder aus den ersten Jahrzehnten des Kinos zutage; er feierte die sinnliche Attraktion fotografischer Verfallszustände, indem er zerkratzte, bekritzelte Kader, schadhafte Kopien und schmelzende Filmbilder zeigte.

Als Arbeiter am Kino war Deutsch ein Reisender zwischen den Zeiten: Er bildete, um ihre Schönheit für die Zukunft zu bewahren, die Gegenwartszustände seiner von der Vergangenheit zeugenden Bildobjekte ab. Die lebenden Toten der Filmgeschichte, die fragilen Lichtgestalten des frühen Kinos, die anonymen Urlaubsfilmhelden und Zufallspassanten faszinierten ihn. Das Ideologische seines Mediums verlor er dabei nicht aus den Augen. Denn die Laufbilder vermitteln vor allem eines: Weltanschauung. Filmemachen ist eine Frage des Blicks.

Suche nach geheimen Botschaften

Der Found-footage-Jongleur war indes nur eine seiner vielen Identitäten: Gustav Deutsch arbeitete auch als Architekt, Konzept- und Installationskünstler, seine Projektpalette umfasste Foto- und Videoarbeiten, Vortragsserien, Performances und Ausstellungen für den musealen Raum, multimediale Migrationsstudien und interkulturelle Kunstvermittlungsunternehmungen. Aber das Kino war der Knotenpunkt seines Schaffens. Seine entscheidenden Fragen lauteten: Was hat uns das Kino mitzuteilen, wenn man es aus seinen alten Funktionszusammenhängen reißt? Was signalisieren die Zeit- und Gebrauchsspuren in seinen Oberflächen? Welche geheimen Botschaften sind in den Filmfragmenten gespeichert?

Mit der seriellen Urlaubsfilmmontage „Adria“ fand er 1990 zu seinem Zentralthema. Von den Dokumentarkonventionen seiner frühen Filme emanzipierte er sich damit nachhaltig. „Adria“ versammelt Amateuraufnahmen vom Strandurlaub. Dabei legte Deutsch eine kollektive Ästhetik des Hobbyfilms bloß. Danach begann er, gemeinsam mit seiner Partnerin Hanna Schimek, in Archiven, Kinematheken und Filmsammlungen nach verschütteten Bildern für seine Kino-Assemblagen zu fahnden. Es gehe ihm darum, „unbeachtete und ungeliebte Filme vor dem Vergessen zu retten“, erläuterte er trocken. Aber Kino-Archäologie allein genügte ihm nicht. Er zielte aufs Wesentliche.

In der zwischen 1998 und 2009 veröffentlichten „Film ist.“-Serie untersuchte er sein Medium spielerisch-systematisch. Das Mathematische und das Magische, zwei Grundbedingungen des Kinos, bildeten in seiner Filmarbeit nicht einfach deren Pole, sondern den Mittelpunkt seines Schaffens. Naturgewalten, Sonnenlichtspiele, Mondphasen, Gewitter und Sternenfunkeln betrachtete er als vorfilmische Phänomene, er sprach vom „Projektionsraum Himmel“.

Gustav Deutsch wusste, dass die Mysterien der zwischen Evidenz und Phantasma changierenden Bewegtbildkunst nicht endgültig zu klären waren. So bemühte er sich – Antworten zwangsläufig schuldig bleibend – um die Präzisierung seiner Fragen, um lustvolle künstlerische Zuspitzung der tausend Finten eines Mediums, dem wir uns sehlüstern und gutgläubig immer wieder anvertrauen. Deutsch schloss in seiner Arbeit nichts aus, keine Bildersorte hatte bei ihm Vorrang – und alles, auch das scheinbar „Wertlose“, Anspruch auf kritische Durchleuchtung: zufällig Gefundenes und selbst Inszeniertes, laienhafte und professionelle Darstellungen, early cinema und spätes Filmtheater, Fernsehen und Kino, „Kunst“ und „Kitsch“.

Für sein Spielfilmexperiment „Shirley – Visionen der Realität“ (2013) erkundete er die stilisierten Bildräume des Malers Edward Hopper. Die Idee, 13 der berühmten Ölgemälde des Amerikaners im Studio aufwändig nachzubauen, mit einem Schauspielteam (angeführt von der Tänzerin und Performance-Künstlerin Stephanie Cumming) zu besetzen und zu einer Art Erzählung zu verketten, mutete im Zeitalter der digitalen Abkürzungen ausgesprochen altmodisch an. Auch deshalb führte er Ungeahntes, Denkwürdiges vor. „Shirley“ sei ein Film, den nur ein Architekt, eine Tänzerin und eine Malerin machen konnten, sagt Deutsch damals – denn es brauchte, um die Arbeit zu konzipieren, nicht nur jenes Verständnis für Räume und Gebäude, das der Architekt Deutsch mitbrachte, sondern eben auch das Zutun einer choreografisch versierten Darstellerin und die Hilfe einer für die Hintergrundmalerei zuständigen Künstlerin, die mit Hanna Schimek zur Verfügung stand. Sein Film sei „auch der Studiogeschichte Hollywoods verhaftet“, erklärte Deutsch, „schon deshalb wollte ich diese Räume bauen, den Reiz der Materialität spüren. Und genau wie das klassische Kino, das seine Künstlichkeit ja auch stets ausgestellt hat, weiß Hopper zu berühren, obwohl man sehen kann, wie konstruiert, wie falsch das alles gebaut ist.“

Mit seinem letzten großen Film „So leben wir. Botschaften an die Familie“ (2017) drang er sich noch einmal in das utopische Universum alter Amateurfilme ein, in denen die Menschen das Positive ihres jeweiligen Lebensentwurfs für die ferne Rest- und Nachwelt festzuhalten suchten. Um das Leben in der Fremde ging es da, um Filme als Notizbücher, als visuelle Postkarten: eine letzte jener alternativen Geschichten des Kinos according to Gustav Deutsch. Bis zuletzt war er in alter Leidenschaft kreativ: Vor wenigen Wochen noch arbeitete er, wie gewohnt an der Seite Hanna Schimeks und in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum, an einem Projekt zur Darstellung Wiens in Hobby- und Amateurfilmen bis hin zu Handyvideos. Das Unternehmen kann er nun nicht mehr selbst vollenden. Am 2. November erlag Gustav Deutsch 67-jährig seiner Krebserkrankung.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.