Kommentar

Stefan Grissemann: Panikräume

In weiten Teilen Mitteleuropas müssen Kulturinstitutionen im Zuge der Lockdowns erneut ihren Betrieb einstellen. Das ist nachweislich sinnlos. Warum wird es dennoch gemacht?

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Sie nennen - wohl weil das irgendwie beruhigender klingt - ihre Lockdowns light und soft, teilweise und quasi. Aber so light, dass nicht auch Theater, Kinos, Museen und Opernhäuser ihre eben erst aufwendig antiviral adaptierten Räume schließen müssten, sollten diese neuerlichen Verschärfungen offenbar nicht sein. So kommt es, dass gerade die sichersten öffentlichen Orte, die Europas Gesellschaft in den vergangenen Monaten hervorgebracht haben, im Gegensatz etwa zu Einzelhandel, Schulen und Friseuren, für weitere desaströse Wochen dichtmachen müssen. Kein Wunder, dass die Kulturszene beispielsweise in Deutschland gegenwärtig auf die Barrikaden geht, und auch in Österreich wird der Ton merklich rauer. Das ist nachvollziehbar, denn fast scheint es, als sollte das grundmenschliche Bedürfnis nach öffentlicher Auseinandersetzung mit kreativem Schaffen aus ökonomischen Erwägungen hintangehalten, die dafür vorgesehenen Schauplätze symbolisch geopfert werden.

In Deutschland, Frankreich und Italien müssen, genau wie in Österreich, ab sofort sämtliche Kultureinrichtungen geschlossen halten, in der Schweiz gilt dies seit letzter Woche schon in den Kantonen Bern und Wallis. In der Eidgenossenschaft fährt man die Kultur sehenden Auges an die Wand, nur um die Skisaison zu retten, berichten Insider. Im Klartext: Man schließt Orte, an denen man sich praktisch nicht anstecken kann, um andere Orte, an denen höchste Infektionsgefahr herrscht, ab Dezember wenigstens kurzfristig offen halten zu können. Schon klar: Der Wintertourismus wirft eben potenziell mehr Geld ab als ein im Reduktions-und Distanzmodus operierender Kulturbetrieb. Aber für diese schlichte Rechnung sollte man nicht alle Vernunft über Bord werfen.



Kein einziges der europaweit wiedereröffneten Häuser oder Festivals, von den Salzburger Festspielen bis zum Filmfestival in Venedig, von der Wiener Staatsoper über die Festwochen bis zum Burgtheater, hat einen nachweisbaren Covid-Cluster produziert, ist auch nur annähernd in den Verdacht geraten, ein gewisses Ansteckungsrisiko in Kauf zu nehmen. Es ist daher absurd, ausgerechnet jenes Feld zu bestrafen, das am allerbesten gearbeitet hat, das sämtlichen Einnahmenverlusten zum Trotz für effiziente Hygienekonzepte, Lüftungsanlagen und Tracing-Möglichkeiten gesorgt hat.

Die Kulturräume sind safe rooms, aber die Politik scheint darin nur deren Synonym, also Panikräume zu sehen: nackte Angst statt erhöhte Sicherheit. Österreichs Regierung folgt den in den Nachbarländern praktizierten Modellen offenbar kritiklos. Aber die Rechnung wird hoch: Im hiesigen Kulturbetrieb sind Zehntausende-von der Politik der vergangenen Monate ohnehin stark angeschlagene-Arbeitskräfte aktiv. Sie darf man, bei allem Verständnis für die Freude am Skisport, nicht ohne jede Reflexion in den Untergang treiben.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.