Pop

Herzerwärmendes aus der norwegischen Kälte: „Hadsel“, das neue Album des US-Folkloristen Beirut

Stefan Grissemann empfiehlt – als Soundtrack für die Feiertage – Popmusik von großer Schönheit, die verblüffenderweise dem mentalen Zusammenbruch ihres Schöpfers entsprang.

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Der dringende Wunsch nach Isolation in Krisenzeiten ist nachvollziehbar. Wenn die Last der Welt und der Nachrichtenlage zu groß zu werden droht, kann die Kunst Refugien bieten.  Rückzugsmusik par excellence bietet „Hadsel“, das neue Album der amerikanischen Folk-Institution Beirut. Hinter dem für exotische Kulturmischungen bürgenden Bandnamen verbirgt sich Zach Condon, 37, geboren in New Mexico. 

Seit er, noch als Teenager, auf seinem Debüt, das er 2005 „Gulag Orkestar“ nannte, sizilianische Trauermusik und Balkanpop mit Sinti- und Roma-Klängen verwob und die Ergebnisse mit seiner völlig unverwechselbaren Singstimme konfrontierte, ist Condon ein Suchender geblieben, künstlerisch, charakterlich und räumlich: In Albuquerque und Santa Fé wuchs er auf, in Brooklyn fand er eine Zwischenstation, seit 2017 lebt er in Berlin – wenn er nicht gerade den Impuls verspürt, vor allem davonzulaufen, sich in die Einöde zurückzuziehen und sich dort kreativ selbst zu finden. 

So geschehen 2020, nach Monaten persönlicher Probleme und infolge einer Kehlkopfentzündung: Condon siedelte sich in einer Hütte in der Gemeinde Hadsel – einer dünn besiedelten Inselgruppe im Norden Norwegens – an, die so heißt wie sein Album, um in der 200 Jahre alten, auf einem Hügel frei stehenden, mit roter Holzfassade ausgestatteten Dorfkirche musikalisch aktiv zu werden. Er verschaffte sich Zugang zur Orgel des Hauses brachte analoges Equipment mit, um die Resultate aufzuzeichnen. „Die wenigen Stunden Licht offenbarten die unergründliche Schönheit der Berge und Fjorde, und die ausgedehnten Dämmerphasen erfüllten mich mit gedämpfter Aufregung“, erzählt Condon. Er habe versucht, diese wunderbare Landschaft „irgendwie in der Musik präsent“ werden zu lassen.

Er habe hart und fast wie in Trance gearbeitet, erinnert er sich noch, „und ich stolperte blind durch meinen eigenen Nervenzusammenbruch, den ich seit meiner Jugend beiseite geschoben hatte“. Das Ergebnis ist herzerwärmende Musik aus Nacht und Kälte, sehnsuchtsvoll-euphorische Songs, die eine Ewigkeit des Verlorenseins ebenso beschwören wie die verrückten Zeiten, die hinter uns liegen: „It was wild-eyed / And a long time, long time / Lost to time“. Rätselhaft sind manche Lieder benannt, eines heißt etwa „Süddeutsches Ton-Bild-Studio“ – und zitiert angeblich die Aufschrift, die sich auf einem Tape-Recorder fand, den Condon online ersteigert hatte. Bessere Musik für die leider weniger stille Zeit des Jahres wird man nicht leicht finden.

Beirut: 
Hadsel
(Pompeii Records / Cargo)

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.