Interview

Sergei Loznitsa: „Die Sowjetunion ist eine Art der Idiotie“

Der bedeutende ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa stellt zwei neue, historische Filme bei der Viennale vor, die grelle Schlaglichter auf die Kriegsgegenwart werfen. Im profil-Gespräch erklärt er Putins Wahndenken, zieht Vergleiche mit dem Naziterror – und warnt vor dem Boykott russischer Kunst.

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Bilden die Kriege, die vergangenen wie die aktuellen, so etwas wie eine Naturgeschichte der menschlichen Vernichtungslust? Es sind gespenstische Bilder und brisante moralische Fragen, die in Sergei Loznitsas neuen Filmen aufflammen. In „The Kiev Trial“, der verdichteten Wiedergabe eines eilig einberufenen Kriegsverbrecher-Schauprozesses vom Jänner 1946 (Stalin wollte schneller sein als die Kollegen in Nürnberg), marschieren die aschfahlen nationalsozialistischen Angeklagten auf, um – erstaunlich unbefangen – Bericht von den Massakern an der Zivilbevölkerung zu erstatten, die sie in der Ukraine mitorganisierten. Ihnen allen droht der Tod durch den Strang. 

„The Kiev Trial“ basiert auf in Moskauer und Kiewer Archiven erst unlängst gefundenen Filmdokumenten dieses Prozesses, der klare propagandistische Intentionen hatte. Loznitsa geht es allerdings nicht um Rache und Aufrechnung, sondern um Reflexion: Er beruft sich auf einen berühmten Essay von Albert Camus, eine kompromisslose Denunziation der Todesstrafe. Sie zerstöre „die einzige unbestreitbare Solidarität der Menschen“, schrieb Camus darin: „die gemeinsame Front gegen den Tod“. 

Wollte man den fast asketisch, ohne Soundtrack und ohne jeden Kommentar fürs Kino in Szene gesetzten „Kiev Trial“ als Kammermusik betrachten, dann wäre der ebenfalls ausschließlich mit (eigenwillig nachvertonten) Archivbildern operierende Film „The Natural History of Destruction“ ein Werk für großes Orchester, eine Symphonie: eine auf den Thesen W.G. Sebalds beruhende Montage von Filmdokumenten, die das Leben zwischen Alltag und Ausnahmezustand in Nazideutschland während der alliierten Luftangriffe illustrieren. Was sehen wir, wenn wir im Kino den „legitimen“ Bombenkrieg gegen zivile Ziele erleben?

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„The Kiev Trial“ (2022): Schauprozess der Zombies: Die lebenden Toten legen vor dem Kiewer Gericht Zeugnis ab.

Am 29. und 30. Oktober wird Loznitsas Doppelschlag im Rahmen der Viennale zu besichtigen sein. profil traf den 1964 in Belarus geborenen, seit 2001 in Berlin lebenden Ukrainer beim Filmfest Venedig. An seiner Seite: die Produzentin Maria Choustova, die seit 2010 mit Loznitsa arbeitet. Er, der in Kiew aufwuchs und – nach einer Ausbildung zum Mathematiker – in den 1990er-Jahren in Moskau Regie studierte, hat Putins Invasion bereits im Februar aufs Schärfste verurteilt („ein wahnsinniger und suizidaler Akt, der zum unausweichlichen Kollaps des kriminellen russischen Regimes führen wird. Die Ukraine wird siegen!“), er geht aber auch mit seiner Heimat, wo es nötig erscheint, hart ins Gericht. Loznitsas Dokumentarfilm „Babi Yar: Context“ (2021) etwa berichtet von der ukrainischen Kollaboration an der Ermordung von fast 34.000 Kiewer Juden durch die Nazis 1941. Mitte März wurde Loznitsa aus der ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen, weil er sich gegen einen Boykott russischer Filme ausgesprochen hatte.

Obwohl seine Basis die dokumentarische Arbeit ist, realisiert Sergei Loznitsa seit 2010 („Mein Glück“) auch Spielfilme, zuletzt das denkwürdige ukrainisch-russische Kriegsdrama „Donbass“ (2018). Die Geschichte lehre uns nichts, sagt der Regisseur, das könne man am Krieg in der Ukraine bestens überprüfen. 76 Jahre nach dem Prozess, den die Sowjetunion den Nazis machte, seien es nun die russischen Truppen, die ungerührt Zivilbevölkerung, Frauen und Kinder ermordeten. Der nächste „Kiev Trial“ wird kommen.

Ihre beiden jüngsten Filme, die Sie im Rahmen der Viennale zeigen werden, stellen gespenstische Echos zu dem Angriffskrieg her, der seit dem 24. Februar in der Ukraine wütet. Sie konnten das, als Sie an jenen Werken zu arbeiten begannen, noch gar nicht wissen. Wiederholt sich die Geschichte, immer wieder?
Loznitsa
Ich bin eigentlich Mathematiker, trainiert darauf, die Dinge rational zu beschreiben. Wenn wir nun ernsthaft über die Sowjetunion nachdenken, die tatsächlich nie verschwunden ist, wenn wir uns deren grauenvolle Geschichte vergegenwärtigen, so müssen wir uns fragen, ob es wirklich möglich ist, mit diesem Erbe ein normales Leben zu führen. Nehmen Sie meine eigene Familie, die wie Millionen andere sowjetische Familien lebte: Das Geheimnis, wer der Vater meiner Mutter war, wurde bis heute nicht aufgelöst. Weil sie aus einer südrussischen Kosakenfamilie stammte, wurde während der Revolution und danach fast ihr gesamter Klan ausgelöscht. Das ist sehr typisch: So habe ich keinerlei Informationen, was diesen Zweig meiner Familie betrifft. Es gibt keine Dokumente, keine Information. Millionen von Menschen befinden sich heute in ähnlichen Situationen. Sie sind von den Tragödien ihrer Vorfahren umgeben, vom Druck der Vergangenheit. Und all die Trauerspiele und Verbrechen, die während der Sowjetzeit begangen worden waren, wurden offiziell nach dem Kollaps der Sowjetunion nie verdammt. Wenn all diese Verbrechen aber niemals stattgefunden haben sollen, wäre es dann nicht möglich, dass man sie einfach wiederholt? Diese Frage wird noch dringlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass die Macht in Russland heute in den Händen ebenjener Organisation liegt, die all diese Verbrechen während der Sowjetzeit über Jahrzehnte begangen hat. Wer die Vergangenheit genau studiert, kann lernen, was die Zukunft bringen wird.
„The Kiev Trial“ thematisiert leider viel Aktuelles: Antisemitismus, Nationalismus und Faschismus. Sogar in dem Begriff „Lebensraum“, den einer der Nazis vor Gericht benutzt, um zu erklären, warum Wehrmacht und SS ganze Dörfer ausgerottet haben, scheint Putins Aggression nachzuhallen: Er geht davon aus, dass es legitim sei, sich den ukrainischen „Lebensraum“ für ein großrussisches Reich zu sichern.
Loznitsa
Absolut. Wir können Russland auch gleich „Das Dritte Reich“ nennen, das wäre nahe an der Bezeichnung, die Putins nationalistische Denker für den Weg ihrer Heimat gefunden haben: „The Third Road“, denn man will weder dem Westen nacheifern, noch dem alten Ostblockdenken treu bleiben. Für Putin ist es tatsächlich ein Kampf um Lebensraum, obwohl er so viel davon zur Verfügung hat; er braucht mehr. Als ich am 24. Februar in den Nachrichten hörte, dass die Bomben wieder auf Kiew fielen, dachte ich: Wie grauenvoll und langweilig ist es, dass wir uns 80 Jahre zurück in der Geschichte bewegen? Wir waren durch all das schon gegangen, aber es passierte wieder! Als müsste man bereits verdaute Nahrung wiederkäuen. Die Propaganda ist so idiotisch wie damals. Wir erleben einen Rücksturz durch die Zeit. 
Wenn Sie behaupten, die Sowjetunion sei in Russland nie ad acta gelegt worden, dann meinen Sie den Diktator mit der KGB-Vergangenheit und seinen Traum von der großen Heimat?
Loznitsa
Die Sowjetunion ist ja nicht nur die Beschreibung eines Territoriums, sie ist auch eine Mentalität, eine Art des Nichtdenkens, der Idiotie.
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„The Natural History of Destruction“ (2022): Symphonie der Vernichtung: Der deutsche Alltag während der alliierten Bombardements.

Ein Ungeisteszustand.
Loznitsa
Und dieser basiert auf drei Schlüsselbegriffen. Der erste lautet: Ablehnung persönlicher Verantwortung. Wer der sowjetischen Mentalität anhängt, übernimmt niemals Verantwortung für seine Handlungen, delegiert alles an den Staat. Im Gegenzug übernimmt dieser deinen Mindestlohn, garantiert dein elementares Überleben. Es ist eine Form der Sklaverei. Der zweite Begriff: Demütigung. Die Unterdrückung gehörte zu den Kernprinzipien der Sowjetunion. So konnte man die Menschen langfristig kleinhalten und beherrschen. Die Idee des Individualismus musste im Keim erstickt werden. Nun lässt Russland die Körper der getöteten Soldaten verbrennen, auch dies zeigt ihre vollkommene Respektlosigkeit dem individuellen Leben gegenüber. Es ist ein Gewaltakt gegen die Erinnerung an die Gefallenen. Sie verstecken ihre Gräber, löschen alle Erinnerungen an sie. Als wäre „Antigone“ nie geschrieben worden: Sophokles ließ seine Heldin schon vor 25 Jahrhunderten darauf beharren, einen Ermordeten gegen den Willen des Königs zu bestatten. In Russland ist diese Moral nie angekommen.
Die Ukrainer machen es anders?
Loznitsa
Ja. Dort zollt man den Ermordeten selbstverständlich Tribut, in jedem Dorf hält man Feierlichkeiten ab, wenn die Leichen heimgebracht werden. Das ist eben ein Krieg zwischen zwei grundverschiedenen Konzepten, wie einst jener zwischen Christentum und Barbarei. Es ist sehr wichtig, zu erkennen, dass dies ein Krieg der Zivilisationen ist, nicht einer zwischen Nationen. Es ist kein ethnischer, sondern ein zivilisatorischer Krieg. Man muss sicherstellen, dass dies nicht verwechselt wird. Denn falsche Schlussfolgerungen sind tückisch. Die westliche Welt, heißt es nun, soll russische Kultur verbieten, keine Reisevisa mehr ausstellen. Das ist jedoch eine sehr gefährliche Forderung, denn sie suggeriert, dass es um einen Feind gehe, der ethnisch oder national festzumachen sei. Genau darauf drängt das russische Regime. Wiese man nun Zehntausende Russen, die als Regimegegner nach Europa geflüchtet sind, einfach aus, so würde dies Putin in die Hände spielen. Er könnte dann sagen: Seht ihr? Es ist genau, wie ich euch immer gesagt habe – Europa hasst uns Russen! Europa ist unser Feind! 
Klar, Europa muss zwischen Putin-Handlangern und Oppositionellen differenzieren.
Loznitsa
Wenn die ukrainischen Behörden nun aber fordern, dass all die Russen, die vor ihrem Regime geflüchtet sind, gegen dieses gefälligst auch vor Ort zu kämpfen haben, frage ich zurück: Wo wart ihr all die Jahre, als die Sowjetunion noch existierte? Habt ihr damals gegen den verhassten Stalinismus und Totalitarismus gekämpft? Natürlich, das wäre unmöglich gewesen. Man wäre sofort vernichtet worden. Das gilt aber immer noch. Und wie uns die Ereignisse von 1991 lehren, erhielten die früheren Sowjetrepubliken nicht deshalb ihre Unabhängigkeit, weil sie dafür gekämpft hatten. Sie erhielten sie wie ein ungebetenes Geschenk. Einzig Litauen hatte nach dem Krieg und noch in den 1970er-Jahren um Demokratie gekämpft, und man bezahlte dies mit den Leben Zehntausender Bürgerinnen und Bürger. Ich war ein Kind, lebte in Kiew, als die litauischen Unruhen stattfanden. In der Ukraine gab es nichts dergleichen, keinerlei Auflehnung gegen den Kreml. 
Nennen Sie doch noch den dritten Kernbegriff des sowjetischen Denkens.
Loznitsa
Nichtanerkennung von Eigentum. Niemand habe je ein Recht auf so etwas wie eine „neue Heimat“ gehabt. 
Sie wurden unlängst aus der Ukrainischen Filmakademie verbannt, wo man Sie – mit einem stalinistischen Kampfbegriff – des „Kosmopolitismus“ bezichtigte. Macht sich auch in der Ukraine gerade ein verstörender Nationalismus breit? 
Loznitsa
Natürlich existiert nationalistischer Extremismus auch dort, wie in jedem Land dieses Planeten. Solchen Ideen hängen in der Ukraine schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Bevölkerung an. Leider sind ausgerechnet in der Filmakademie einige Leute gelandet, die zu dieser Minderheit gehören. Der Kopf jener Organisation, Pylyp Illienko, Sohn eines berühmten Regisseurs,  ist tatsächlich Mitglied der rechtsextremen und radikalnationalistischen Swoboda-Partei. Ich kenne Pylyp seit vielen Jahren, wir waren stets ganz gut miteinander. Plötzlich meinte er, einen Feind in mir zu erkennen. Aber sehen Sie: Die Filmakademie existiert seit sechs Jahren. Eine 400 Jahre alte Institution, die Berliner Akademie der Künste, hat mich wenige Wochen nach meinem Rauswurf eingeladen, Mitglied zu werden.
Eine Frage zur filmischen Form: Sie bauen in Ihren Dokumentarfilmen die Tonspuren seltsam neu. Mit Ihrem Sounddesigner Vladimir Golovnitski erschaffen Sie Klangwelten, die sehr künstlich wirken, gerade weil sie so kontemporär „realistisch“ klingen. Was ist das? Hyperrealismus? 
Loznitsa
Wir versuchen lediglich, eine Hörlandschaft herzustellen, die so nah wie möglich an natürlichem Raumklang ist. Wir rekonstruieren den Ton. Dieses Konzept verfolge ich seit Jahren, dabei haben wir eine Menge gelernt, diese Technik weiterentwickelt. 
Das Artifizielle daran ist die Differenz zwischen den Bildern, die ja aus den 1940er-Jahren stammen, und einem Sounddesign, das die Plastizität einer O-Ton-Aufnahme von 2022 hat. Jeder weiß, dass alte Filme so nicht klingen können. 
Loznitsa
Gut, aber ich will das Publikum durch die Präzision des Klangs eben in die Bilder, zum Beispiel in diesen Schauprozess hineinziehen.
Für „The Kiev Trial“ orientierten Sie sich an Albert Camus’ Essay „Réflexions sur la guillotine“ von 1957. Ihr Film gibt sich zwar betont sachlich, aber Sie hatten durchaus eine moralische Agenda? 
Loznitsa
In meinem Film kann man die grauenhaften Detailschilderungen der Angeklagten, all die Belege für den von den Nazis entfesselten Horror miterleben – und am Ende sehen wir eine andere, nur scheinbar entgegengesetzte Art von Horror. Krzysztof Kieślowskis „Kurzer Film über das Töten“ (1990) inspirierte mich in dieser Hinsicht ebenfalls sehr, ein fantastisches und schockierendes Werk. Auch in meinem Film werden zwei Arten des Tötens gegeneinander gehalten: Der Akt des Mordens ist sinnlos und grauenerregend, die Todesstrafe, die dafür verhängt wird, aber ebenso – und vielleicht ist sie noch unerträglicher. 
Weil sie kaltblütig und gleichgültig geplant wird.
Loznitsa
Das ist die komplette Entmenschlichung. Menschen werden in Käfigen gehalten und anschließend geschlachtet.
Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.