Springsteen-Tour 2023

Wie es ist, den Musiker Bruce Springsteen 56 Mal auf und hinter der Bühne zu sehen

Ein wahrer Fan erzählt: Der burgenländische Filmemacher Lukas Maurer, der seit einigen Jahren zwischen Wien und New York pendelt, über den US-Superstar.

Drucken

Schriftgröße

Rückblende, Frühling 2020. New York, jene Stadt, die so faszinierend wie zermürbend sein kann, hat gerade zugesperrt. Mit einem Schlag: die Straßen menschenleer, gespenstische Stille, vom minütlichen Sirenengeheul der Rettungswagen zerrissen. Die Covid-Fallzahlen waren hoch, die Maßnahmen kaum zu überblicken. Welchen Kommentatoren glauben? Welchen Ratgebern folgen? Schön langsam kristallisierten sich bestimmte Namen heraus: jener etwa von Dr. Anthony Fauci, bald auch jener des New Yorker Gouverneurs Andrew Cuomo.

Vor allem aber, zumindest für mich und wohl auch ein paar Tausend andere, war Bruce Springsteen, dieser verlässliche Leuchtturm in schlechten Zeiten, wieder einmal die Rettung. Gleich im ersten Lockdown hatte sich Bruce auf dem landesweit ausgestrahlten Satellitensender SiriusXM eine Radioshow eingerichtet, die ihm Gelegenheit gab, die für ihn und seine Kunst so elementare Konversation mit seinem Publikum auf verspielte Weise fortzusetzen: „From My Home to Yours“. Mit bestechender Eloquenz und verschmitztem Humor teilte er seine Erfahrungen und Beobachtungen des neuen, unerprobten Alltags mit, stellte treffende Analysen des immer hitziger werdenden Gesellschaftsklimas in Amerika an, sparte nicht mit erhellenden Anekdoten seiner nicht gerade hindernisarmen Reise in den Rock-Olymp. Springsteen, dieser allwissende und unermüdliche Rock’n’Roll-Enzyklopädist, versorgte seine Hörerschaft mit Fundstücken aus den entlegenen Schatzkammern der Rockgeschichte, spielte seine Lieblingssongs von Slim Harpo, Mavis Staples, The War on Drugs und The Cure. Es tat gut, in jenen Tagen Bruce im Ohr zu haben, den Klang seiner vertrauenerweckenden Stimme: ein Appell ans Durchhalten und an die Hartnäckigkeit. Es war in dieser Radioshow, dass er seine Fangemeinde mit feurigem Nachdruck wissen ließ: „When this experience is over, I am going to throw the wildest party you have ever seen, and you, my friends, are all invited!“ Wenn die verdammte Pandemie endlich ihre Patschen streckt, dann werden wir alle feiern!

 

Eine Ankündigung, ein Versprechen, gerichtet an sich selbst wie auch an sein Publikum, das Springsteen auf seiner laufenden Welttournee Abend für Abend aufs Neue einzulösen versteht. Als am 1. April dieses Jahres die Lichter im Madison Square Garden ausgingen, zuerst die E Street Band und schließlich Bruce selbst auf die Bühne kam, war der Jubel ohrenbetäubend, nicht enden wollend. Bruce war wieder da! Erleichterung! A sort of home coming. Die Eröffnungsnummer machte unmissverständlich klar, was an diesem Abend am Programm stand: „No Surrender“, niemals aufgeben, die leidenschaftstriefende Hymne an die Freundschaft und den Zusammenhalt. Als Live-Performer ist Bruce Springsteen noch immer die Referenzgröße, wenn es um Erfahrung und Wirkung des Rock’n’Roll als physischen Akt geht. Kaum ein Konzert, das nicht an der Drei-Stunden-Marke kratzt, oft genug darüber hinausreicht. Springsteen ist ein Verausgabungskünstler, dessen Shows am Ende nicht in die Erschöpfung münden, sondern, ganz im Gegenteil, in ungebremste Adrenalinausschüttung, in unerreichtes Nicht-aufhören-Können („We can’t stop now, we just can’t!“). Als Zuschauer ist man in einen wahren Glückstaumel versetzt. Die Wirkungskraft, die von Springsteen ausgeht, ist schlichtweg hypnotisch. Manchmal genügt ihm ein Lächeln im Mundwinkel, um alle auf ihn gerichteten Augen zum Strahlen zu bringen. Der große Gert Voss hat es einmal so formuliert: „Was dieser Mann alles kann. Ich habe noch nie so viele glückliche Menschen gesehen.“

Springsteen-Konzerte sind nie bloßes Rock-Entertainment, dafür ist zu viel Ernsthaftigkeit mit im Spiel, dafür sind die Protagonisten und Protagonistinnen seiner Songs, die einfachen Leute aus den Vorstädten und small towns, zu sehr vom knarzenden Räderwerk der economy zermahlen, von inneren Dämonen gejagt, von unüberwindbaren Verlusten geplagt. Es gibt kaum einen anderen Rockkünstler, bei dem Politik und Ausgelassenheit eine dermaßen selbstverständliche Einheit bilden. Wenn Bruce Springsteen die Bühne betritt, dann ist sehr deutlich zu spüren: Dieser Mann will etwas, das mehr ist als eine herkömmliche Rock-Show. Man sieht es in seinem Gesicht, in seinen Augen, in der Körperspannung; sein Mitteilungsdrang leuchtet bis in die letzten Publikumsreihen. Springsteen-Konzerte feiern das Leben, mit all den Schatten und Wirrnissen, das es bereithält. Es sind große Erzählungen, Kunstwerke, die Bruce mithilfe seiner Telecaster in die Stadien und Arenen trägt. Als wir uns am 1. April nach dem Konzert zu den Ausgängen bewegten, bemerkte der Mann vor mir: „Mit dieser Show ist die Pandemie nun endgültig Geschichte in New York.“ Kurze Nachdenkpause: „Und in New Jersey!“

Natürlich, New Jersey. Dieser Nachsatz muss sein. Kaum ein Künstler, der so sehr mit einem bestimmten Ort in Verbindung gebracht wird wie Springsteen mit dem blue-collar-geprägten Bundesstaat südlich von New York. Dort ist er aufgewachsen, in Freehold, einer versteckten Kleinstadt im ländlichen Teil des garden state, geboren in einen behüteten, aber alles andere als friktionsfreien Arbeiterhaushalt. Der Vater, der zu seinem nachdenklichen, langhaarigen Sohn keinen Zugang fand, jagte Bruce immer wieder aus dem Haus, die Mutter dagegen besorgte ihm die erste Gitarre. Das Instrument sollte sein Werkzeug werden, um seine Frustration und Wut, seine Sehnsüchte und Leidenschaften in die Welt hinauszutragen. Bloß weg aus der erstickenden Enge des Kleinstadtlebens, hinaus auf die offene, weit weg führende Straße. Songs wie „Thunder Road“, „Born to Run“ und „Racing in the Street“ sind dafür die schönsten Zeugen. Rock’n’Roll als einzig möglicher Fluchtplan. Zudem hatte es Springsteen, schon früh mit feinem Sensorium und genauer Beobachtungsgabe ausgestattet, verstanden, sein Songwriting mit wirkungsreicher Unmittelbarkeit aufzuladen. Nicht nur die Figuren seiner Geschichten bekamen konkrete Namen, auch die Orte, an denen diese sich bewegten: New Jersey Turnpike, Kingsley Avenue, das Automobilwerk in Mahwah. Genau dieser Wirklichkeitsbezug ist es, der seine Songs so lebendig wie nahe erscheinen lässt, und zwar weit über die Grenzen New Jerseys hinaus. Selbst für einen burgenländischen Teenager Ende der 1980er-Jahre wirkten diese Orte, Tausende Kilometer entfernt, bald so vertraut wie greifbar, begünstigt freilich durch die Emotion, die Springsteen mit seiner Musik beispiellos zu transportieren weiß: Wehmut, Hoffnung, Euphorie. Gefühle und Zustände, die in der Mitte des Burgenlandes nicht anders zu sein schienen als in Freehold, New Jersey.

Über all das sind die Orte, die mit Springsteen assoziiert werden, zum Mythos geworden, allen voran Asbury Park, jene an der Südküste New Jerseys gelegene Beach Town, die ihm bald zur künstlerischen Heimat wurde. Dort traf er lebenslange Weggefährten und spätere Mitglieder seiner E Street Band wie Little Steven Van Zandt und den 2011 verstorbenen Clarence „Big Man“ Clemons. Dort studierte Bruce nächtelang die lokalen Soul- und R’n’B-Performer und spielte sich von Club zu Club, von Bar zu Bar – immerzu getrieben von der Angst, womöglich überhört zu werden, und der Entschlossenheit, es seinen Vorbildern Elvis Presley, Bob Dylan und James Brown gleichzutun. Für Springsteens showmanship waren die Bühnen in Asbury und Umgebung die beste Schule.

Es ist eine schöne Begleiterscheinung des Lebens in New York, dass die erwähnten Orte sprichwörtlich vor der eigenen Haustür liegen, dass Musikklubs wie „The Stone Pony“ und „Wonder Bar“ in Asbury Park, in denen Bruce bis heute gelegentlich vorbeischaut, leicht erreichbar und Teil des eigenen Lebens werden können. Es tut auch gut zu wissen, dass man sich kurz entschlossen ins Auto setzen kann, um sich in „Tony’s Grill“, jenem Diner in Freehold, der im Musikvideo zu „Long Walk Home“ atmosphärisch in Szene gesetzt ist, eine Portion whole wheat pancakes und ein Glas Milch zu gönnen. Auf dem Weg zu „Tony’s“ kreuzt man die Institute Street, in der Springsteens Haus der Kindheit steht. Die eigene Inspiration verlangt von Zeit zu Zeit danach. Vor Jahren wurde Bob Dylan, als Obdachloser getarnt, von der Polizei aufgegriffen, weil er auf Inspirationsspaziergang vor jenem berühmt gewordenen shack in Long Branch herumgelungert hatte, in dem Springsteen Mitte der 1970er-Jahre das seine eigene Karriere definierende Album „Born to Run“ geschrieben hatte. Es ist ein beruhigendes Gefühl, dass man mit solchen Ausflügen nicht ganz allein ist.

Bruce Springsteen, der Außenseiter. Als solcher hat er sich schon seit Kindheitstagen gesehen. Davon erzählt er oft. So wenig er den Normen der Gesellschaft entsprechen wollte – vielleicht besser: nicht konnte –, so fasziniert war er immer von seinem Ursprung, wollte teilhaben an dem, was das blue-collar-Milieu beschäftigt und auszeichnet. Das Konzept der Gemeinschaft, dem er sich erstmals auf seinem 1980 erschienenen Album „The River“ widmete – es mag ein Schlüssel sein für die besondere, sich über die Jahre verfestigte Bande zu seinem Publikum: der Außenseiter, der sich nach Zusammenhalt, nach einer community sehnt. Die unverrückbare Treue seiner Fans hat ihm diesen Wunsch erfüllt. Es ist eben nicht nur so, dass wir so sein wollen wie Bruce. Bruce, das zeigt sich immer wieder, will auch sein wie wir. (Scheinbare) Nahbarkeit ist seine Magie. Über die Jahre bin ich Bruce Springsteen wiederholt in meinem beruflichen Umfeld begegnet. Es waren kurze Treffen, die allesamt das bestätigten, was man sich für derartige Begegnungen sehnlichst wünscht: Bruce war so, wie man insgeheim erhofft hatte, dass er sei. Er war bescheiden, geduldig, gewitzt, hat zugehört, beim Thema Musik haben seine Augen zu leuchten begonnen. Für kurze Zeit hatte ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ein schönes Geschenk.

Wenn Bruce Springsteen am Abend des 18. Juli im Wiener Ernst-Happel-Stadion auf der Bühne stehen wird, dann wird er seinem Publikum eine Geschichte erzählen: die Geschichte der letzten Begegnung mit seinem Freund George Theiss, der kurz darauf an Krebs starb. Bruce ist jetzt das letzte noch lebende Mitglied seiner allerersten Band The Castiles, der er als 15-Jähriger in Freehold beigetreten war. Theiss’ Tod hatte auch das 2020 erschienene Album „Letter to You“ zur Folge, auf dem er unter dem Eindruck von Sterblichkeit und Vergänglichkeit aus der Perspektive eines alternden Rockmusikers (Springsteen ist mittlerweile 73) darüber reflektiert, was es bedeutet, in einer Band zu sein. Die Konzerte seiner aktuellen Tour sind ein Spiegel dieser Auseinandersetzung. Um neue Stücke wie „Ghosts“, „Last Man Standing“ und „I’ll See You in My Dreams“ versammelt Bruce zentrale Songs aus seinem umfassenden Werkkatalog, lässt seine Show aber nicht zum nostalgischen Best-of geraten, sondern formt daraus eine neue Erzählung, die einmal mehr das Band der Freundschaft, die Bedeutung von Gemeinschaft und Dankbarkeit zelebriert, nach 50 Jahren noch immer mit seinen alten Weggefährten auf der Bühne zu stehen. Am Ende des Abends wird Bruce sein Publikum fragen: „Do you want to go home?“ So lange Bruce uns so offen und unmittelbar an seinen Obsessionen, an seiner Tiefsinnigkeit und Verausgabung teilhaben lässt, kann die Antwort nur lauten: Nein!

 

LUKAS MAURER wurde 1973 im burgenländischen Oberpullendorf geboren, wo er bereits in jungen Jahren Bruce Springsteens Musik kennen- und (bis heute) lieben lernte. Maurer arbeitet als Filmemacher und pendelt seit einigen Jahren zwischen Wien und New York. Seinem Idol ist er schon öfter sehr nah gekommen, zuletzt 2021 in New Jersey, wo auch das unten stehende Foto entstand.