Kino

Komödie der unabsehbaren Ereignisse: Cannes-Palme für Sean Bakers „Anora“

Die Jury der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes traf zuletzt weise Entscheidungen. Eine Ehrenpalme ging an die Hollywood-Legende George Lucas, den Erfinder von "Star Wars".

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Es war, auch wenn am Ende ein Mann auf der Bühne stand, um den Hauptpreis der 77. Filmfestspiele entgegenzunehmen, der Abend der Frauen: Erst wurde das gesamte weibliche Ensemble (darunter Zoé Saldaña, Karla Sofía Gascón und Selena Gomez) des ebenso aufbrausend wie einfallsreich inszenierten französischen Trans-Musicals „Emilia Pérez“ in der Kategorie „Beste Darstellerin“ ausgezeichnet, anschließend die junge indische Regisseurin Payal Kapadia mit dem Großen Preis des Festivals bedacht  – für ihr stilles, semidokumentarisch angelegtes Frauendrama „All We Imagine As Light“. 

Die Goldene Palme des Festivals 2024 aber ging an eine Art ästhetisches Gegenprogramm – an einen der lustvollsten,auch turbulentesten Filme des Festivals: In „Anora“ lässt sich eine junge Sexarbeiterin, dynamisch dargestellt von „Better Things“-Serienstar Mikey Madison, von dem nichtsnutzigen Sohn eines reichen Oligarchen (Mark Eydelshteyn) zu einer Spontanheirat überreden, was dessen Eltern jedoch gar nicht gefällt; so stehen bald drei schwere armenisch-russische Jungs (großartig: Karren Karagulian, Vache Tovmasyan und Yura Borisov) vor der Tür des Anwesens, und eine Reihe heiterer Komplikationen und Fluchtbewegungen nimmt ihren Lauf. Der US-Indie-Regisseur Sean Baker, der seinen Film in Brooklyns Brighton Beach und Las Vegas gedreht hat, demonstriert mit „Anora“ erneut sein Talent zur ungeschminkten (und unverschämten) Milieuschilderung. Viel komisches Potenzial bezieht Baker aus der weitgehenden Vermeidung körperlicher Gewalt und der überraschenden Sensibilität des Schurkentrios. 

Einen Spezialpreis lobte die Jury unter Präsidentin Greta Gerwig aus, um jenen Film zu krönen, der schon seiner Entstehungsgeschichte wegen in diesem Wettbewerb ganz allein dastand: Mohammad Rasoulof fasst in „The Seed of the Sacred Fig“ das Dilemma des zwischen staatlicher Repression und demokratischen Emanzipationsbewegungen zerrissenen Lebens in seiner iranischen Heimat, der er gerade noch unversehrt entkommen ist, packend und schlüssig zusammen, profil berichtete.

Mit dem „regulären“ Preis der Jury würdigte man noch einmal Jacques Audiards „Emilia Pérez“, als besten Regisseur nannte man, sehr zu Recht, den eigenwilligen Portugiesen Miguel Gomes, der mit seinem hochstilisierten Historienfilm „Grand Tour“ wie gewohnt kinematografische Grenzen sprengte. Bester Darsteller wurde der US-Virtuose Jesse Plemons für seine Performance in Yorgos Lanthimos’ ansonsten eher trüber Misanthropie-Fabel „Kinds of Kindness“, und das beste Drehbuch meinte man, in der vielleicht einzigen verunglückten Juryentscheidung dieses Jahres, in Coralie Fargeats überzogener Body-Horror-Groteske „The Substance“ zu erkennen. 

Aus den Händen des greisen Francis Ford Coppola, seines alten Freundes, empfing der Regisseur und Produzent George Lucas eine Ehren-Palme für sein Lebenswerk: rührende Wiederbegegnung, würdiger Abschluss.  

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.