Peter Handke: Leopold Federmair über das Werk des Autors

Peter Handkes Notizbücher sind das Herzstück im umfangreichen Werk des österreichischen Autors. Der Schriftsteller Leopold Federmair über den jüngsten Journalband "Vor der Baumschattenwand nachts“.

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Peter Handke ist kein Konstrukteur von Geschichten. Den "Könnern“ in Kunst und Literatur begegnet er mit Skepsis, manchmal zieht er über sie her. Er selbst ist ein Erzähler, nicht Romancier, sondern Epiker (so sieht er sich), der gern seine Fantasie walten lässt, dabei aber von unmittelbaren Erfahrungen und Erinnerungen, Wahrnehmungen und Erlebnissen ausgeht. Fast zwingend - um nicht zu sagen: schicksalhaft - ergibt sich daraus, dass er neben dem großen Epos in Buchform und für die Bühne auch zwei kleinere Genres bedient: den Essay, von ihm selbst "Versuch“ genannt, und das Tagebuch, auch "Journal“ oder "Aufzeichnungsbuch“.

Diese beiden Reihen bilden in Handkes sich langsam rundendem Werk einen wichtigen Strang, den manch ein Leser weitschweifenden Erzählbüchern wie "Mein Jahr in der Niemandsbucht“ oder "Die Morawische Nacht“ vorziehen wird. Bei den "Versuchen“ fragten sich einige im schwindenden Völkchen der Handke-Leser, ob nach dem Essay über den "geglückten Tag“ noch etwas kommen würde, und es kamen schließlich zwei Spätgeburten, der "Versuch“ über den "Stillen Ort“ und jener über den "Pilznarren“. Ähnlich bei den Journalen; das Aufzeichnungsbuch "Vor der Baumschattenwand nachts“ spielt bereits im Titel auf das 1980er-Jahre-Journal "Am Felsfenster morgens“ an. Auch diese Quelle ist also nicht versiegt, Handke macht weiter, zum Glück.

Dass er es tut, ist nicht selbstverständlich, denn das jüngste Journal aus der Zeit zwischen 2007 und 2015 zeigt, dass der Autor dem Vorgang des Alterns ins Auge blickt und vieles - nicht zuletzt sein eigenes Werk - im Rückblick betrachtet. Dabei wird spürbar, dass Handke beträchtliche Energien, ja seine gesamte Schöpfungskraft aufbieten muss, um Neues (und Weiteres, wie er vielleicht sagen würde) zu bringen.

Handke, der ewigjunge Pop-Dichter, als welcher er vor 50 Jahren in Princeton und Frankfurt am Main die Bühne der Öffentlichkeit betrat - dieses Bild, dieses "Image“ (und damit auch einen Teil seiner Leserschaft) hat er längst hinter sich gelassen; etwas von der Frechheit des genialischen Jungdichters österreichischer Provenienz, der sein Auditorium und sich selbst zu überraschen versteht, hat er sich indes bewahrt, auch wenn ihm viele, die er stört, die Maske des Nörglers und Eigenbrötlers aufkleben wollen. Handkes gar nicht so selten auch zeitkritische Beobachtungen in "Baumschattenwand“, der Form entsprechend oft nur Nadelstiche, treffen immer noch, immer wieder. Hatte er früher, als er selbst gleichsam im Schwange und die Popkultur gegen das Establishment gerichtet war, den Zeitgeist im positiven Sinn ausgedrückt, so geriet er im Lauf der Jahre, während er an sich und seinen Entwürfen festhielt, auf die Gegenseite, bis hin zu den heftigen Diskussionen um seine Äußerungen in der Zeit der Jugoslawienkriege, als er zum schwarzen Tier, zur bête noire der Massenmedien wurde - und diese zum roten Tuch für ihn.

Nicht aus dem Zentrum heraus schreibt Handke, sondern von den Rändern her, wo er vor nun schon ziemlich langer Zeit Wohnung genommen hat.

Die Handke’sche Zeitkritik ist auf höchst konsequente Weise von Anbeginn und bis heute Sprachkritik, als solche dann auch Medienkritik, und sie fließt zurück in eine Wirklichkeits- bzw. Unwirklichkeitskritik, denn ihren Wirklichkeitsanspruch bestreitet er in den Medien unermüdlich. Was er stattdessen zu bieten hat, sind poetische, im emphatischen Sinn "andere“ Gegenentwürfe - deren Geburtsvorgänge man in den Aufzeichnungsbüchern mitvollziehen oder zumindest ahnen kann. "Vor der Baumschattenwand nachts“ trägt den Untertitel "Zeichen und Anflüge von der Peripherie“. Nicht aus dem Zentrum heraus schreibt Handke, sondern von den Rändern her, wo er vor nun schon ziemlich langer Zeit Wohnung genommen hat. Aus Zwischenräumen, nicht aber von irgendeiner der analogen oder digitalen Bühnen der sogenannten Aufmerksamkeit, die man in Handkes Sinn getrost als hysterische Unaufmerksamkeit abhaken kann.

"Die erlebten Sekunden: Sie runden sich; die Täler der Sekunden; die Talschaft der Sekunden (Zeitmaß)“, so lautet eine der Aufzeichnungen im Band. Am Ende der Notiz steht - wie in den Journalen üblich - kein Punkt. Das Gesagte schwingt aus, es geht über in Ungesagtes, vielleicht in Schweigen, vielleicht in eigenes Nachdenken, Weiterdenken. Viele dieser Eintragungen sind ein wenig seltsam, leicht schräg, enthalten ein Unbestimmtheitsmoment; sie verstören oder beunruhigen, stellen den Leser vor die Frage, was "eigentlich‘“ gemeint sei. Den besonderen Augenblicken, denen der Dichter Dauer verleihen will, eine Art Heimstatt, eine Mulde, auch wenn die Dauer vielleicht nur kurz sein wird, ist Handke immer noch auf der Spur, und dieses Immer-Noch, das unlängst in den Titel eines seiner großen Theaterstücke eingegangen ist, wird zum Charakteristikum seines Spätstils, seiner gegenwärtigen - gegenwärtigenden - "Art und Weise“.

Ein in "Baumschattenwand“ häufig wiederkehrendes Wortfeld ist das der Anschauung. Es riecht (oder duftet) gewissermaßen nach Goethe, dem von Handke am häufigsten zitierten Autor. Die Welt durch Anschauung zu erfassen und zu verstehen, nicht durch Theorien oder Ideologien, sich ihr also zu öffnen und hinzugeben, über sie zu staunen und sie zu befragen, ist Existenzideal und Antrieb zur Darstellung, die dann, auch das betont Handke immer wieder, der Fantasie - also der Einbildung - bedarf. In solchen Augenblicken erscheint das "In-Sein“ nicht nur möglich, sondern naheliegend, leicht und heiter. Der Ausdruck stammt übrigens von Robert Musil, der das In-Sein dem Für-Sein entgegensetzte (für etwas und gegen etwas sein, also: Ideologie). Weltfromme Wahrnehmung, das zeigt die Lektüre von Handkes Journalen, ist immer noch möglich, auch in unserer Spätzeit, deren Verjüngung sich so gar nicht abzeichnet. Ein Eintrag lautet: "Erster stiller Ausruf am Morgen:, Heilig heilig heilig!‘ (Picardie); und dann:, Meine tägliche Auferstehung gib mir heute!‘“ Es sind solche Sätze, die, aus den Büchern herausgekitzelt, das Gespött der Nicht-Leser hervorrufen. Wer die Geduld des Lesens hat, weiß, was gemeint ist. Die Picardie ist jene randständige Gegend, in der Handke seit Jahren seine zweite Wohn- und Schreibstätte hat, die eine im Süden, die andere im Norden von Paris gelegen. Der geduldige Leser wird bei Handke, besonders in den Aufzeichnungsbüchern, Anregungen für eine Lebenskunst finden. Denn das Immer-Noch des alt-jungen, täglich auferstehenden Autors zeugt auch und vor allem von seinem nicht nachlassenden Bestreben, sich selbst und damit sein Werk zu bilden, zu formen, zu ändern, zu erneuern. Handke wandelt auch insofern auf den Spuren Goethes, des sich in aller Gelassenheit bildenden Humanisten, also des Mensch-Werdenden. Möglichkeiten der Menschwerdung, das ist es, was Handke zeigt und bietet, denn tatsächlich können die Sekundentäler des Buchs das Anschauungsvermögen des Lesers in der Wirklichkeit beflügeln. Erkenne dich selbst, bilde dich selbst, mach etwas aus dir - so etwa lauten die Zurufe, die Maximen (neben den Reflexionen), die Handke zuerst sich selbst, dann aber auch uns zuruft. In einer Welt, in der Herzlosigkeit zum Programm zu werden droht, sind diese nötiger denn je - auch wenn Handke und seinesgleichen auf verlorenen Posten geraten sind. Verteidige den verlorenen Posten: noch einer dieser Zurufe. Und eine der Implikationen der Aufmerksamkeit, die sich per se mit Fürsorge paart: Es bringt nichts, alles Religiöse in Bausch und Bogen zu verwerfen. Leute, die im Namen gleich welcher Religion Gewalt ausüben, tun dies zu Unrecht. Die einzige Eintragung, die Handke mit einem genauen Datum versieht, ist neben seinem ersten Tag im katholischen Internat im September 1954 der 13. November 2015, an dem er das "Grollen des Hilflosen Gottes gegen die Schöpfungsmordbuben“ vermerkt.

Wie es scheint, hat das Dasein auf dem Außenposten nicht nur zeitgeistige und betriebliche Gründe, es hängt wohl auch mit einer der in Handke seit je angelegten Neigungen zusammen, jener nämlich, von Gesellschaften Abstand zu nehmen.

Vergangenen Herbst ist in der Insel-Bücherei ein Auszug aus einem Notizbuch Handkes von 1978 erschienen. Es gehört nicht in die Reihe der Journale, denn Handke hat es nicht bearbeitet; es ist die Reproduktion von Zeichnungen und handschriftlichen Notizen samt Transkription in Druckschrift. Handke verwendete einen Teil dieser, ja: Arbeitsnotizen für seinen Roman "Langsame Heimkehr“ (1979), und diesen Charakter kann man an ihrem Impetus erkennen. Ein Teil davon sind Protokollsätze, Erinnerungshilfen, neben Passagen, die schon den Schwung oder Atem der größeren Erzählung innehaben. Einiges davon, lange nicht alles, würde sich für ein Journal in der Art von "Das Gewicht der Welt“ (1977) eignen. Man kann sicher sein, dass Handke auch für "Baumschattenwand“ nur einen Bruchteil der mehr oder minder spontanen Notizen verwendet hat und dass die Arbeit an diesem Buch vornehmlich im Auswählen, einem leichten, da und dort feilenden Eingreifen bestand. Handke hat sich nach "Gestern unterwegs“ (Aufzeichnungen 1987 bis 1990) von der für seine mittlere Phase charakteristischen und wohl auch bedeutsamen - bildsamen - Praxis des "Mit-Schreibens“ gelöst; die Aufzeichnungen entstehen seither mit (vermutlich geringem) Abstand zum Erlebten, Gesehenen, Gedachten. Die geänderte Schreibpraxis schlägt sich in Handkes Weg des Schreibens nieder, der seit "Mein Jahr in der Niemandsbucht“ (1994) mehr umkreisend, mäandernd, vielleicht auch freier, lockerer, epischer ist. Kritiker werden sagen: umständlicher. Wir vom Handke-Leser-Völkchen geben zu bedenken, dass das Beiwort "umständlich“ in früheren Zeiten "ausführlich“ bedeutete - und oft als Kompliment gedacht war.

"Du stehst auf verlorenem Posten, aber halte ihn!“ Der Satz aus "Baumschattenwand“ ist als Aufmunterung gedacht. Aufmunterung für uns, aber besonders und ausgewiesen für Herbert Achternbusch, der einst wie Handke nicht nur an den Rand ging, sondern ins Abseits geriet. (Achternbuschs letztes Buch erschien vor zehn Jahren in der Bibliothek der Provinz.) Eines der neuen Wörter in Handkes "Baumschattenwand“ ist "Einsamkeit“, auch in der vom Autor positiv beanspruchten Steigerungsform "Verlassenheit“. Wie es scheint, hat das Dasein auf dem Außenposten nicht nur zeitgeistige und betriebliche Gründe, es hängt wohl auch mit einer der in Handke seit je angelegten Neigungen zusammen, jener nämlich, von Gesellschaften Abstand zu nehmen; eine Neigung, die bisher meist - und heute immer noch - zuweilen einhergeht mit dem Wunsch nach einer emphatisch anderen Gesellschaft, einem solchen oder solchen Völkchen.

Eine Gefahr von Handkes Existenz und seiner durch die großen Anschauungskünstler inspirierten "Lehre“ besteht in der Isolierung, im Nicht-mehr-staunen-Können, in der Menschenfeindschaft äußerstenfalls. Sich abgrenzend, zitiert Handke, der Vaterlose, einmal einen Satz seines Vaters - "Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere“ - und kommentiert bissig, wie er es auch sein kann: "Warum ist er nicht Tierarzt geworden?“ In anderen Momenten warnt er sich dann aber selbst vor seiner (wachsenden?) Misanthropie. Es sind Momente, in denen wir, die vom Völkchen der Leser, das Bedürfnis verspüren, unserem Autor beizustehen, auf dass es mit ihm und uns weiter und weiter gehe.

Peter Handke: Vor der Baumschattenwand nachts. Zeichen und Anflüge von der Peripherie 2007-2015. Jung und Jung, S. 424, EUR 28,-

Leopold Federmair, 58, lebt und arbeitet als Schriftsteller, Essayist, Übersetzer und Universitätslektor im japanischen Hiroshima. 2012 erschien der Band "Die Apfelbäume von Chaville“, seine literarische Annäherung an Peter Handke. Zuletzt veröffentlichte Federmair im Salzburger Otto Müller Verlag den Roman "Wandlungen des Prinzen Genji“ und den Erzählband "Ins Licht“.