Wrestling bei "Rokko's Adventures": Thekla Kaischauri vs. Chabela Poderosa.

"Rokko's Adventures": Löcher im Schädel

Auf ein Bier mit Clemens Marschall, Erfinder und Gestalter der neuen TV-Rabiatperle "Rokko's Adventures".

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Großes Hallo auf der Wiener Pilgrambrücke: "Guten Morgen!" Es ist kurz nach 16 Uhr. Herr Radi sperrt seine Würstelbox auf; die Stammgäste haben bereits gewartet. Vergangene Nacht ist auch schon wieder eine Zeit lang her, der Durst entsprechend groß. Rekordsommer, Tropennächte, Gösser. Ein Stammgast ist, so munkelt man, möglicherweise doch nicht verschollen, wie zuletzt gemunkelt wurde, sondern auf der Baumgartner Höhe, wohl nicht ganz freiwillig, aber für die Stammgäste von Herrn Radis Würstelbox nicht zu sprechen, obwohl diese vermutlich seine nächsten Angehörigen wären. Auch Clemens Marschall macht sich Sorgen, sortiert gute und schlechte Ideen und verspricht, etwas zu versuchen.

Marschall gehört zu den hochfrequenten Gästen von Herrn Radis Würstelbox. In der Regel ist er aber nicht am mittleren Nachmittag hier, sondern spätnachts, wenn er von seinen Reisen zurückkehrt. Sie führen ihn durch die Tschocherln von Wien, an die Nebenschauplätze des Lebens, in die Unterwelt, ins Jenseitige.

Clemens Marschall, Jahrgang 1985, aufgewachsen in Ried/Innkreis, seit Jahren wohnhaft in Wien, freier Journalist für Ö1 und "Wiener Zeitung", Doktor der Musikwissenschaften, bestellt ein Bier und erzählt. Von dem Magazin, das er herausgibt, und den Geschichten, die es enthält. Von Leuten, die Kot essen, weil sie das geil finden. Von der Wilden Hilde, die wahrscheinlich in jedem Beisl zwischen Stuwerviertel und Margareten gekellnert hat, es heute aber ruhiger angehen lässt. Von Praterhuren und Hinterhof-Wrestlern. "Die Geschichten schlummern überall, wenn man die Augen aufmacht und sich interessiert. Man muss sie nur aufklauben", sagt Marschall: "Ich strawanze gern herum und schaue mir viel an, oft halt auch so Bauchstichhütten. Man könnte es herbeigeführte Zufälle nennen. Ich gehe an Orte, wo interessante Leute sind, lasse mich treiben und sage selten nein zu depperten Vorschlägen."

Trailer der ORF-Show "Rokko's Adventures".

Vor zwei Jahren schlug der Regisseur und TV-Produzent David Schalko Marschall vor, seine Geschichten fürs Fernsehen zu adaptieren. Seit der Vorwoche läuft deshalb im ORF-Dienstagnachtprogramm die Show "Rokko's Adventures", die lose auf dem gleichnamigen Print-Magazin basiert, das Marschall seit elf Jahren in Selbstverlag und Kleinstauflage herausgibt. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sich der ORF über diese Rabiatperle traute. "Rokko's Adventures" ist ein Glücksfall für ein Fernsehen, in dem Subkultur sonst keinen Platz und der Alltag wenig Auftrag hat. Seit einem Vierteljahrhundert wiederholt der Sender Elizabeth T. Spiras "Alltagsgeschichten" und vergisst, dass es diese Geschichten in Wahrheit immer noch gibt, diese Milieus, in denen das Banale, ehe man sich's versieht, ins Paranormale umschlägt. Und immer auch umgekehrt.

In Rokkos Fernsehabenteuern ermuntert eine hanebüchene Rahmenhandlung den Icherzähler zu delirierenden Ausflügen ins Rotlichtmilieu, zu freischaffenden Exorzisten, zur Würstelbox und zu Voodoo Jürgens, was insgesamt deutlich trashiger daherkommt als die im Grunde sehr nüchterne Zeitschrift, in der sich Marschall seiner obskuren Themen mit erfrischender Ernsthaftigkeit annimmt. Seit 2007 macht "Rokko's Adventures" eine andere Welt sichtbar - und eine andere Weltsicht auch. "Verschiedene Lebensweisen werden dabei nebeneinander und nicht, wie sonst üblich, übereinander gestapelt. Manche halten diesen Zugang für schizophren, ich halte ihn für lebensnah", sagt Marschall. Die Stammgäste an der Würstelbox spitzen die Ohren.

Rokko's Adventures

Auf dem Cover der ersten Ausgabe von "Rokko's Adventures" waren die Rock-Avantgardisten Melvins zu sehen, über die Marschall, gegen einigen Widerstand, seine Diplomarbeit am Institut für Musikwissenschaft verfasste. Weitere Heftthemen: Menschen, die sich zur Bewusstseinserweiterung Löcher in die Schädel bohren; die wegweisende Beatpoetin und Performancekünstlerin Ruth Weiss; ein "seltsames Ereignis" in Hohenems, bei dem eine Dampfwalze über ein Spanferkel fuhr, sowie Gespräche mit Marschalls Großeltern und John Zorn. Die Blattlinie wurde seither kaum verändert. Sie verläuft konsequent zickzack. Zwischen ländliche Karl-May-Festspiele, Zoophilie und den großen Outsider-Künstler Joe Coleman passt mindestens Bud Spencer. Clemens Marschall würde nie damit protzen, aber er hat ein gutes Händchen dafür, die Drehtüren der Wahrnehmung in Schwung zu bringen.

Das sind oft Leute, die ihre Geschichten nie erzählen dürfen. Sie sind dankbar, wenn ihnen jemand zuhört.

Gemeinsam mit seinem langjährigen Fotografen Klaus Pichler veröffentlichte Marschall vor zwei Jahren "Golden Days Before They End", einen Bildband mit Reportagen aus Wiener Espressos, Beisln und Branntweinern, die von einem Leben zwischen Erhitzungsgespräch und Flaschenbier, Rauchgebot und ganzjähriger Faschingsdeko berichten. Das Buch dokumentiert eine versinkende Zeit, die mit der Slim-fit-Globalisierung beim besten Willen nicht mitkommt, wobei es mit dem guten Willen ohnehin nicht immer zum Besten bestellt ist. Marschall versorgt die Menschen mit einer Mindestsicherung an Respekt: "Das sind oft Leute, die ihre Geschichten nie erzählen dürfen. Sie sind dankbar, wenn ihnen jemand zuhört. Du musst sie dabei aber ehrlich ernst nehmen. Du darfst sie nicht vorführen, sondern musst sie so zeigen, dass sie sich selber wiederfinden." Marschall trinkt mit, er hört zu, redet dazwischen, ohne sich ein Urteil anzumaßen. Er schießt seine Sozialreportagen nicht vom Hochstand, sondern vom Nebentisch aus.

"Ich erzähle halt keine Gschichtln. Die Karten liegen auf dem Tisch. Die Kritik kommt in der Regel auch von außen, von bürgerlicher Seite." Sie lautet: So dürfe man die Menschen nicht darstellen, man müsse sie vor sich selbst schützen. Muss man nicht. "Die Wilde Hilde zum Beispiel: Ich hab mich, ehrlich gesagt, ein bisschen vor ihrer Reaktion auf das Beisl-Buch gefürchtet. Dann habe ich es ihr gezeigt. Und sie hat gesagt:'Das hab ich mir schon längst gekauft.'" Es folgte das möglicherweise größtmögliche Kompliment: "Du bist ein Mensch." Herr Radi lacht.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur, ist seit 2020 Textchef dieses Magazins und zählt zum Kernteam von faktiv.