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Moro, Mafia und Mussolini: Bellocchio-Werkschau im Österreichischen Filmmuseum

Stefan Grissemann legt die aktuelle Filmmuseums-Retrospektive nahe, die das soziopolitische Kino des italienischen Altmeisters Marco Bellocchio würdigt.

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Niemand hat die politischen Implikationen der italienischen Psyche im Kino tiefenschärfer ausgeleuchtet als der Filmemacher Marco Bellocchio – abgesehen von Pier Paolo Pasolini, der allerdings 1975 zu früh aus dem Leben gerissen wurde. Seit 60 Jahren nimmt Bellocchio die Ideologiegeschichte und -gegenwart seiner Heimat ins Visier, berichtet von den Abgründen des institutionellen Katholizismus, von den Machtgeflechten der sizilianischen Cosa Nostra, vom Wirken des Faschismus und von der Terrorgeschichte des Landes. Sein Spätwerk entwickelt sich prächtig, wie - um nur zwei Beispiele zu nennen – das opernhafte Mussolini-Melodram „Vincere (2009) sowie das Mafia-Epos „Il traditore“ (2019) beweisen. Die Entführung und Ermordung des ehemaligen italienischen Premiers Aldo Moro durch die kommunistische Terrorgruppe Rote Brigaden hat er gleich zweimal bearbeitet, zuletzt 2022 in seiner Mini-Serie „Esterno notte“. Die berühmtere erste Variante, das Kammerspiel „Buongiorno, notte“ (2003), wird morgen, Donnerstag, in Wien wiederzusehen sein. 
Denn im Österreichischen Filmmuseum werden derzeit Bellocchios zentrale Werke parallel mit jenen seiner Landsfrau Liliana Cavani präsentiert, einer kongenialen Nonkonformistin, die mit Werken wie „Der Nachtportier“ (1974) berühmt wurde. Bellocchio, inzwischen erstaunlich alerte 84 Jahre alt, kommentierte unlängst erst, im Rahmen eines größeren profil-Gesprächs – das aus Anlass seines jüngsten Films, des Kirchen-Crime-Historiendramas „Die Bologna-Entführung“ geführt wurde (der Österreich-Kinostart ist für Juni geplant) –, den besorgniserregenden Antisemitismus, der sich nach dem Attentat der Hamas auf Israel gerade in der Linken so gefährlich ausbreitet: Dieses Denken wachse insbesondere unter jungen Menschen an, sagt er, vor allem in den USA und in Frankreich: „Es ist klar, dass Israel auf die Tragödie des 7. Oktober klar und entschieden antworten musste. Um aber Frieden zu bieten, braucht man Mut und Weisheit. Es ist zwar historisch äußerst selten, aber der militärisch Stärkere müsste trotz eines solchen Massakers in der Lage sein, eine mildere Reaktion zu zeigen, um das Grauen und das Massensterben nicht noch zu verschärfen.“ Das vollständige Interview wird kurz vor Veröffentlichung des jüngsten Bellocchio-Werks in profil zu lesen sein. 

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.