Die großen Gewinner aus 2016. Mark Rylance (Bester Nebendarsteller), Brie Larson (Beste Hauptdarstellerin), Leonardo DiCaprio (Bester Hauptdarsteller) und Alicia Vikander (Beste Nebendarstellerin).
Rückbaugewerbe: Die Oscars als Zerrbild der US-Filmindustrie

Die Oscars als Zerrbild der US-Filmindustrie

Alle Jahre wieder feiert sich Hollywood in der Oscar-Show als globales Aushängeschild für Kunst und Glamour. Dabei bietet sie nur ein Zerrbild der amerikanischen Filmindustrie.

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Wenn am kommenden Sonntagabend im Dolby Theatre am Hollywood Boulevard in Los Angeles die 89. Oscar-Gala nach den immer gleichen Red-Carpet-Aufmärschen mit den üblichen Fernsehorchesterpauken und Werbepausentrompeten eröffnet wird, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Das Schlimmste wäre, zumindest in der Logik Hollywoods, nicht der Ausnahmezustand, sondern dessen eklatantes Fehlen, denn vor Spannungslosigkeit graut der Traumfabrik mehr als vor allem anderen. Langweilig ist die alljährliche Vergabe der Academy Awards dennoch und ohne jeden Zweifel - und dies keineswegs nur wegen der seit Dekaden wiederholten Worthülsen der Moderatoren und Prämierten und der sehr berechenbaren Kalauer der Conférenciers. Langweilig ist die Show vor allem auch deshalb, weil sie in aller Sturheit Utopien zelebriert, an die niemand mehr ernsthaft glauben kann: die Einigkeit der Branche, die ewige Faszination des Superstarprinzips, die Glorie und Unverbrüchlichkeit des amerikanischen Kinos.

Man mag ermessen, wie schizophren diese Veranstaltung tatsächlich ist, wenn man sich kurz vergegenwärtigt, welche Filme 2016 an Nordamerikas Kinokassen reüssierten. Das "Star Wars"-Spinoff "Rogue One", mit knapp 530 Millionen Dollar nationalem (und weltweit locker verdoppeltem) Einspielergebnis die unangefochtene Nummer eins des Vorjahres, konnte gerade einmal zwei Nominierungen ergattern -in Nebenkategorien wie Tonmischung und Spezialeffekte. Die Nummern zwei bis vier in der Hitliste ("Finding Dory","Captain America: Civil War" und "Pets") blieben komplett unberücksichtigt, während sich der fünftlukrativste Film, "The Jungle Book", nur in der Kategorie Visual Effects wiederfindet. Die profitabelsten der nunmehr meistnominierten Arbeiten finden sich in den Jahrescharts erst auf den Plätzen 20 ("La La Land"), 29 ("Arrival") und 46 ("Hacksaw Ridge"). Die Oscars, heißt das, sind für die Kunst zuständig, nicht fürs Massen-Entertainment.

Zwar gibt es jedes Jahr sichere Preisträger, die auch wirtschaftlich erstklassig funktionieren (der heurige Favorit, Damien Chazelles Musical "La La Land", hat beispielsweise weltweit bereits 300 Millionen Dollar eingespielt, fast die Hälfte davon in den USA), aber dem Blockbuster-Normalzustand mit all seinen Superheroes, Trickfilmtieren und Teenie-Komödien sind die Oscars denkbar fern. Viele der Filme, die 2017 gefeiert werden, sind qualitativ durchaus auf der Höhe der Zeit: die philosophisch gekühlte Science-Fiction-Preziose "Arrival" (acht Nominierungen) etwa, das raffinierte Independent-Familiendrama "Manchester by the Sea" (sechs Nominierungen) oder auch der packende Neo-Western "Hell or High Water" (vier Nominierungen). Und vielleicht kann ja auch die fabelhafte Berliner Filmemacherin Maren Ade, die "Toni Erdmann" mit österreichischer Beteiligung inszenierte, als Regisseurin und Koproduzentin des besten fremdsprachigen Films am Ende mit einer Statuette heimreisen. Am anderen Ende des Spektrums stehen freilich eher unwürdige Filme wie Mel Gibsons Weltkriegs-Schlachtplatte "Hacksaw Ridge" (sechs Nominierungen).

So tanzt die Academy of Motion Picture Arts and Sciences immer unsicherer zwischen Kunstanstrengung und Edelkommerz, gibt dramatischer Schwere und zeitgeschichtlicher Wichtigkeit jederzeit den Vorzug -und etwa guten Genrefilmen so gut wie keine Chance. Die aus rund 5800 Industrie-Profis zusammengesetzte Academy, 1927 gegründet, mit Hauptquartier im weltfernen Beverly Hills, wird regelmäßig wegen Überalterung und ihrer betont weißen, überwiegend männlichen Besetzung kritisiert. Nach dem Eklat kurz vor der Oscar-Gala 2016, als die berechtigte Klage über die heftig mangelnde Diversität in den Gremien und Nominierungslisten dann doch zu laut wurde, zog man die Reißleine und beschloss eiligst eine Serie neuer Statuten mit dem Ziel, die Zahl der Frauen und der Vertreter ethnischer Minderheiten in der Academy zu verdoppeln.

Man kann eben nur tatsächlich realisierte Filme prämieren. Die Schwarzen haben aber - ebenso wie Frauen, Latinos und Asiaten - immer noch kaum Zugang zur Filmproduktion

Natürlich sind solche Maßnahmen allein noch lange nicht genug. Der haitianische, zwischen New York, Miami und Frankreich pendelnde Regisseur Raoul Peck, der mit seinem dringlichen, als bester Dokumentarfilm nun auch für einen Oscar nominierten James-Baldwin-Essay "I Am Not Your Negro" im Programm der gerade zu Ende gegangenen Berlinale auftrat (wo er übrigens auch noch seinen Spielfilm "Der junge Karl Marx" präsentierte), nennt den latenten Rassismus in Hollywood "den Elefanten im Zimmer", den partout niemand sehen will und der vor allem auf die mangelnden Produktionsmöglichkeiten für schwarze Kreative zurückzuführen sei. "Man kann eben nur tatsächlich realisierte Filme prämieren", sagt Peck im profil-Gespräch. "Die Schwarzen haben aber -ebenso wie Frauen, Latinos und Asiaten -immer noch kaum Zugang zur Filmproduktion."

Wenn man in Hollywood einem Studio sein Filmprojekt schmackhaft machen wolle, so Peck, habe man üblicherweise ein paar Minuten Zeit, um einem "selbstverständlich weißen Typen zwischen 35 und 42 Jahren, der keine Ahnung von den Dingen hat, mit denen man sich beschäftigt, zu erklären, welchen Film man machen möchte. Da kann man nur verlieren. Und es gibt wirklich einfachere Ziele, die man sich als Repräsentant einer Minderheit in Hollywood stecken kann. Was meinen Sie, wie oft ich gehört habe, dass ich doch aufhören soll zu jammern, wo ich ohnehin einen schwarzen Präsidenten habe!" In der amerikanischen Filmindustrie werde sich nichts ändern, wenn es nicht einen fundamentalen strukturellen Wandel geben werde und Verantwortliche, "die selbst Diversität repräsentieren. Ich habe mein halbes Leben damit zugebracht, blockiert zu werden, hatte immer das Gefühl, dass die Bilder, die ich schließlich doch herstellen konnte, gestohlen waren. Es hätte sie eigentlich gar nicht geben dürfen. Ich musste Wege und Alliierte in diesem System finden, um sie zu realisieren." Viele der großen afrikanischen Filmemacher der vergangenen Jahrzehnte, von Souleymane Cissé bis Idrissa Ouedraogo, mahnt Peck noch, "können heute keine Filme mehr machen. Sie werden nicht mehr zugelassen. Das System bestraft dich, wenn du nicht immer wieder denselben Film drehen willst. Einige wenige Kinokünstler aus Afrika -Alain Gomis, Mahamat-Saleh Haroun und Abderrahmane Sissako - werden, wenn sie Glück haben, irgendwie weitermachen können, der Rest aber wird untergehen, wenn nicht sehr bald etwas passiert."

Die heftig geführte Diversity-Diskussion des Vorjahres, die um den strukturellen Rassismus der Branche kreiste, nachdem in zwei aufeinander folgenden Jahren keine einzige nicht-weiße Schauspielkraft nominiert worden war, hatte die seit Jahrzehnten schwelende Debatte um den Mangel an Frauen in Hollywood-Führungspositionen ergänzt. Kathryn Bigelow, die 2010 bei der Academy-Awards- Gala als beste Regisseurin ausgezeichnet wurde, ist bis heute die einzige Filmemacherin, die jemals einen Regie-Oscar erhalten hat.

Nicht nur aus diesen Gründen ist das jährliche Hochamt der Oscars eine seltsam anachronistische Veranstaltung: Die Idee des angeblich unbesiegbaren Glanzes einer ökonomisch de facto angezählten Laufbilderindustrie, die Erhebung des Altmodischen in den Rang kurzfristiger Cool-und Hipness, mutet paradox an. Was in einzelnen Werken seinen Reiz haben kann (siehe eben "La La Land" mit stolzen 14 Oscar-Nominierungen), hat zur weit gediehenen Irrelevanz dieser Show geführt. Das uralte Konzept der angebeteten Filmprominenz, die einen Abend lang "persönlich" wird und ganz nahe zu rücken scheint, gleichsam vom Himmel herabsteigt, um sich und seinesgleichen ironisch zu betrachten: Dieses Konzept ist in der Ära der sozialen Netzwerke, der virtuellen Instagram-und Twitter-Nahverhältnisse, die der digitale Normalverbraucher gerade auch zu den Berühmtheiten dieses Planeten pflegt, kaum noch aufrechtzuerhalten.

Die Filmfestspiele in Berlin, die seit einigen Jahren in nächster zeitlicher Nähe zur Oscar-Verleihung stattfinden, bieten daher stets eine gute Gelegenheit, um über die Verfasstheit Hollywoods nachzudenken. Anders als die Festivals in Cannes und Venedig hat die politischer orientierte Berlinale in diesem Jahr traditionelles US-Kino fast vollständig ausgeschlossen, stattdessen deutlicher noch als üblich auf unabhängige ästhetische Gegenentwürfe gesetzt, Experimente von Ken Jacobs und Sharon Lockhart etwa oder radikal introvertierte Spielfilme wie Alex Ross Perrys "Golden Exits".

Heute kann man diese Art von Kino nur noch im Independent-Bereich herstellen, für minimale Budgets von fünf, sechs Millionen Dollar, in Drehzeiten von maximal 24 Tagen, wo man früher 45 Tage aufgewendet hätte

Und wenn dann doch ein amerikanischer Filmstar auf dem Potsdamer Platz auftauchte, musste es eben einer sein, der an der Ostküste lebt und seit Jahren nicht mehr in Los Angeles gedreht hat: Richard Gere, der als Gast der Berlinale (er spielt in dem Wettbewerbsbeitrag "The Dinner", einem leider deutlich überambitionierten Familiendrama, einen moralisch überraschend integren Politiker) nebenbei auch die deutsche Kanzlerin traf, um über Tibet zu sprechen, gab sich im profil-Interview angriffslustig. Er bezeichnete den neuen US-Präsidenten als "gefährlichen Clown, genau wie Mussolini und Hitler" und "Gebrauchtwagenhändler mit einem fast morbiden Narzissmus und Selbstzerstörungstrieb". Auch Hollywood bedachte er mit kritischen Worten: "Ich hatte Glück, konnte immer meine Art von Filmen machen, die in der Regel humanistische Grundfragen behandeln und von Regiekönnern gedreht wurden - und trotzdem Geld machten. Heute kann man diese Art von Kino nur noch im Independent-Bereich herstellen, für minimale Budgets von fünf, sechs Millionen Dollar, in Drehzeiten von maximal 24 Tagen, wo man früher 45 Tage aufgewendet hätte."

Diese in Rückbau befindliche Branche also wird sich in wenigen Tagen erneut so feiern, als gäbe es keine Krise. Raoul Peck kündigt am Ende des Gesprächs mit profil an, dass er als Nominierter für die kommende Academy-Awards-Gala "etwas Aktionistisches vorbereite", dem seine Kollegen hoffentlich auch zustimmen werden. Auf Nachfrage hüllt er sich in Schweigen, gibt aber immerhin preis, dass die Intervention, die er plane, "über eine Rede hinausgehen" werde. Möglicherweise wird es in der Oscar-Nacht ja doch noch spannend.

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 8 vom 20.2.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.