„Der Soundtrack meiner Kindheit“

Rodrigo González: „Der Soundtrack meiner Kindheit“

Rodrigo González, Bassist der Berliner Punkrock-Institution Die Ärzte, über seine Chile-Dokumentation „El Viaje“, den Horror der Diktatur und warum er nicht in einer Fußgängerzone spielen möchte.

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profil: Als Sechsjähriger mussten Sie mit Ihren Eltern aus Chile vor der Pinochet-Diktatur fliehen. Für Ihren Musikreise-Dokumentarfilm „El Viaje“ kehren Sie nach Chile zurück. Waren Sie auf einer Mission? Rodrigo González: Das wäre hochtrabend. Ich wollte die tolle chilenische Musik, die einstige und die heutige, auch hier in Europa bekannt machen, losgelöst von den gängigen Klischees der Protest- und Exilmusik der 1960er- und 1970er-Jahre.

profil: Beim Dreh arbeiten Sie mit field recordings, zeichnen an jeder Straßenecke Künstler auf. Wollten Sie die Musik Chiles konservieren? González: Musik wollte ich immer schon verewigen. Bereits als kleiner Bengel habe ich mit dem Kassettenrekorder Konzerte mitgeschnitten, bei meinen ersten Punkbands lief dann auch immer ein Band mit. Manche Aufnahmen habe ich jahrzehntelang nicht mehr gehört, aber es ist beruhigend zu wissen, dass ich sie noch habe.

profil: Für Ihre Doku haben Sie alte Helden und junge Künstler getroffen. Einen Generationenkonflikt gibt es in Chile nicht? González: Das habe ich so nicht erlebt. Es gibt in der chilenischen Musik gewisse Ankerpunkte, auf die sich fast alle Musiker berufen können. Etwa Violeta Parra, die der chilenischen Musik erst eine eigene Identität gegeben hat. Den theatralen Moment haben so gut wie alle Künstler intus – egal ob Camila Moreno, die eher atmosphärische Sachen macht, die alten Recken von Quilapayún oder die verrückten Typen von Chico Trujillo. Sie dürfen nicht vergessen: Chile hat eine relativ kleine Musikszene, die sich zu einem Gutteil auf die Hauptstadt Santiago konzentriert.

profil: Die Nueva canción Chilena hat mit dem Fun-Punk, den Sie selbst spielen, kaum etwas zu tun. Haben Sie ein verbindendes Element gefunden? González: Die politische chilenische Musik war der Soundtrack meiner Kindheit. An Wochenenden, wenn meine Eltern zu Hause waren, lief immer den ganzen Tag politische Musik. Auch der Punk, der mich als Jugendlicher zu faszinieren begann, war immer mit einer politischen Message verbunden, wenngleich der musikalische Anspruch ein anderer war.

profil: Als Teil einer Flüchtlingsfamilie sind Sie rein zufällig in Hamburg gelandet. Werden Sie nicht wehmütig, wenn Sie jetzt nach Chile reisen? González: Damit beschäftige ich mich nicht. Da würde ich ja verrückt werden. Für mich bleibt die Erkenntnis, dass ich so oder so bei der Musik gelandet wäre. Natürlich unter ganz anderen Voraussetzungen und wahrscheinlich nicht mit dem Erfolg, den ich in Deutschland erleben durfte. Die Musik war immer da, ist unwiderruflich in mir abgespeichert. Ich kann heute noch Lieder rezitieren, die ich das letzte Mal als kleines Kind gehört habe. Der Punk war die Initialzündung, selbst Musik zu machen. Davor war ich ja nur Konsument.

Ich muss nicht jeden Tag vor Menschen spielen und geliebt werden. Man macht Sachen, an die man glaubt, egal ob sie kommerziell erfolgreich sind oder nicht.

profil: Hatten Sie bei Ihren Dreharbeiten das Gefühl, dass die Narben in Chile schön langsam verheilen? González: Das Gegenteil findet statt. Das Land teilt bis heute ein Riss. Entweder sind die Menschen für oder gegen Pinochet. Eine Aufarbeitung der Verbrechen findet nur schleppend statt. Wo sind die Verschwundenen? Wo sind ihre Leichen? Wer muss dafür vor die Justiz? Solange die Vergangenheit nicht aufgearbeitet ist, werden sich die Wunden nicht schließen.

profil: Im Fußballstadion von Santiago de Chile wurde während der Diktatur systematisch gefoltert und gemordet. Für Ihre Doku waren Sie mit einem Musiker vor Ort, der selbst gefoltert wurde. Was macht das mit Ihnen? González: Mir ist das nicht fremd, ich kannte all die Geschichten, die Fotos und Zeugenberichte. Wenn man das erste Mal vor Ort ist, stockt einem der Atem. Plötzlich gibt es ein ganz neues Bild – dieser Horror wird sehr real und bedrückend.

profil: Fühlen Sie sich in Chile zu Hause? González: Ich fühle mich eher als Vertreter der Exilchilenen. Natürlich könnte ich heute wieder nach Chile ziehen, bin aber als Deutscher sozialisiert, habe hier meine Freunde, mein Studio. Meine Eltern verbringen den europäischen Winter in Südamerika und entkommen so der Kälte. Das ist natürlich eine gute Idee, obwohl ich sagen muss, ich würde den Winter vermissen. Ich mag den Schnee, die trockene Kälte, ich mag es, wenn es in Berlin minus 20 Grad hat. So gesehen bin ich schon ein richtiger Nordeuropäer.

profil: Was haben Sie durch Ihre Reise fürs Leben gelernt? González: Es sind eher grundsätzliche Dinge, die ich durch den Film gelernt habe. Einerseits eine unglaubliche Hochachtung vor den Musikern, die es nicht leicht haben, in Chile von der Musik leben zu können. Dort geht es sehr schnell ans Eingemachte: Werde ich morgen noch ein Dach über dem Kopf haben? Kann ich mir das Essen leisten? Dadurch entwickelt sich die Musik zu etwas Bedingungslosem. Die Musiker müssen spielen, sie haben keine Wahl.

profil: In einer Szene des Films werden Sie gefragt, ob Sie von Ihrer Musik in Deutschland leben können. Werden Sie da demütig? González: Natürlich, die Demut ist groß. Ich hab Schwein gehabt. 2004 haben Die Ärzte eine kleine Südamerikatour gespielt, wir waren in Chile, Uruguay und Argentinien unterwegs. Die chilenischen Musiker konnten es nicht fassen, dass wir gleich mit einem ganzen Tross an Menschen, mit Tourmanager, Security, einem Soundmann und Roadies angekommen sind, die noch dazu ganz professionell und vor allem nüchtern ihren Job gemacht haben. Dass unsere Crewmitglieder an einem Abend mehr verdienen als erfolgreiche chilenische Musiker in zwei Monaten, war ein sehr einschneidendes Erlebnis.

profil: Fehlt Ihnen heute diese Dringlichkeit, jeden Tag spielen zu müssen? González: Nein, nicht wirklich. Die Freiheit, die ich mir erspielt habe, will ich nicht mehr missen. Als bettelnder Musiker in der Fußgängerzone möchte ich nicht spielen. Mir war immer wichtig, das machen zu können, was ich will.

profil: Sie müssen also nicht mehr ständig auf der Bühne stehen? González: Dafür bin ich zu sehr am Boden geblieben. Ich muss nicht jeden Tag vor Menschen spielen und geliebt werden. Man macht Sachen, an die man glaubt, egal ob sie kommerziell erfolgreich sind oder nicht. Dass ich in einer Punkband wie Abwärts Gitarre spiele, mache ich, weil ich das Bedürfnis habe, so eine Musik zu machen.

profil: Haben Sie nun filmtechnisch Blut geleckt, wird es weitere Werke von Ihnen geben? González: Ich bin ein großer Fan von Dokumentarfilmen. In Zukunft werde ich aber eher im Hintergrund arbeiten. Mir fehlt beim Film das Spontane. Das ewige Warten, die unzähligen Takes, das ist nicht meine Welt.

Rodrigo González, 49

ist seit der Neugründung der Berliner Punkrock-Band Die Ärzte 1993 dort als Bassist und Songschreiber aktiv. In Berlin betreibt der Multiinstrumentalist sein eigenes Studio, in dem er selbst als Produzent tätig ist. Seit 2004 spielt er zudem in der Hamburger Punkband Abwärts. Jetzt ist sein gemeinsam mit Regisseur Nahuel Lopez veröffentlichter Musikfilm „El Viaje“ („Die Reise“) als DVD und Soundtrack-Album erschienen.

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.